X.

10. Der Anfang vom Ende

 

 

Ich sackte zusammen, die Luft blieb mir weg. Irgendwann gelang es mir, ein

<< Was soll das denn heißen? >> zu stammeln.

Obwohl es eigentlich hätte klar sein müssen, verstand ich immer noch nichts. Da half auch kein1 Dagegenreden. Mein Vater hatte bereits alles organisiert: Laut Plan sollte ich in eine psychiatrische Klinik2 in Norddeutschland verlegt werden.

 

Obwohl wir ein derzeit so schwieriges Verhältnis zueinander pflegten, war mein Vater kurzerhand zum gesetzlichen Vormund wieder ernannt worden.3 Zu meinem großen Unglück hatte sich nun gleich eine ganze Armee von Mittätern eingefunden. Eine, die sich, falls es mir einfiele, es aufgrund der hier stattfindenden Rechtsverstöße zu einer gesetzlichen Auseinandersetzung ankommen zu lassen, auf seinen fachmännischen Beitrag würde verlassen können.

 

An den restlichen Aufenthalt in dieser Klinik habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Ich weiß nicht einmal, wie lange genau ich dort gewesen bin! Filmriss. Hatte das unterernährte junge Mädchen, welches ich war, ihnen soviel Respekt eingeflößt? So sehr, dass ich nicht mehr in der Lage sein sollte, einen Finger zu rühren? Festzuschnallen, das brauchte mich nun keiner mehr.4

 

Man stütze mich, als ich wieder in den Krankenwagen einsteigen sollte. So würde ich also zurück in die Heimat finden: auf verwirrenden, vollkommen überflüssigen und unnötigen Umwegen. Welch Ironie - genau das war auch mein Plan gewesen: wieder nach Hause zurückzukehren, ein Gespräch unter vier Augen mit meinem Liebsten führen, in Ruhe einen Neuanfang planen. Und dann? Dann hatte man mich mit Gift voll gepumpt, bis mir die Sinne schwanden, um hinterher mit Fug und Recht behaupten zu dürfen, ich sei besinnungslos und hilfebedürftig.

 

Die zwei Stunden auf der Autobahn Richtung Norddeutschland verschlief ich. Ich kann mich an kaum noch etwas erinnern, nur noch an: Schlafen, aufwachen, wieder einschlafen, aufwachen, wieder einschlafen. Die Wachphasen währten immer nur für ein paar Sekunden. Draußen war helllichter Tag. Nach wie vor besinnungslos und hilfebedürftig kam ich an dem für mich vorgesehenen Zielort an.

 

Damals wusste ich noch nicht allzu viel über die Psychiatrie. Dafür erfuhr ich es jetzt aus erster Hand: Es handelt sich dabei nicht nur um ein Aufenthaltsort für Bekloppte, sondern auch für all jene, die bloß dafür gehalten werden. Der Unterschied scheint niemandem5 ganz klar zu sein, was aber auch gar nicht wichtig ist. Denn den Pharmafirmen, die hier einen großen Absatzmarkt für ihre Medikamente geschaffen haben, ist das volkommen gleichgültig - die freuen sich über jeden Abnehmer der Abfallprodukte ihrer Giftküchen. Hier geht es nicht um gesund oder krank, sondern um Profit. Und am gesunden Patienten lässt sich nun mal nichts verdienen.

 

Psychiatrien gelten im Allgemeinen als eine Art von Krankenhaus. Ob man als psychisch Kranker in einem solchen aufgenommen wird oder nicht, hängt vor allem davon ab, ob sich jemand findet, der glaubhaft über äußerliche Anzeichen und Symptome einer "psychischen Erkrankung" zu berichten weiß. Wer anders aussieht (& sich anders verhält)6, provoziert eine Zwangsunterbringung. Andersdasein wird per se als "krank" angesehen.

 

Ganz entscheidend ins Gewicht fällt hier der Status, den die Ärzte unserer Gesellschaft genießen. Dieser berechtigt, Realität für andere neu zu erfinden. Wer als zum psychisch Kranken degradierter dagegen aufbegehren möchte, hat in einem solchen Fall eine Übermacht gegen sich. Eine, die sich bei Verstößen gegen geltendes Recht unterstützend bei einander unterhaken und zusammenhalten wird wie Pech und Schwefel.7 Ich war überfallen, entführt, misshandelt und meiner Freiheit beraubt worden. Wollte ich das zur Anzeige bringen, hätte ich nur wenig in der Hand, denn ich war meine einzige Zeugin.

 

Es gab das obligatorische Zimmer mit Bett und anderen Mitpatienten darin. Den ganzen Tag über durfte sich mit Medikamenten zugedröhnt werden. Was in solch einem Fall definitiv nicht erlaubt ist: keine Medikamente einzunehmen. Als größter Fehler von allen aber wird angesehen, sich für gesund zu halten. Um dem entgegenzuwirken, wurden die besonders Uneinsichtigen für ganz besonders krank deklariert. Eine moderne Form des Vodoo- Priestertums: Zombieniering.

 

Die "Wissenschaft", welche im Bereich der Psychiatrie betrieben wird, lässt sich auf eine simple Faustregel reduzieren: Im amerikanischen Knast bekommt man eine Giftspritze, die das Leben desjenigen, der sie erhält, auslöschen soll. Hier wird kostensparend ausgetestet, welche Dosis genau eine dafür ausreichende ist. In psychiatrischen Krankenhäusern nähert man sich dieser Grenze von der anderen Seite: Welche Höchstdosis an Nervengift kann einem durchschnittlichen Menschen regelmäßig verabreicht werden, ohne dass dieser davon direkt hops geht. In nicht wenig Fällen wird diese wesentlich überschritten8, aber - wo gehobelt wird, da fallen Späne. Geld regiert die Welt, und Geld - hat kein Gewissen.

 

Als Patient gehörte es nicht nur zu meinen Pflichten, mich hochwirksamen Dosen von Nervengift auszusetzen. In der sogenannten "Gruppentherapie" saß man miteinander im Kreis herum.9 Hier sollten private Angelegenheiten möglichst gekonnt vor anderen ausgebreitet werden. Was für ein Nutzen sollte das haben?! In meiner Welt hatte jeder, der private, vielleicht sogar sensible Details über einen anderen Menschen erfuhr, diese bislang lediglich dazu genutzt, Betroffene unter zur Hilfe nahme dieser Informationen besonders empfindlich zu treffen. Das war so etwas wie ein Naturgesetz: Jeder Makel, zu dem ein Mensch den Mut fand, offen zu stehen, schien Grund, diesen ultimativ sofort zum aufgrunddessen stigmatisierten Opfer zu machen.

 

Ging es darum? Aus welchem Grunde wurde man hier systematisch ermutigt, sich selbst zu schaden? Wollte man im Leben mit all seinen Widrigkeiten klarkommen, hatte ich gelernt, sollte man möglichst keine relevanten Informationen über sich preisgeben. Über das, was hier ein jeder von sich erzählte, wurde sich eifrig Notizen gemacht, so dass mir sehr schnell klar war: Dieses Wissen wollte10 man später gegen mich verwenden.11 Das Schema war bekannt.

 

Auch in der Einzeltherapie sollte das Zepter, sein Leben aus eigenem Antrieb meistern zu können, ganz offiziell aus der Hand gegeben werden. Mach doch einfach, was andere dir sagen! Wer nicht emotional ergriffen von persönlich-existenziellen Problemen zu berichten wusste, wurde aufgrund dieser Unangepasstheit als therapieresitent eingestuft, welches (wie ich noch herausfinden sollte) das größte Verbrechen von allen darstellte. Hier sollte ich also lernen, "psychisch krank" zu sein (oder zumindest, mich so zu verhalten).

 

Gerät man in solch eine Falle, ist es das Beste, direkt zum Superzombie zu werden und widerspruchslos die "Medizin" einzunehmen. Damit wird man zu einem anerkannten, weil braven Patienten. Achtung: Solange man jedoch noch halbwegs wach und orientiert wirkt, werden die Medikamente aufgrunddessen ganz besonders hoch dosiert. Ist man am Boden zerstört und steht völlig neben sich, erhält man dadurch eine reele Chance, mit (noch halbwegs) heiler Haut davon zu kommen. Das Prinzip leuchtet ein: hat man sie noch alle ganz gut beisammen, kann einem auch nicht "geholfen" werden, weil man sich selbst zu helfen in der Lage wäre. Um glaubhaft der Hilfe zu bedürfen, halten die Ärzte nach: zuerst musste für ein überzeugendes Rien-ne-vas-plus gesorgt werden.

 

Das alles musste ich allerdings noch lernen. Es war mein erstes Mal. Im dem Leben, welches ich bislang geführt hatte, zählte es etwas, wach, orientiert und mitunter auch wehrhaft zu sein. Wenn es eines gibt, was ich über die Psychiatrie gelernt habe, dann das: ein geistig vollkommen gesunder Mensch wird nach einer Woche Aufenthalt in der Geschlossenen (spätestens nach zwei) verrückt. Die Zustände, die dort herrschen, sind nicht auszuhalten!

 

Ich bekam ein gemeinsames Zimmer mit einer weiteren Patientin zugewiesen, welche so hochdosiert worden war, dass sie es nicht mehr schaffte, normal auf die Toilette zu gehen. Sie schwankte schwer beim Gehen und trug (meist durchnässte) Windeln. Laut schnarchend verschlief sie den ganzen Tag (so wie ich). Die Seite, die ich von ihr kennenlernen durfte, war die einer ganz lieben Frau, welche keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Trotzdem verunsicherte mich ihr Verhalten. Warum war sie bloß so fürsorglich? Blumen tauchten plötzlich auf den Tisch neben meinem Bett auf. Immer, wenn ich aus meinem anhaltenden Delirium kurz zu mir kam, stand eine neue Tasse frischen Tees da. So sehr gruselte es mich, dass ich es als beruhigend empfand, ihn bei meinem Erwachen kalt und abgestanden vorzufinden.

 

Dem Pflegepersonal gegenüber verhielt sie sich erschreckend aggressiv, woran auch die hoch dosierten Medikamente nichts änderten. Erschien sie irgendwo auf der Bildfläche, bekamen immer gleich alle Panik. Ein bisschen erinnerte mich das an die vielen wilden Tiere, die um sich bissen, traten oder kratzten, aber lammfromm und brav wurden, sobald ich in die Nähe kam. Scheinbar konnte auch Ruth nett und umgänglich sein, machte dabei aber von Mensch zu Mensch ziemlich große Unterschiede. Lag es daran, wie sich das Pflegepersonal den Patienten gegenüber verhielt?

 

Einmal musste ich miterleben, wie ein (sehr großer und kräftiger) junger Patient auf die (immer verschlossene) Ausgangstür los ging. Um das Sicherheitsglas einzuschlagen, verwendete er alles, was ihm gerade in die Finger geriet, was am Ende eine ziemliche Sauerei ergab. Der diensthabenden Pflegekraft12 half ich mit Besen und Schippe bewaffnet, diese zu beseitigen. Von der der ganzen Aufregung war mein Mund völlig ausgetrocknet. Also bat ich anschließend höflich um Trinkwasser. Statt mir unkompliziert eine von den (einen Meter von ihrem Standpunkt entfernt stehenden) Flaschen zu reichen, knallte sie mir mit den Worten, sie habe jetzt "keine Zeit" die Glastüre des Schwesternzimmers vor der Nase zu. Ich stand da wie ein begossener Pudel. Zwei Stunden sah sie mir durch die Glastüre beim Warten zu, bevor sie sich (natürlich demonstrativ genervt) dazu bequemte, mir ein Wasser zu geben.13

 

War meine Zimmernachbarin deswegen so krass unterwegs? Nachvollziehbar. Schließlich war sie bereits länger Patientin als ich und mit den internen Abläufen vertraut. Sicher hätte sie sofort eine Flasche Wasser ausgehändigt bekommen, ohne dafür putzen zu helfen oder stundenlang betteln zu müssen! Auch die anderen Patienten schienen sich vor ihr zu fürchten. Mich wiederum achtete und hütete sie wie einen Schatz. Als ich wieder aufzustehen in der Lage war, folgte sie mir14 überall hin. Auch nachdem ich in ein anderes Zimmer verlegt wurde, verhielt sie sich weiterhin auf diese Art und Weise.

 

Was keiner ahnte: Sie war eine Telepatin.15 Daher ereilte mich die Bedrängnis, welche von ihr ausging, auf mehr als nur einer Ebene. Aus dem dringenden Bedürfnis nach Ruhe heraus fragte ich sie irgendwann genervt, was sie eigentlich von mir wollte. Vorwurfsvoll antwortete sie:

<< Bitte, das weißt du doch ganz genau! >>.

Aber sicher wusste ich das. Trotzdem brauchte ich Ruhe! Deshalb antwortete ich spontan mit:

<< JA! >> und schob dann ein erklärendes:

<< Aber jetzt lass mich doch bitte jetzt mal einen Moment lang in Ruhe! >> hinterher.

Worauf sie beinahe erschrocken aussah, aber - scheinbar verstand. Sie verstand, dass ich verstanden hatte. Zufrieden ging sie von nun an wieder ihre eigenen Wege, was mich sehr erleichterte. Augenblicklich hatte ich tatsächlich genug mit meiner eigenen Situation zu tun.

 

Was sie von mir wollte, war mir klar. Jedoch konnte ich an diesem Ort nicht über solche Dinge sprechen, ohne uns damit beide in Gefahr zu bringen. Begriff sie das nicht? Genau das war ihr Ziel: Ich sollte ihr das, was ich wusste und sie auch wusste (was wir beide wussten) bestätigen. Ihr den lange ersehnten Beweis dafür erbringen, dass sie nicht die Irre war, welche man ihr einredete, zu sein. Da ich ihr damit, ihr ihre Sicht der Dinge zu bestätigen, nicht aus der Situation hätte heraus helfen können, schwieg ich.

 

Ein paar Wochen später nahm ich zufällig an einem Gespräch teil, in welchem sie in einer kleinen Gruppe von Leuten ihren Gedanken und Erfahrungen mit Worten Gestalt verlieh. Man habe sie aufgrund der Behauptung, es gäbe telepathische Phänomene, inhaftiert. Ich erschrak, wie offen sie das thematisierte. Verstohlen sah ich mich um. Wenn sie jetzt nur nicht versuchen würde, mich anzusprechen... Und da passierte es auch schon. Vorwurfsvoll und etwas verschmitzt-provozierend sah sie mir ins Gesicht:

<< Jetzt sag Du doch auch mal was dazu! >>

Ich wusste nur noch einen Ausweg. Grinsend dozierte ich los:

<< Jetzt hör mir mal genau zu: Es gibt keine Telepathie. >>

Vor Schreck atmete sie laut pfeifend ein. Demonstrativ zwinkerte ich ihr zu.

 

Kurz darauf war sie plötzlich spurlos verschwunden. Es darf in diesem Zusammenhang kaum davon ausgegangen werden, dass sie ganz regulär entlassen worden ist. Da sie ohne konkrete Vorankündigung einfach abgehauen war, galt sie als "flüchtig". Man sah sie nie wieder. Als ich das hörte, jubilierte ich. Immerhin: Sie hatte etwas gelernt: Man darf über gewisse Dinge nicht mit jedem Gegenüber offen sprechen.

 

Immer noch konnte ich kaum laufen. Meine Beine gaben unter mir nach. Es fühlte sich so an wie, als wären sie aus Gummi. Haltlos pendelte der Kopf vor und zurück. Eigentlich hätte ich eine dicke Halskrause benötigt, so aber musste ich mit den Händen nachhelfen, ihn aufrecht zu halten. Um nicht zu stürzen, hielt ich mich überall fest: an Türrahmen, Wände, Zäune. Der Herr Vater kam mich besuchen, brachte ganz liebevoll ein Buch mit. Die Buchstaben vollführten einen wilden Tanz vor meinen Augen. Einer, der zwar auch irgendwie lustig mit anzusehen war aber das Lesen unmöglich machte. Nach ein paar Minuten konzentrierten Fixierens von ein paar Zeilen sank mein Kopf auf das Buch nieder und ich schlief ein.

 

Innerhalb kürzester Zeit degenerierten all meine Muskeln. Obwohl mir das aufgrund der verabreichten Medikamente sehr schwer fiel, fing ich damit an, Liegestütze und Kniebeugen zu machen, sobald ich mich unbeobachtet fühlte. Ich ging fest davon aus, dass es Missfallen erregen würde, falls jemand bemerkte, dass ich nicht ganz Zombie werden wollte. Die ernsthafte Befürchtung, dass man mir zur Strafe noch mehr Medikamente verabreichen würde, ließ mich achtsam genug sein, dieser Tätigkeit nur klammheimlich nachzugehen.16

 

Da ich (über den Beamtenstatus meiner Mutter) immernoch ganz elitär privat versichert war, kam nun jeden Tag der Chefarzt und Leiter der Klinik auf unsere Station.17 Dringlichst bat ich ihn darum, doch bitte die Medikamente abzusetzen. Behauptete, vollkommen normal gewesen zu sein, bevor man damit begonnen hatte, mir diese zu verabreichen. Selbstverständlich hatte die Interna der mich an ihn überweisenden Klinik ihren Bericht über meine dortige Inhaftierung aufgehübscht. Angeblich sei ich verwirrt und nicht ansprechbar gewesen, als man mich an der Tankstelle "aufgegriffen" habe. Außerdem habe ich mich "im klinischen Bereich unkontrolliert aggressiv" aufgeführt. Offensichtlich schienen die Medikamente zu helfen, führte er weiter aus. Ich sei nun orientiert und ansprechbar und bislang sei es doch auch zu keinem weiteren solchen "Zwischenfall" mehr gekommen. Wie positiv! Ich zeigte Besserung, das müsse selbst ich einsehen. Über die Medikation zu diskutieren? Vollkommen ausgeschlossen.

 

Ob ihm klar war, wie sich das aus meiner Sicht anhörte?

<< Wir wollen doch erst einmal warten, bis es uns besser geht. >> schloss er seine lächerlichen Ausführungen.

OMG. Vor lauter Schubladen fehlten hier ganz offensichtlich die Gehirne. Wenn ich mich au die Suche nach seinem machen wollte, würde ich damit vermutlich sehr lange beschäftigt sein. Ob ich bei diesem aussichtslosen Versuch in der Zwischenzeit nicht bereits verzweifeln würde? Wieder mal fehlten mir plötzlich die Worte. Ihn mit vernünftigen und ehrlichen Argumenten zu überzeugen, würde mir nie gelingen, dafür waren die in ihrem Programmablauf hier viel zu festgefahren. Also bat ich ihn bloß um das Naheliegenste: Darum, wenigstens die Dosis zu reduzieren. Er blieb unerbittlich. Beinahe wäre ich flehentlich auf die Knie gesunken. Es gehe mir außerordentlich schlecht, er könne sich mein Leid kaum ausmalen, klagte ich. Daraufhin stellte er auf einmal Bedingungen: Ich solle ihm innerhalb von einer Woche einen Lebenslauf in schriftlicher Form zukommen lassen.

 

Es war mir kaum möglich, den Stift in meinen muskelverkrampften Händen zu halten. Nach jedem Satz brauchte es mehrere Stunden Pause. Aber ich schaffte es: Von der Geburt über Schulbesuche und bisherige Arbeitsstellen schrieb ich alles auf. Mein Autounfall durfte nicht unerwähnt bleiben, schließlich war das hier kein Bewerbungsschreiben und sein Empfänger Arzt. Am Ende belief sich das Ganze auf fünf mit einem Kugelschreiber per Hand beschriebene Din A5 Seiten (die Schrift und Zeilenabstände fielen ziemlich groß aus). Wofür er diese Informationen wohl brauchte? Meine Person konnte doch so wichtig gar nicht sein?18

 

Ich flirtete, bezirzte, lächelte und bemühte mich. Wenn ich ihn davon zu überzeugen versuchte, psychisch gesund zu sein, biss ich damit auf Granit. Also unterließ ich das Thema, zu Unrecht eingesperrt worden zu sein. Diesen Versuch aufgegeben zu haben, schien ihn milde zu stimmen. Die Tropfenmenge, die ich mit Hilfe eines kleinen Plastikbechers jeden Tag oral einnehmen musste, wurde allmählich reduziert. Weigern war nicht drin, wer sich weigerte, bekam Spritzen. Wer sich gegen die zu wehren versuchte, erfuhr rohe körperliche Gewalt. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen.

 

Rein zufällig bekam ich eines Tages durch eine offen stehende (weil nur angelehnte) Tür ein Teamgespräch mit. Ich habe gelauscht, jawohl! Es wurde über die Patienten gesprochen. Ich kam genau im richtigen Augenblick vorbei, wie ich schnell heraus fand, ging es sogar gerade um mich. Ich spitzte die Ohren... Oberarzt Lang miemte den Wortführer. Seit meiner Ankunft hatte er scheinbar einen besonders großen Narren an mir gefressen. Just in diesem Augenblick behauptete er gerade, dass man mich auf jeden Fall in der geschlossenen Abteilung festhalten müsse, da ich so aggressiv sei. Hierbei musste er sich gegen die Ansichten aller anwesenden Krankenpfleger und Krankenschwestern19 durchsetzen. Sie schienen geschlossen einer anderen Meinung zu sein als er.

 

Wie oft hatte er mich in der langen Zeit (zwei Wochen) gesehen? Ein einziges Mal. Für nicht einmal 10 Minuten. Die Vorstellung, dass jemand zu körperlichen Auseinandersetzungen neigen könnte, schien ihm zu gefallen.

<< Sie ist ja so angepasst >> behauptete eine leise Stimme.

<< Und so friedlich >> fiel eine andere mit ein.

<< Solange sie hier ist, ist sie an keinem einzigen Tag auffällig gewesen. >>

Alle mochten mich. Ich war so hilfsbereit, dass ich der Putzfrau beim putzen half. Das machte mich sympathisch. Aber er bestand darauf: Seiner Auffassung nach war ich einer dringend notwendigen und ganz besonders strengen Erziehung für würdig befunden worden.

 

Ja, dachte ich mir im Stillen, Du mich auch. Klar, ich war immer noch ich! ... Ordnete mich nicht unter, vor allem dann nicht, wenn mir jemand, so wie er, keine Chance dazu gab. Wir hatten leider keine Kommunikationsebene gefunden. Er war mir direkt großspurig und überheblich über den Mund gefahren, hatte nichts anderes im Kopf gehabt, als seine Überlegenheit demonstrieren... Für mich stellte er einen (in diesem Fall weiß lackierten) Affen dar. Mit ihm konnte man sich einfach nicht normal unterhalten! Deshalb betrachtete er mich als seinen Lieblingsfeind. Als Verkörperung des Aufmüpfigen stellte ich für ihn so etwas wie ein goldenes Kalb dar. Einem solchen schwört man nicht ganz so ohne weiteres ab.

 

Also antwortete er:

<< Sie kann sich bloß gut verstellen, das kommt bestimmt noch, bleibt abzuwarten. Im Verlegungsbericht steht ausdrücklich, dass sie sich als sehr aggressiv herausgestellt hat. Sie ist gefährlich! >>

Er fluchte:

<< Das steht doch alles hier drin! >>

Bei den Worten erklang ein Rascheln, als würde er mit genau jenem Bericht wütend in der Luft herumwedeln, um ihn seiner uneinsichtigen Zuhörerschaft um die Ohren zu hauen, falls diese es weiterhin wagte, ihm zu widersprechen. Wer ist hier der Arzt!, wurde ganz eindeutig klar gestellt. Also waren es nicht nur Patienten, die von ihm erniedrigt wurden.

 

Dass ich mich ihm gegenüber nicht unterwürfig genug gezeigt hatte und statt dessen einfach gar nicht mehr mit ihm sprach, war für ihn Grund genug, mich abgrundtief zu hassen. Unsere Antipathie bestand beiderseits. Was dieser Mann getan hatte, würde ich nicht vergessen. Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft hatte er mir, als ich ihm einen Bericht darüber abliefern wollte, was genau mir eigentlich passiert war, deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht daran interessiert war, sich "irgendwelche Geschichten" (so drückte er es aus) anzuhören. Da sich das grober Fehler herausstellen würde, wies ich ihn in dem Augenblick darauf hin, wie außerordentlich wichtig es sei, mich anzuhören. Daraufhin hatte er mich für einen Moment lang konsterniert angesehen. So viel Widerspenstigkeit auf einen Haufen! Ich schien ein besonders schwerer Fall zu sein, weshalb er sich dazu hinreißen lies, eine Sekunde von seinem Aktenwühltisch aufzublicken, um anschließend klar zu stellen:

<< So läuft das hier nicht. >>

Aha? Was genau sollte wie nicht laufen? Ich war ein einziges Fragezeichen. Mein Verstummen nutzte er für eine dramatische Ansprache:

<< Hören Sie mal, ich muss ihnen da was erklären. >> seufzte er und legte los.

 

Es folgte ein Monolag á la: Ich Arzt - Du Nichts. Er erklärte mir, welcher Art Gespräche man als Arzt mit Patienten führte, die da wären: Er ordnete an, der Patient fügte sich. Dann war alles gut. Andernfalls bekäme man Probleme, jeder hier wüsste das! Nur ich anscheinend nicht, weshalb er so nett sei, mir dies jetzt einmalig zu erklären. Diese Art "Unsinn" von Patienten sich anzuhören, gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Ob ich das auch kapierte, schallte es dann herrisch in meine Richtung. Ich stand unbewegt im Raum. Dann nickte ich einmal, um zu signalisieren: verstanden. Und wandte ich mich zum Gehen.

 

Wenn man Nichts war, dann brauchte man auch nicht zu sprechen. Ich hatte ihm zugehört und ihn auch verstanden: Nichts-sein, das kannte ich. Halb sprang er von seinem Schreibtischstuhl auf. Unter mir kreischend hinterher geschleuderten Drohungen 20 verließ ich den Raum. Dass ich beschlossen hatte, unter diesen Umständen kein einziges Wort mehr mit ihm zu wechseln, verstärkte seinen Glauben, es mit einem ganz besonders schwierigen Patienten zu tun zu haben. Mir war das gleich. Seiner Aufmerksamkeit unwürdig erklärt, empfand ich es als vollkommen gerechtfertigt, ihn genauso zu behandeln wie er mich. Ich habe mit diesem Menschen nie wieder ein Wort gewechselt.21

 

Eines hatte ich bei dieser Lauschaktion jedenfalls herausgefunden: Es ging um eine Verlegung? Was sollte denn das jetzt schon wieder werden? Wenn es um mich ging, warum besprach man das nicht mit mir? Es fühlte sich so an wie, wieder Kind zu sein - dem die Eltern nichts erzählen, um es stets, ob wohl oder wehe, vor vollendete Tatsachen zu stellen. Man wurde nicht gefragt, hatte aber unter Androhung von Strafen allen Anordnungen ohne Widerrede Folge zu leisten.

 

Bald war es geschafft: Musik leuchtete in den Augen des Chefsarztes, sobald er mich erblickte. Die Gespräche mit mir schien er tatsächlich zu genießen. Ich wiederum versuchte (so schlecht diese im Augenblick auch war) das Beste aus der Situation herauszuholen. Der Weg nach draußen war versperrt, soviel hatte ich schon herausgefunden. Die Medikamente setzten mir sehr zu. Mein vorrangiges Ziel war deshalb zunächst nur, Prof. Dr. Glitzer davon zu überzeugen, dass diese abgesetzt werden müssten. Nur - wie?

 

Dafür erzählte ich eine ganze Menge Quatsch: Angeblich ginge es mir jetzt schon viel besser (wofür ich mich bedankte). Das war genau der Mist, den er mir eine Woche zuvor vorgekaut hatte. Seine eigenen Worte aus meinem Mund zu hören zu bekommen, überzeugte ihn letztlich, dass in mir doch noch etwas Gutes stecken musste. War ich seinen Götterstatus anzuerkennen bereit, entwickelte er im Gegenzug die Bereitschaft, meinen Wünschen entgegen zu kommen. Die Dosis der Medikation sollte auf die Hälfte reduziert werden. Zäh verhandelten wir um jeden Tropfen. Natürlich könne man sie, falls ich einen "Rückfall" erleiden sollte, jederzeit wieder erhöhen, beruhigte ich ihn großmütig.22

 

Meine allererste "Therapie"-Sitzung werde ich nie vergessen! Aus heiterem Himmel sollte ich plötzlich bei Frau Dr. Vogel eine Gesprächstherapie bekommen. Meine diesbezügliche Äußerung, daran kein Interesse zu haben, interessierte niemanden. In der Psychiatrie herrscht ein hunderprozentiges Widerspruch-nicht-erwünscht Konzept. Frau Dr. Vogel wurde mir als "besonders kompetent" angepriesen, ich dazu aufgefordert, dankbar zu sein. Nicht jeder Patient würde so bevorzugt behandelt.23

 

Die anderen Patienten hatten mich bereits geimpft, was "Therapie" bei Frau Dr. Vogel hieß. Also fragte ich sie nach Betreten des Raumes als allererstes:

<< Naa, wie geht´s uns denn heute? >>.

Das hatte ich doch schön auswendig gelernt!, freute ich mich. Erbost startete sie daraufhin mit einer Tirade über mein "unkooperatives Verhalten" durch. Ich fand mich gar nicht unkooperativ? Na super. Und ich hatte gedacht, noch weiter unter den Nullpunkt könnte meine Laune gar nicht mehr sinken. Was für ein Gezeter. Hilfe! Wo war der Aus-Knopf!? Nun stellte ich eine weitere24 Frage: Hatte ich nicht das Recht, mich nach dem werten Befinden zu erkundigen?25 Nun fing sie an, mir ganz offen zu drohen. Man könne ja schließlich "auch anders". Ich hätte den Bogen überspannt und mir mit meinem Verhalten einen fetten Eintrag in meine Akte verdient.

 

B Ä M, Akteneintrag. Demonstrativ notierte sie sich etwas. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dem die Ohren lang gezogen werden. Das nannte man hier also "Therapie". Na, das konnte ja heiter werden. Also noch mal von vorn:

<< Was wollen Sie von mir? >>

Zickiges Schweigen.

<< Hören Sie, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was von mir erwartet wird. Der Herr Dr. hat mir gesagt, ich solle zu Ihnen kommen, an einer Gesprächstherapiesitzung teilnehmen. Ich wollte das gar nicht, das hab ich ihm auch gesagt! Aber er meinte, ich solle mich dem, was mir hier angeboten wird, nicht widersetzen. Dann ist er gegangen. Ohne ein Wort. Er hätte mir ja wenigstens erklären können, wozu das Ganze ist? Ich möchte Sie selbstverständlich mit dem was ich sage, nicht verärgern, also erklären Sie mir bitte, was ich tun soll. >>

Eine Weile überlegte sie.

<< Sie müssen sich schon kooperativ zeigen. >>

<< Aber ich bin doch hier! >>

Ich hob meine Hände zu einer Unschuldsgeste.

<< Ja, aber Sie müssen auch mit uns zusammenarbeiten. Sonst kann ich nichts für Sie tun. >>

Sie etwas für mich tun? Ich war doch hier dazu aufgefordert, anderer Leute Wünsche zu erfüllen. Ich lachte kurz auf. Nun wollte sie auch noch den Spieß umdrehen! Ha! Menschen. Die waren unlogisch. Und was meinte sie mit "Zusammenarbeit"? Diese Beschreibung empfand ich als überaus schwammig formuliert.

<< Ja, okay. Klar bin ich dazu bereit, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Wenn es denn unbedingt sein muss? Aber wäre es denn zu viel verlangt, wenn Sie mir erst einmal erklären würden, woraus diese Zusammenarbeit besteht? >>

Was ihr wieder gegen den Strich zu gehen schien: sie fing an, mich böse anzustarren. Ich musste mich mal wieder um Kopf und Kragen reden...

<< Wenn ich nicht weiß, was von mir erwartet wird, kann ich mich nicht dementsprechend verhalten. Geben Sie mir eine Chance! >>

Wütend sah sie in ihre Papiere, schwieg demonstrativ.

<< Hören Sie. Ich bin sehr wohl dazu bereit, im Rahmen einer Zusammenarbeit zu kooperieren, wenn Sie mir nur einen Anhaltspunkt dafür liefern, was das bedeutet! >>

Mit diesem Angebot lehnte mich hier sehr weit aus dem Fenster.

<< Was soll ich tun! Sagen Sie es mir! >>

Sie überlegte.

<< Naja, Sie könnten beispielsweise beispielsweise etwas aus ihrem Leben und von ihren Problemen erzählen. >>

 

Das schien das Äußerste an Entgegenkommen, wozu sie im Stande schien. Ein Haufen Fragen erschien auf der Bildfläche: Wozu brauchten sie diese Daten? Noch dazu meine? Was wollte man mit solch unbedeutenden Informationen großartig anfangen? Sich beim ihrem nachträglichen Studium zu Tode langweilen? Und, noch viel wichtiger: wollte ich jemandem, den ich gar nicht kannte, sensible Informationen über mich geben? Dabei war mir unwohl. Reingefallen! Ich hatte zugesagt, kooperieren zu wollen. Also kam ich jetzt wohl oder übel nicht darum herum, mit irgendetwas aus dem Kittel kommen.

<< Okay. Ich möchte zwar nicht über jedweden intimen Details Auskunft geben, ansonsten das ist aber kein Problem. Kann ich machen. >>

Ich sah aus dem Fenster. Was für eine Zeit-Verschwendung... Draußen schien die Sonne, es war so ein wunderschöner Tag. Man hätte den Wind auf der Haut spüren und den Vögeln beim Singen zuhören können. Und wir hatten nichts Besseres zu tun, als hier drin so etwas von unerfreuliche Gespräche zu führen. Nun gut, wenn es denn sein musste. Frau Dr. Vogel hatte deutlich demonstriert: sie saß am längeren Hebel - sie entschied, wo es langgehen sollte. Und sie wollte hier drin herumsitzen und unerfreuliche Gespräche führen.

<< So. Was wollten Sie hören? Etwas aus meinem Leben. Gut... >>

 

 

Als ich nun überlegte, was genau aus meinem Leben ich ihr eigentlich erzählen sollte, wurde mir klar, dass ich immer noch nicht verstanden hatte, was von mir erwartet wurde. Ich sollte aus meinen Leben erzählen. Aber das Leben besteht aus zahlreichen Details, von welchen genau ich berichten sollte, war nicht klar. Ob ich vielleicht zuerst noch ein paar mehr Fragen zu dem Thema stellen sollte? Nein. Dafür, mir noch mehr Instruktionen zu geben und dabei obendrein auch noch locker zu bleiben, war diese Person viel zu unentspannt. Die war ja mit der Kneifzange nicht anzupacken! Saß da wie eine Hornisse und zeigte mir, gefährlich summend, dauernd ihren Stachel, aus dem bei jeder Bewegung Gift tropfte.

 

Womit sollte ich anfangen? Ich kam zu dem Schluss: "Leben", das begann logischerweise bei der Geburt. Ich begann also, davon zu erzählen, wo und wann ich geboren und wie ich aufgewachsen war. Um besonders kooperativ zu sein, erwähnte ich weiterhin einige Details, die mir persönlich wichtig und erwähnenswert erschienen. Da aber meldete sie sich unverhofft wieder zu Wort:

<< So geht das nicht. >>

Das klang herrisch, arrogant und - o Wunder, o Staunen - total aggressiv. Ich seufzte. Was ich nun schon wieder falsch gemacht hatte, war mir schleierhaft. Mitten im Redefluss unterbrochen, fühlte ich mich von ihrem Desinteresse an meinen Bemühungen peinlich berührt. Was sollte das? Von ihrem Verhalten schockiert sah ich sie an. Hatte sie denn nicht "etwas aus meinem Leben" hören wollen? Na und? Das erzählte ich doch gerade! Das war vielleicht eine anstrengende Person. Die wusste aber auch überhaupt gar nicht, was sie wollte. Und wenn doch, dann sollte sie es bitte deutlich zum Ausdruck bringen!

<< Was ist? >> fragte ich.

Sie wurde immer böser, winkte unwirsch mit der Hand. Ich konnte nicht umhin, wiederholt nachzufragen:

<< Was hab ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? >>

Hatte ich etwas in der Aufgabestellung nicht verstanden?

<< Kommen Sie mal auf den Punkt, wir haben hier schließlich nicht den ganzen Tag Zeit! >> rupfte sie an mir ein Hühnchen.

<< Welcher Punkt? >>

Und wie genau sollte ich "darauf kommen"?

<< Jetzt reichts. Verlassen Sie bitte das Sprechzimmer. Und ich rate Ihnen, einmal über ihr Verhalten nachzudenken. So, wie Sie sich jetzt verhalten, brauchen Sie mir nicht wieder unter die Augen zu treten. Ich werde dem Chef darüber Meldung machen. Das geht so nicht. >>

Sehr kompetent, auf jeden Fall. Sie noch einmal aufzusuchen, lag überhaupt nicht in meinem Interesse.

 

Um den Gerichtsbeschluss (namens "Psych-kg" 26) aufzuheben, sollte ich einen Behandlungsvertrag unterzeichnen27. Heimweh nach meinem Zuhause28 war das Einzige, was ich noch zu empfinden in der Lage war. Das Bedürfnis nach etwas Vertrautem, dem Gewohnten.

 

Bald wurde ich wie geplant in den offenen Vollzug auf einer anderen Station verlegt. Man plante, das Haldol durch ein anderes Medikament zu ersetzen29. Über die starken Nebenwirkungen versuchte ich mit dem30 Leiter des Psychiatriekomplexes Glitzer in Dialog zu treten. Die Wirkung des neuen Mittels war entfernt vergleichbar mit der des Medikamentes vorher: Beide verursachten, dass ich mich wie betrunken fühlte und meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte. Unter Haldol hatte ich wie ein Eichhörnchen ausgesehen, meine Hände zu einer Pfötchenstellung verkrampft. Die Halsmuskulatur fing vom ständigen Auffangen des dauernd in alle Himmelsrichtungen fallenden Kopfes schmerzvoll an zu krampfen.31

 

Zusätzlich dazu machte nach dem Wechsel mein Kreislauf nicht mehr mit. Alles drehte sich. Schlangenlinien gehend lief ich dauernd in Gefahr, plötzlich das Bewusstsein zu verlieren. Mein Puls war plötzlich doppelt so hoch wie normal. Sport?... ging gar nicht mehr.32 Im Gegensatz zu den Muskelschmerzen, unter denen ich vorher gelitten hatte, fühlte es sich jetzt eher so an, als hätte ich eine schwere Grippe. Mir taten die Knochen weh! Ich schwitzte wie ein Schwein! Außerdem konnte ich nicht mehr schlafen, lag bis fünf, sechs Uhr morgens wach, geisterte des nachts ewig allein auf den Krankenhausfluren herum. Als ich besorgt davon berichtete, in was für einen entsetzlichen Zustand dieses neu verordnete Gift meinen Organismus versetzte, untersuchte Dr. Glitzer mich nicht einmal.33

 

Das Medikament machte mich nicht einfach nur krank, ganz sicher würde es mich umbringen! Ich hatte Angst! Den Wahrheitsgehalt meiner Worte hätte man leicht überprüfen können. Leider hatte Dr. Glitzer an der Uni34 niemand beigebracht, wie man den Puls35 fühlt. Er unternahm nicht einmal einen Versuch! Statt dessen stellte er ein "subjektiv negativ empfunden" in den Raum, um mich anschließend genervt aus seinem Büro zu werfen. Ich hatte zwischen ihm und seinem wohlverdienten Feierabend gestanden. Das Wochenende wartete. Wie ich später feststellen durfte, hatte mein Besuch bei ihm doch eine Wirkung: Nachdem er zu mir gesagt, ich würde mir das alles einbilden,36 hatte er weitere Medikamention angeordnet. Zumindest schien er mir zugehört zu haben: Davon, unter der Einnahme des neu verordneten Medikaments nicht mehr zum schlafen zu können, hatte ich ihm berichtet.37 Nun sollte ich zusätzlich auch noch ein Schlafmittel einnehmen.38

 

Das alles bekam ich erst gegen Abend bei der Medikamentenausgabe mit: Auf einmal lag da nicht nur eine ganz kleine Tablette (die ich bislang, im Vertrauen darauf, dass sie mir "helfen" sollte, brav eingenommen hatte), sondern zusätzlich auch noch ein Pinnchen mit irgendwelchen komischen Tropfen. Warum wusste ich davon nichts? Weshalb hatte man mich nicht informiert? Direkt erfolgte eine Panik-Attacke vom Feinsten. Schockiert, wie ich war, weigerte ich mich, die Medikamente einzunehmen. Solche widerspenstigen Patienten war die Schwester gewöhnt.

Sie blaffte mich an:

<< Wollen sie sich jetzt wirklich weigern, die Medikamente einzunehmen? >>

Dabei schaute sie mich an, als habe ich sie damit persönlich beleidigt. In einen Erklärungsversuch stammelte ich:

<< Das... das ist aber doch gar nicht mit mir abgesprochen! Das kann gar nicht sein! Dieses Medikament nehme ich sonst gar nicht! >>

Hatte sie mich gehört? Hatte ich deutlich genug gesprochen? Schnell wiederholte ich es noch einmal:

<< So etwas muss doch abgesprochen werden! >>

Sie schüttelte den Kopf und bellte:

<< Der Arzt hat es so angeordnet, wollen sie das jetzt etwa in Frage stellen? >>

<< ... Ja !!! >> antwortete ich. Aber sicher wollte ich das!

 

Sie schien das Prozedere zwar nicht sonderlich zu erfreuen, aber auch nicht zum Nachdenken zu bringen. Zu einem Missverständnisse-aufklärenden-Dialog, welchen ich mir erhofft hatte, war sie nicht bereit. Hingegen wusste sie scheinbar nur zu genau, welche Knöpfe sie zu drücken hatte, falls einer der Patienten aus der Reihe tanzte. Sie zitterte, ein Adrenalin Schub - ihr Unterkiefer schob sich nach vorn. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was wollte sie mit diesem Aufmüpflon, welches ich nun für sie darstellte, anstellen. Erst schaute sie sich hilfesuchend nach ihren Kollegen um dann (da außer ihr gerade keiner vor Ort war) zum Telefon zu greifen:

<< Dann rufen wir jetzt eben den AVD >> konstatierte sie, sich selbst dabei aufmunternd (und leicht irre grinsend) zunickend.

<< Das werden wir gleich haben. >>
Sie wählte eine Nummer.

 

Mir schwante Übles. Diese Situation hatte ich schon einmal erlebt. Zwar nicht hier, aber wer sagte mir schon, dass es an diesem Ort anders laufen würde? Also zumindest auf der Geschlossenen hatte ich auch hier Fixierungen von Patienten miterlebt. Wobei, bevor man zuschlug, Patienten tatsächlich erst handgreiflich werden mussten. Außerdem wurden sie dann auch immer noch freundlich behandelt und mit allem versorgt39 (z.B. einem Glas Wasser), was sie brauchten. Es waren auch nie so lange Zeiträume, die die Schutzbefohlenen dann in dieser entwürdigenden Stellung zubringen mussten. Man hatte einen Patienten, der mit Blumentöpfen um sich geworfen hatte, sogar eine Hand frei gelassen, damit er sich kratzen konnte. Das war doch nett! Nach ein paar Stunden war er wieder befreit worden, wie ich (neidisch) feststellte. Trotzdem empfand ich die Aussichten, die sich mir hier gerade boten, als beängstigend. Sollte es jetzt wieder Stress geben? Würde man mir erneut etwas zu unterstellen versuchen, mich vielleicht sogar am Ende wieder so zudröhnen, dass ich nicht mehr wissen würde, wo oben und wo unten?

 

Beschwichtigend hob ich die Hände. Sie fühlte sich persönlich angegriffen, weil ich ihren gewohnten Ablauf torpediert hatte? Dafür musste mich bei ihr wahrscheinlich sogar noch entschuldigen. Sie konnte schließlich nichts dafür, wenn der Arzt sich schlampig verhielt. Da dieser hier obendrein die große Nummer stellte, würde niemand wagen, sich seinen Anordnungen zweifelnd entgegenzustellen. Unter dem Vorbehalt, darüber mit dem Verantwortlichen in der nächsten Woche noch ein ernstes Wörtchen sprechen zu müssen, ließ ich mich dazu erweichen, die "Medizin" einzunehmen. Nachdem sie meine Weigerungshaltung für einen persönlichen Angriff auf sie gehalten hatte, kam ihr mein Nachgeben wie ein errungener Sieg vor. Aggressive Genugtuung erfüllte sie, während ich brav, so wie beordert, all die Chemie in mich hinein schüttete. Ihre Augen glühten. Und schon wieder hatte ich mir einen Feind geschaffen.

 

Die Schlaftropfen wirkten sich so aus, dass ich nun gar nicht mehr schlief. Irgendwann machte ich mich genervt auf meinen Weg zur Nachtschwester, um ihr die obligatorische Beschwerde darüber vorzutragen. Als sie mich im Anmarsch erblickte, sah sie plötzlich sehr ängstlich aus. Warum? Hatte die andere Schwester bei der Übergabe über mich hergezogen? War ich jetzt wieder eine Böse? Als sie nun aber bemerkte, dass ich gar nicht auf Ärger aus, sondern nur eine von jenen vielen war, die ganz real litten, bot sie mir erleichtert, freundlich und großzügig eine zusätzliche Bedarfsmedikation an. Jeder der hier Anwesenden konnte, wie ich verwundert erfuhr, auf Wunsch große Mengen an Valium bekommen. Ein Paradies für jeden Medikamenten-Abhängigen!40 Von diesem krassen Cocktail beschwingt war an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich konnte zwar kaum noch geradeaus laufen, aber schlafen? Fehlanzeige.

 

Während ich die ganze Nacht über auf blieb, fraß ich mich in Ermangelung einer Beschäftigung durch den Kühlschrankinhalt der Gemeinschaftsküche. Mein nächtliches Herumgeistern und Vollfressen hatte bald schon etwas Ritual-artiges. Morgens um sieben Uhr ging der normale Tagesablauf auf der Station wieder von vorne los. In der nächsten Nacht versuchte ich erneut, zu schlafen, dieses Mal ohne das Valium.41 Die ganze Nacht über lag ich (vergeblich auf den Schlaf wartend und mich gnadenlos dazu zwingend, nicht aufzustehen) wach in meinem Bett. Am frühen Morgen sollte es mir endlich gelingen. Genau eine halbe Stunde, bevor wir wieder geweckt werden sollten, schlief ich ein. Weil ich nun, statt mit den anderen aufzustehen, einfach weiter schlief, gab es bald darauf wieder großen Ärger. Freizügig unterstellte man mir die Absicht, "nicht am Gemeinschaftsleben teilnehmen" zu wollen. Als ich mein Verhalten entschuldigte und zu erklären versuchte, weshalb ich mich so verhalten hatte, hörte mir niemand zu.

 

Am Dienstag in der Woche darauf erhielt ich den lang ersehnten Gesprächstermin. Prof. Dr. Glitzer war endlich aus seinem glitzernden Wochenende zurückgekehrt. Außerordentlich ungehalten über sein Verhalten wäre es mir das Liebste gewesen, mit ihm ordentlich ins Gericht zu gehen.42 Statt dessen erstattete ich mit lediglich wenigen Worten sachlich einen Bericht. Wortkarg und abweisend schickte er mich weg. Wie ich bei der Medikamenten Ausgabe erfuhr, hatte er diesmal zur Strafe die tödlichen Neuroleptika gleich auf die doppelte Dosis erhöht. Meine abwehrende Haltung und die Bedenken über eine körperliche Unverträglichkeit waren ein Symptom der "Erkrankung" (und den damit einhergehenden Wahnvorstellungen). Aufgrund der von mir beschriebenen grippeartigen Gliederschmerzen hatte Dr. Glitzer mir Massagen (und ein Rückenaufbautraining) verordnet. Was sollte das? Wollte man mein außer Kontrolle geratenes, rasendes Herz etwa mit Massagen kurieren? War ich denn hier nur von Idioten umgeben? Wo hatten die studiert?

 

Die Fremd,- oder Eigengefährdung, welche man mir voreilig unterstellt43 hatte, hat es nie gegeben. Statt dessen war ich nun einer massiven Fremdgefährdung ausgesetzt. Diesem ominösen Gesetz nach hätten eigentlich die in ihrem Größenwahn so verantwortungslos zur Tat schreitenden Ärzte44 selbst diese Medikamente einnehmen müssen! Allein schon deshalb, um ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie es sich anfühlt, systematisch vergiftet zu werden. Die Nebenwirkungen unter dem neuen Medikament erschienen mir derart lebensbedrohlich, dass ich mir bald angewöhnte, es gar nicht mehr zu nehmen. Das Absetzen musste leider heimlich geschehen. Aus eigenem Ermessen schluckte ich diesen Giftmüll nicht mehr herunter, sondern spuckte alles heimlich wieder aus. Was blieb mir anderes übrig?

 

Nachdem ich wochenlang darum gebeten hatte, den Beipackzettel des Medikamentes einmal lesen zu dürfen,45 bekam ich ihn irgendwann46 ausgehändigt. Natürlich stand dort ausdrücklich, dass die Nebenwirkungen, die bei mir auftraten, ein sofortiges Absetzen des Medikaments erforderlich machen würden, da eine Unverträglichkeit dieser Art lebensbedrohlich für den Patienten sei. Was ich eh bereits vermutete, sah ich nun schwarz auf weiß. Aufgrund meiner mit Dr. Glitzer gemachten Erfahrungen war mir klar: Auf sein Verständnis47 und seine Hilfe brauchte ich nicht zu hoffen. Da ich das Zeug eh nicht nahm, musste auch keine weitere anstrengende Diskussion mehr darüber angestrengt werden.

 

Eingangs hatte er48 zu mir gesagt, dies sei ein "neues Medikament auf dem Markt", welches sich zwar "noch in der Testphase" befinde, aber "bereits erstaunlich gute Ergebnisse" erzielen würde. Er stellte es als Privileg dar, dass ich dazu auserwählt worden, es zu bekommen. Es sei zwar sehr teuer, aber meine Krankenkasse würde das ja übernehmen. Als müsse ich dafür, welche Gnade mir dadurch zuteil wurde, ganz besonders dankbar sein. Sollte man nicht, wenn man schon Patienten als Versuchskaninchen zur Austestung neuer Medikamente missbraucht,49 diese ab und zu mal untersuchen? Nein? Was ist das für ein Arzt? Ein Mengele oder wie??? Was fand ich also über Irrenanstalten heraus: Hier waren vor allem die Weißkittel bescheuert. 50

 

Nachdem ich die Pillen aus eigenem Ermessen abgesetzt hatte, wunderte sich einjeder darüber, dass es mir unübersehbar wieder gut ging. Der vorher/nachher Effekt war so offensichtlich, dass dies alle (selbst Oberarzt Lang) kommentierten.51 Ich konnte nur trocken lachen, behielt mein Geheimnis, sie nicht mehr zu nehmen, wohlweislich für mich. Natürlich sah ich deutlich gesünder aus!

 

In der Zwischenzeit bekam ich selbstverständlich regelmäßig von Ihm Besuch. Ja, genau, Er. Es gab ihn noch - und: er wohnte in erreichbarer Nähe. Nun sprachen wir nicht mehr so viel übers Heiraten. Statt dessen laberte er lieber dauernd vom Sterben. Selbstmord und so ein Kram, das war sein neuestes Steckenpferd... ein für mich bis dahin noch relativ unerforschtes Gebiet. Damit hatte ich mich bislang noch nicht ausgiebig beschäftigt. Tod? Was für ein Thema! Es gelang mir nicht, mich ihm zuliebe ernsthaft für dieses Thema zu erwärmen. Die meisten Menschen verbinden die Vorstellung des Todes mit etwas, wovor sie Angst haben (Leid). Mich verbanden damit keine emotionalen Reaktionen, die zu motivieren vermochten, das Thema interessanter zu finden als eine Rosine im Müsli. Der Tod gehörte zum Leben dazu, war aber nichts besonderes. Er wiederum machte eine große Schau daraus. Dauernd redete er vom Sterben und vom "umbringen". Ich bring mich um, Du bringst Dich um, wir bringen uns alle um. Wie langweilig. Ja, ja, umbringen hier, umbringen da, blabla.

 

Einmal zog er auf dem Parkplatz vor der Station sogar eine Waffe aus der Innentasche seiner Jacke. Da ich unbeeindruckt blieb, fing er an, damit auf mich zu zielen. Ich blieb weiter unbeeindruckt, lächelte ihn erwartungsvoll an, getreu dem Schema: Lächeln, nicken, lächeln. Er fing nun an, mir die Waffe auf Höhe meines Herzens gegen den Leib zu drücken. Ich sah nach unten, fragte mich, was das sollte, lächelte ihn daraufhin aber weiter erwartungsvoll an. Ja?? Da ich bei all dem nicht wie gehofft reagierte, sagte er mit einer Grabesstimme:

<< Ich muss dich jetzt umbringen. >>

Endlich verstand ich, dass er von mir eine emotionale Reaktion auf sein dämliches Todestheater erwartete. Das nervte vielleicht. Da wollte man ein paar schöne Stunden miteinander verbringen... Ich hörte auf zu lächeln und sagte genervt:

<< Wenn du abdrücken willst, dann drück ab, das ist mir egal. Aber LABER mich nicht mit so einer Scheiße voll! >>

Da drückte er ab. Es gab einen lauten Knall. Auch darauf reagierte ich nicht. Er bekam einen Lachanfall. Fand er das lustig?

<< Bist Du jetzt bald damit fertig? >> fragte ich ihn. Idiot.

 

Weiterhin blieb ich allen äußeren Eindrücken gegenüber mehr oder weniger teilnahmslos. Dies machte er mir jetzt regelmäßig zum Vorwurf. Er hielt mich deshalb, ebenso wie die Ärzte, für nicht ganz richtig im Kopf. Ich durfte nicht abwesend wirken. Immerzu musste man ansprechbar sein, schlagfertig irgendwelche Äußerungen parat haben, die außerdem noch in einem Sinnzusammenhang mit dem stehen sollten, was ein Gegenüber gerade sagte oder tat. Das war vielleicht anstrengend! Es kam mir vor, wie, als wäre ich dazu gezwungen, mich ständig von dem Kettenkarussell eines Ego auf das nächste begeben zu müssen, dazu verpflichtet zu sein, um dieses herum permanent im Kreis zu wirbeln.52 Was, wenn ich hier sonst nicht raus kommen würde? Ich strengte mich sehr an, das Gewünschte zu liefern. An den Stellen, wo ich vorher eher so gewirkt hatte, als habe ich ein Schweigegelübte abgelegt, schaffte ich es nun bald, wie ein Entertainer redegewandt und selbstbewusst alle gegen die Wand zu quatschen.

 

Trotzdem fand ich, dass jemand, der sich solche "Scherze" ausdachte, nicht ganz richtig im Kopf sein konnte. Die Waffe war echt, ich kannte sie. Es war ein Revolver des Kalibers Magnum, mit welchem er in meinem Beisein schon überall Löcher rein geschossen. Er hatte lediglich (wie er mir hinterher kichernd verriet) die Munition für seinen Streich so präpariert, dass keine Kugel vorn austrat, es bloß laut knallte, als er abdrückte. Ein etwas gewöhnungsbedürftiger Humor.

 

Bald kam ich auf eine andere Station, Station 6: die Depressiven. Ein Ort, an dem alle ununterbrochen von und über Selbstmord redeten. Das Motto hier: Ließe sich niemand, nicht einmal der liebe Gott, dazu herab, des Menschen unbedeutende Probleme zu lösen, stellte ein Sterbewunsch die ultimative Lösung dar. Ich war anderer Ansicht. Gruppen-Gesprächs-Therapie Runde Nummer eins auf Station 6: Nachdem alle im Kreis von sich und ihrer großen Ohnmacht den Lauschenden vorgewispert, war ich an der Reihe und sagte frei heraus:

<< Für jedes Problem in meinem Leben bin ich ganz aufrichtig dankbar. Probleme zu haben und sie daraufhin lösen zu können, macht das Leben interessant und genau aus diesem Grunde eigentlich erst wirklich lebenswert. Sonst hat man doch gar keine Aufgabe! >> ließ ich unüberhörbar verlauten.53 Yeah! Party für alle Probleme dieser Welt! Das war meine ehrliche Meinung, wenn auch mir bewusst war, dass sie lediglich meine subjektive Sicht der Dinge darstellte. Alle schnappten beleidigt nach Luft. Eilens verbot der Therapeut mir das Wort. Hmm,... vielleicht stimmte es ja!? Woher nahm ich mir eigentlich das Recht, darüber zu urteilen? Ich wusste es doch auch nicht!

 

Auf einen Versuch kam es an. Warum auch nicht. Welch elegante und einfache Methode, damit gleich alle Probleme auf einmal zu lösen! Es klang zumindest sehr verlockend: Alles loslassen, Nachdenken und Eigenverantwortlichkeit adé! Sich dem Vergessen hingeben, ok! Da man mich als das zentrale Problem betrachtete, wäre es damit sogar möglich, auch dieses Problem zu lösen. War ich nicht mehr da, hätte niemand mehr eines mit mir. So mein Gedankengang während der nächsten Gruppentherapiestunde. Was machte ich hier!? Äußern durfte ich mich nicht. Sein, so wie ich wirklich war, auch nicht.

 

Aber hey, wenn es doch so einfach war - einfach mit allem abschließen... Keiner wollte mich hier haben, keinem war ich, so wie ich war, gut genug... Trotz meiner ganzen Bemühungen war ich aus Sicht anderer Menschen immer nur schlecht. Mein größter Fehler stellte dar, das nicht einzusehen. Hatten mir nicht immer alle beweisen wollen, wie minderwertig ich war? Konnte ich, indem ich mit mir selbst Schluss machte, es damit allen anderen endlich einmal Recht machen? Auch mein Geliebter schien dieser Ansicht zu sein. Ich allein war die Einzige, die sich dagegen ständig zur Wehr setzte, sich uneinsichtig zeigte. Auch das, so wurde es mir jetzt hier eingetrichtert, sollte falsch sein. Einsehen sollte ich es! Alles an mir war ein Fehler, jawohl!

 

Was ist das für eine Welt, fragte ich mich. Überall Krieg, Gewalt, Grausamkeiten, wohin der Blick sich wandte. Eine Welt, in der zu leben es sich nicht lohnt. Und ich? Ich kleiner Wicht würde daran auch nichts ändern. Mich brauchte hier keiner. Das war die Lösung! Sogar eine ziemlich gute! Die Eltern wären ihr unnützes Kind los und die Gesellschaft, die mich ja sogar mittlerweile als "gefährlich" empfand (auch, wenn ich es gar nicht war) und der ich nur eine Last zu sein schien, würde mich nicht vermissen. Außerdem würde man sich nicht einmal selbst die Schuld dafür geben müssen, wenn ich mir das Leben nahm. Weil mich alle für geisteskrank hielten, wäre einzig und allein meine Erkrankung dafür verantwortlich. Mein Geliebter würde sich nicht mehr zwischen seiner Familie und mir entscheiden müssen. Rein logisch betrachtet also: ein Erfolg auf der ganzen Linie. Das Selbstmordpaket: eine eierlegende Wollmilchsau.

 

Da man mich auf dieser Welt nicht wollte, wollte ich mittlerweile auch sie nicht mehr. Daraufhin zog ich mich (gleich nach der Therapiestunde) auf einen einsamen Hügel zurück, der direkt an die Klinik angrenzte. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass ich es kaum abwarten konnte, bis sie sich endlich ihrem Ende zuneigte. Tapfer hielt ich mich an mein Redeverbot und erzählte nichts mehr von meinen Gedanken, die mich tief in meinem Innersten bewegten.

 

An dem Ort, an welchem ich mit Ihm immer gesessen hatte, sollte es passieren. Es erschien mir das Passendste. Dort war mein Herzschmerz am größten, was mich motivieren würde, diesen letzten, großen Schritt zu tun. Am Handgelenk54 schnitt ich mir tief in den Arm. Erwartungsgemäß fing es ziemlich heftig an zu bluten. Sonst passierte aber eigentlich nichts. Ungerührt sah ich zu, wie undramatisch Blut auf den Waldboden tropfte. Blubb blubb. Die Zeit verstrich. Ich grunzte verblüfft. Was für ein Ärger! Sollte jetzt ich nicht langsam tot umfallen? Sterben war scheinbar gar nicht so einfach. Wieso klappte das nicht? Dafür würde es sicher einen Grund geben.

 

Mein lernfähiger Geist erwachte. Jeder Moment barg neue Erkenntnisse. Dieser würde ich auf den Grund gehen müssen. Ich sah meinen Arm an. Was hatte er mir mitzuteilen. Das Blut tröpfelte, wobei es bereits langsam gerann. Auf einmal musste ich herzhaft lachen. Ich war vielleicht blöd! Eine derart dumme Idee! Wieso hatte ich sie nicht sofort als eine solche enttarnt? Ich wollte doch leben! Nur so - wie jetzt, das alles hier, das war vielleicht nicht gerade das Optimalste. Die mich krank machenden Medikamente, die negative Haltung der Menschen mir gegenüber, insbesondere die meiner Familie... Aber gab es nicht auch Menschen, die mich mochten! Warum hatte ich nicht zuerst an die gedacht? An meine Freunde? Und wenn es auch nur ein Einziger wäre, den ich damit traurig gemacht hätte - wenn ich gestorben wäre, hätte ich einen Riesenfehler begangen. Solche Dinge konnte man doch nicht einfach ausprobieren, so wie ein noch unbekanntes, neues Gericht auf der Speisekarte des Lieblingsrestaurants. Auch, wenn ich gerade richtig Scheiße drauf war, war das noch lange kein Grund.

 

Doch nun, - verdammt! - ... suchte ich Hände ringend nach einer kreativen Ausrede für diese... verfluchten... Ärzte! Die Idee, mich bei einem Suizidversuch55 von ihnen ertappen zu lassen, gefiel mir nicht besonders. Das war genau das, von dem in diesem verfluchten Gesetz die Rede war. Wie lustig: Die Vorstellung des eigenen Ablebens versetzte mich weit weniger in Angst und Schrecken als die Ärzte mit ihren Zwangsmaßnahmen und Medikamenten es vermochten.56 Auf einem Baumstamm sitzend grübelte ich vor mich hin. Dafür gab es jetzt so direkt keine schnelle Lösung. Allerdings könnte ich versuchen, es zu verheimlichen! Mit etwas Glück würde, was passiert war, niemandem auffallen. Da mich das Nachdenken in diesem Moment eh nicht weiter brachte, stand ich irgendwann einfach auf und ging zur Station zurück. Tat, als sei gar nichts geschehen. Von meinen Dummheiten brauchte keiner etwas zu erfahren. Ich war einfach nur verdammt traurig, das war auch schon alles. Ein Tuch um den blutenden Arm herum geschlungen, die Untat unsichtbar gemacht, vor dem sehenden Auge verborgen. Das bisschen Blut, welches noch aus der Wunde tropfte, fiel in dem Schwarz meines neuen Armschmucks nicht weiter auf. Niemand merkte etwas.

 

Ausgerechnet heute sollte ich wieder zum Herrn Therapeuten, zu einer "wie geht´s uns denn heute"-Sitzung. Als ich mich in den Plüschsessel vor dem kleinen runden Tischchen deponiert hatte, fragte er:

<< Haben Sie schon einmal an Selbstmord gedacht? >>

Ach du Scheiße... Erwischt. Verdammt. Ein neues Konzept musste her, und zwar schnell. Zugeben und gleichzeitig den Fehler bereuen? Was ich nicht wusste: Diese Frage gehörte zum Standart-Prozedere. Ich aber ging davon aus, er habe etwas mitbekommen. Aufgrund meiner mir bis heute fehlenden Fähigkeit, jemanden direkt anzulügen, konnte ich ihm nur auf ehrliche Art antworten. Also wickelte ich mein Handgelenk aus dem blutdurchtränkten Tuch, zeigte es ihm und sagte dann:

<< Ja, heute. >>.

Er hatte einfach ins Blaue hinein gefragt, aber dabei direkt ins Schwarze getroffen, was ihn in dem Augenblick sichtlich aus der Fassung brachte.

 

Natürlich kam ich daraufhin sofort wieder auf die Geschlossene. Traurig kündigte er mir den Vorgang meiner (Rück-)Verlegung an. Mich dagegen zu wehren, wozu? Es war in Ordnung. Auf der Geschlossenen hörte man wenigstens nicht mehr die Schreie57 der Patienten aus der Abteilung neben uns, die einen hier jeden Tag begleiteten. Es war ganz schön schwer, nicht aus einem natürlichen Reflex heraus sofort zu helfen zu versuchen! Wie sollte man denn entspannt in der Sonne sitzen, wenn von nebenan ständig Schmerzensschreie und Hilferufe zu einem herüber wehten? Das ging von morgens bis abends so, es war kaum auszuhalten! An diesem Ort kam es einem so vor wie, als sei man in der Zeit zurück gereist ins Mittelalter und in einem der unterirdischen Folterkämmerchen oder Versuchslabore gestrandet. Dort, wo zu seiner Zeit mit Menschen auf diese Art umzugehen völlig normal gewesen war.

 

So musste ich mir jetzt nicht mehr den Stuss der Insassen von der Station für Patienten mit Depressionen rein ziehen:

Ich habe ein Problem und warte Tag für Tag darauf, dass es mich auffrisst, mein Gott, wieso frisst es mich denn nicht!!!, dramatische Pause, nächster bitte. Sehr lustig: Als ich in der Gruppentherapie aus vollem Herzen verkündet hatte, dass ich dem lieben Gott dafür dankte, uns Probleme geschickt zu haben, war mir diese Aussage vom Therapeuten als "aggressives Verhalten" sowie "Unangepasstheit gegenüber der Gruppe" angekreidet worden.

<< Du kannst den Leuten doch nicht so etwas antun, wir sind hier alle äußerst sensibel! >> sagte Max in einer Sondersitzung für meine allein dafür vorgesehene Standpauke.

Meine Entgegnung, ob man denn nicht auch ehrlich seine Meinung sagen dürfe, denn dafür sei doch eine solche Therapiegruppe überhaupt da, wurde mit einem

<< Wir müssen hier Rücksicht nehmen. >>

aus der Welt gefegt.

Aha. Kapitulieren, das war erlaubt. Alles andere galt als vorsätzliches Fehlverhalten. Purer Wahnsinn. Also: wieder auf die Geschlossene. Da war ich richtig(er). Haufenweise gescheiterte Existenzen, die das aber allesamt (noch) nicht einsehen wollten. Und die sich, so wie ich, dagegen, abgeschrieben zu werden, vollkommen therapieresistent renitent zur Wehr setzten.

 

Die Wichtigste aller Fragen hatte Max mir bereits beantwortet. Bei einer unserer allerersten Therapiesitzungen hatte ich ihn spontan gefragt, wie es aus seiner Sicht zu beurteilen wäre, wenn jemand58 wahrsagen könne. Er behauptete, dies sei ein Symptom bei Schizophrenie. Auch dann, wenn die Prophezeiungen genau so eintreffen würden. Daraufhin hatte ich ihm keine weiteren Fragen dieser Art mehr gestellt. So sah das also aus. Ich hatte richtig gehandelt, als ich mich, was meine besonderen Fähigkeiten anging, von Anfang an konsequent in Schweigen gehüllt. Auch, wenn es mich traurig machte, dass diese hier keine Anerkennung finden sollten. Für mich waren es lediglich ganz normale Sinneswahrnehmungen, die jeder kannte. Die meisten Menschen erfahren solche Vorahnungen nur über ihr Unterbewusstes, auf welches sie meist gar keinen Zugriff haben. Ich war sensibler und hatte gelernt, diese Informationsquelle gezielt anzuzapfen. Deswegen war ich aber nicht zwingend irregeleitet oder krank.59

 

Während meines Aufenhaltes kam mich meine neue große Liebe selbstverständlich stetig und immer wieder besuchen. Wie Turteltäubchen60 zogen wir regelmäßig Hand in Hand um die Klinik. Meistens war er ziemlich von der Rolle. Unablässig fragte er mich, ob ich ihn denn "wirklich lieben" würde. Dauernd machte er sich Gedanken um eine Zukunft, wobei er für gewöhnlich damit nicht besonders weit kam. Wie mir auffiel, baute er bloß Luftschlösser, die nur dem romantischen Augenblick dienten. Häufig machte er einen sehr in sich gekehrten Eindruck, sprach er von uns, wie, als seien wir verflucht oder verwunschen und tat, als würden wir uns eines Tages tatsächlich nicht mehr wiedersehen können. Manchmal fing an zu weinen.

 

Immer häufiger redete er davon, sich das Leben nehmen zu wollen. Ich getraute mich deshalb kaum mehr, ihn alleine zu lassen. Zwar verstand ich nicht, was in ihm vorging, nahm aber alles sehr ernst und war deswegen verunsichert. Spielte er mir jetzt wieder irgendein Theater vor? Verarschte er mich oder empfand er wirklich so? Weil ich mir Sorgen machte, blieb ich auch einmal länger weg als offiziell erlaubt, was mir wieder einen boshaften Eintrag in meiner Unangepasstheitsakte eingebrachte. Eines Abends bat er mich darum, ihn "nicht alleine" zu lassen. Drohte damit, sich etwas anzutun. Trotzdem gab es hier immerhin so etwas wie eine Ausgangssperre. Immer wieder wies ich ihn darauf hin, zurück zur Station zu müssen, aber jedesmal, wenn ich Anstalten machte, aufzubrechen, klammerte er sich, vor Tränen ganz verrotzt, an mir fest und jammerte:

<< Lass mich nicht alleeeeeeeiiinnn ... >>

 

Als wir aber bereits eine halbe Stunde über die Zeit waren, bat ich ihn, mir wenigstens zu gestatten, dort kurz Bescheid zu sagen, damit man sich keine Sorgen um mich machte. Da ich ihm versprach, danach sofort wiederzukommen, erlaubte er es. Ich ging zur Station zurück und lies den AVD holen, der sofort kam. Als ich berichtete, erlebte ich (m)ein blaues Wunder. Alle Beteiligten blieben, wie, als habe man das zuvor abgesprochen, einstimmig untätig. Einzig das Fehlverhalten meines zu spät Kommens schien der Erwähnung wert. Als hätte ich sie gerade nicht um Hilfe gebeten, nicht von jemandem mit eindeutig eigengefährdendem Verhaltensabsichten erzählt. Welches mich dazu bewogen hatte, den AVD rufen zu lassen, damit dieser in seiner verantwortungsvollen Funktion als Arzt tätig werden konnte. Das war sein JOB! Der kollektiven Untätigkeit und Ignoranz wegen stampfte ich verzweifelt mit dem Fuß auf und ballte meine Hände61 zu Fäusten:

<< Das können sie doch nicht machen! Hören Sie. Da sitzt einer - zweihundert Meter von hier, im Auto, der damit gedroht hat, sich etwas anzutun, wenn ich nicht gleich wiederkomme >>

Wachte von diesen Zombie-Affen endlich mal einer auf?

 

Schwubbs -> bekam ich dafür wieder einen Eintrag in meine Akte. Es wurde als "aggressives Verhalten" vermerkt. Fast wie, als habe ich versucht, auf die Anwesenden loszugehen.62 Weder das Krankenhauspersonal s/wollte ihm helfen, noch ich. Ich durfte nicht einmal zurück zum Wagen gehen, um nach ihm zu sehen. Er sollte sich ganz in Ruhe umbringen dürfen (was er nicht getan hat), und ich mich für meine Unpünktlichkeit schämen (was ich nicht getan habe).

 

An dem Abend hatte ich ihm versprechen müssen, dass wir uns niemals und auf gar keinen Fall trennen und uns eine "gemeinsame Zukunft" aufbauen würden. Immer wieder betonte er, dass er "ohne mich nicht leben" könne. Er kam an, heulte mir einen vor und dackelte wieder ab. Als er eines Tages, den Arm im dicken Verband, ankam, frage ich ihn, was denn passiert sei. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Eine Nachbarin habe die Blutzufuhr an der Schulter abgebunden, bis der Krankenwagen kam. Die Narben, die zurückblieben, waren beeindruckend. Sie fielen jedoch nicht weiter auf, da er sowieso am ganzen Körper damit übersät war.

 

Einmal mietete er mal wieder ein Hotelzimmer vor Ort. Ich ging davon aus, wir wollten nun endlich Tacheles reden! Zum Beispiel darüber, wie es weitergehen könnte. Aber nein, nichts! Ob er wohl darauf wartete, dass ich verzückt baggernd über ihn herfiele? Ich jedoch lag überhaupt gar nicht an seiner Männerbrust, sondern weit davon entfernt, stumm auf meiner Seite des geräumigen Doppelbetts. Dort verharrte ich hoffend. Irgendein Wort von ihm, ein Satz wie zum Beispiel: "Wie soll es nun weitergehen" oder wahlweise: "so geht das nicht weiter", ey, da wäre ich voll mit ihm einer Meinung gewesen. So ging es wirklich nicht weiter. Aber nein, es kam: ... nichts ...! Überhaupt nichts.

 

Das war nicht sehr viel. Wie in den ganzen vorangegangenen Monaten zuvor hatte ich nicht einmal ansatzweise den Mumm, ihn darauf anzusprechen, ob und inwiefern er sich denn eine Zukunft für uns vorstellen könnte. Ausgenommen die Szene, in der ich ihn hatte beruhigen müssen, hatte ich nur das Beisammensein mit ihm zu genießen versucht. Eine Zukunft mit mir zu haben, schien ihm wichtig. So wichtig, dass er mich sogar mit einem angedrohten Selbstmord unter Druck gesetzt und mir damit ein Versprechen abgepresst hatte, dass wir uns niemals trennen würden.

 

Wenn er es ernst meinte, wieso sagte, wieso tat er dann nichts? Wieso kam er nicht von alleine auf das wirklich Entscheidende! Das war doch wohl nicht so schwer? Von mir aus würde ich ihn nie darum bitten können, seine Familie zu verlassen. Das war ganz allein seine Entscheidung. Ich würde zwar zu ihm stehen, wenn er sich endlich für mich entscheiden könnte, aber versuchen, ihn zu beeinflussen? Das nicht. Woran scheiterte es? Mir war es ernst mit ihm! Ich hatte noch nie solche Gefühle für jemanden gehabt! Also: Wovor hatte er so eine Angst? Wenn er mit seiner Ollen zu Hause nicht klar kam, was zum Teufel nochmal hielt ihn noch da? Über all das dachte ich nach, sagte aber kein Wort.

 

Jeder von uns lag brav vor sich hin sinnend auf seiner Seite des Bettes. Nach einer Weile63 geschah etwas Seltsames: Mit einem Mal gebärdete er sich unheimlich aggressiv. Dabei setzte er sich nun rittlings auf mich, fing damit an, mich zu würgen. Dabei stammelte er irgendwelche Vorwürfe vor sich hin, die in gewisser Weise an mich gerichtet waren. Mal wieder reagierte ich nicht. Komisch... diese ganze Szene.... Ich hatte ja schon geahnt, dass mit ihm etwas nicht stimmte.64 War das jetzt wieder einer seiner seltsamen Scherze? Sollte ich vielleicht zu lachen versuchen?

 

Er sagte zu mir, ich dürfe nicht weiter existieren, müsste jetzt sterben.

<< Du bist ein schlechter Mensch. Du musst sterben. >>

Er lachte hysterisch.

<< Sogar deine Familie sagt das. Alle sind dieser Meinung. Weißt du eigentlich, was du anderen Menschen damit antust, dass du so bist, wie du bist? Ich kann nicht anders, verstehst du? Ich muss dich umbringen! >>

Klar. Diese Nummer kannte ich ja schon (zumindest die von meinen Verwandten). Nur mir das so direkt ins Gesicht zu sagen traute sich keiner. Ach was, dachte ich, nun mal langsam... Woher nahm er das alles nur? Über seine seltsamen Äußerungen würde ich später vielleicht gründlicher nachdenken.

 

Dabei auch ein bisschen neugierig, beobachtete ich, wie er mich mal wieder mit meinem eigenen Ableben zu konfrontieren versuchte. Dieses Mal drohte er mir nicht mit einer auf mein Herz gerichteten Waffe, sondern hatte mir nur seine Hände um die Kehle gelegt, die langsam zudrückten. Was wohl als nächstes kommen würde? Würde ich tatsächlich sterben? Bewusstlos werden? Nein. Ich würde nicht sterben. Ich wollte leben - also würde ich auch leben. Da war ich mir sicher. Mein blutendes Handgelenk hatte mir eine Geschichte erzählt. Dass ich so gar keine Angst zeigte, schien ihn total aufzuregen. Er ließ von mir ab und warf mir wieder einmal vor, wie beknackt ich sei. Den Vorwurf verstand ich nicht. Was hätte ich denn tun sollen? Ihm etwas an die Backen hauen? Aber ich hatte ihn doch lieb! Vertraute ihm! Das war mir zu kompliziert.

 

In Folge ging ich diese Situation im Geiste noch einige hunderte Male durch: Er hatte gar nicht so richtig fest zugedrückt, also gab es auch keinen Grund, um mein Leben zu kämpfen. Er liebte das Theater, die emotional aufwühlende Inszenierung, warum also hätte ich ihm seine Show abnehmen sollen. Dass ich mich in dem Augenblick nicht gegen ihn zur Wehr gesetzt, sollte ein Beweis dafür sein, nicht richtig im Kopf zu sein? Moment mal - wer hatte gerade wen gewürgt?65 Schweigend ließ ich seine wüsten Beschimpfungen über mich ergehen. Es erschien mir erniedrigend. Dieser Event, so teuer er gewesen war, wollte mir nicht gefallen. Wütend brachte er mich zur Klinik zurück. Zu nichts war ich zu gebrauchen! Nicht einmal richtig überzeugend Angst hatte ich! Weder hatte ich mich erschrocken, noch verärgert über sein Verhalten gezeigt. Seine Augen hatte er, mich theatralisch am Hals packend, so weit aufgerissen wie die eines scheuenden Pferdes. Entsetzlich ließ er sie aus ihren Höhlen hervorquellen - und ich wagte es, mich davor nicht zu fürchten! Immer noch hatten wir kein einziges Mal Sex miteinander gehabt. War das jetzt so eine Art Ersatzverhalten? Wieso verhielt er sich so? War er verrückt? Langsam fing ich an, mir ernsthaft Gedanken zu machen.

 

An dem Abend beschloss ich, mit einem der Ärzte darüber zu reden. Nächster Punkt auf der Sorgenliste: Wem genau sollte ich mich damit anvertrauen? Ich war wieder auf der Geschlossenen. Wen gab es da? Oberarzt Dr. Lang vielleicht? Mit dem ich immer noch kein Wort sprach? Oder Frau Dr. Ich-hab-einen-Vogel-Oink-Oink? Die mit mir nicht mehr sprechen wollte? Psychopathen-Glitzer, der bei mir bis in alle Unendlichkeit verschissen hatte? Blöder Plan. Das ging nicht. Wie immer war ich auf mich allein gestellt.

 

Nach ca. einer Woche auf der Geschlossenen erhielt ich eine Postkarte:66 "Ich liebe dich abgöttisch, aber wir können uns nicht mehr wiedersehen. Es geht nicht. Es tut mir Leid". Erklärung Ende. Hallo? Sollte ich es ihm nicht einmal wert sein, mir das persönlich mitzuteilen? Meine Gefühle liefen Amok. Das gefielt mir nicht. Es konnte doch nicht zu viel verlangt wäre, sich, um mir eine so wichtige Nachricht zukommen zu lassen, ins Auto zu setzen, um sie mir persönlich zu überbringen? Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Die Vorstellung bereitete mir großes Unbehagen, welches nicht von mir weichen wollte. Vor mich hin murmelnd tigerte ich im Kreis. Nach einer Weile beschloss ich, ihn einfach anzurufen.

 

Auf zur Telefonzelle gegenüber, die obligatorischen Münzen eingeworfen. Tuuutuuut. Plötzlich hatte ich seine Freundin an der Strippe! Verunsichert überlegte ich. Aber: Stellte die Situation nicht die ideale Lösung dar? So aufgewühlt, wie ich war, wäre Er vermutlich nicht der richtige Gesprächspartner. Ich brauchte jemanden mit einem kühlen Kopf - der mich wieder auf den Boden holte. In ihr glaubte ich endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich über Alles reden würde können. Ich erzählte ihr von meinen Gefühlen: Im ersten (Schreck-) Moment hatte ich tatsächlich erneut an Selbstmord gedacht. Nicht, dass das zur Gewohnheit werden würde, witzelte ich herum.

 

Dann ermahnte ich sie, Ihm bloß nichts zu erzählen, um ihn nicht unnötig zu verängstigen. Sie solle ihm doch bitte bloß ausrichten, dass ich ihn noch einmal zu sehen wünschte. Ich wollte mich selbst bei einer sich anschließenden einvernehmlichen Trennung lieber von Angesicht mit ihm besprechen. Sich anständig voneinander zu verabschieden, nicht nur ein 0-8-15 Postkärtchen zu schicken, sollte wohl das Mindeste sein, oder? Fragte ich sie. Sie versprach es genau so auszurichten.

 

Was ich nicht ahnte: Sie war mit Leib und Seele das, was man eine Tratschtante nennt. Ihr Leben bestand aus dreckig-über-andere-Herziehen. Etwas zu verschweigen wäre gegen ihre Natur gewesen! Nachdem ich sie extra darum gebeten hatte, dies nicht zu tun, konnte sie es erst recht nicht anders: Sie rannte sofort zu ihm, um ihm alles brühwarm zu erzählen. Als er daraufhin Anstalten machte, voller Sorge zu mir zu fahren, entwendete sie ihm profilaktisch das Auto.

 

Das Fass war voll. In diesem Augenblick sollte es überlaufen.

1 (in der improvisierten Version ohnehin ziemlich planloses)

2 (auf einmal verstand ich, wo ich mich befand! Psychiatrie..., davon hatte ich doch schon einmal gehört! Tatsache: Ich war tatsächlich in einem Irrenhaus!)

3 (unser beider Unfähigkeit, eine Kommunikationsebene auf Augenhöhe zu etablieren, wurde in diesem Augenblick dauerhaft zementiert)

4 (wenn ich heute so zurückdenke, kommt es mir so vor, als habe man mir zu den Zeitpunkten mit Publikumskontakt (Besuch des Richters + Tag der Verlegung) weniger Gift verabreicht: An diese Momente existieren Erinnerungen, an alles andere nicht)

5 (nicht einmal den Ärzten)

6 (oder gar jemanden im Weg steht)

7 (Hier passt das Sprichwort: eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus)

8 (früher lag die Sterberate von MNS Betroffenen bei 30%, heute ist sie auf 20 gesunken)

9 (-> wie im Kindergarten oder der Schule)

10(instinktiv zählte ich die Ärzte zu der Gruppe der MGAs)

11 (wenn es darum gehen würde, gezielt zu erniedrigen)

12 (welche, wie ich später erfuhr, freiwillig dauerhaft in der geschlossenen Abteilung Dienst schob -> wie ungesund!)

13 (Berufe die gut zu missbrauchende Machtpositionen verleihen, ziehen leider nicht nur aufopfernd fürsorgliche Menschen in ihren Bann)

14 (was mir total auf die Nerven ging)

15 (dabei auch noch eine der wenigen, die diese Fähigkeit gezielt einzusetzen vermochten)

16 (tatsächlich ist mir der Ehrgeiz, an den im Klinikkomplex angebotenen Freizeitaktivitäten teilzunehmen, später als einer von vielen besonders negativen Aspekten meiner Persönlichkeit in der Akte vermerkt worden. Man wunderte sich über meinen Elan, die Lebens-Zugewandtheit. Das war nicht normal. Ich konnte doch nicht sämtliche Sportkurse belegen und außerdem nebenbei auch noch arbeiten wollen? Wo gab es denn so was! In Zombiehausen nicht. Da waren das höchste Glück auf Erden eine Schachtel Zigaretten und das tägliche Fernsehprogramm, dass man, sich nebenher zu Tode qualmend, genoss)

17 (in diesem Fall wird das Händeschütteln von Patienten gut bezahlt)

18 (war ich auch nicht -> diese Art Beschäftigungstherapie stellte sich später als strategische Schikane heraus. Während meines Studiums seines über mich angefertigten Gutachtens kam die Wahrheit ans Tageslicht: Er hat es nicht einmal gelesen. Was ich angesichts dessen, welche Mühe mir das Schreiben bereitet hatte, als maßlos erniedrigend empfand)

19 (die seit meinem Eintreffen hier - im Gegensatz zu ihm - ständig mit mir zusammen gewesen waren)

20 (Äußerungen bezüglich meiner Unangepasstheit, die man mir schon austreiben würde)

21 (dabei war er, wie sich später für mich heraus kristallisierte, noch der Ehrlichste von Allen. Er hatte mit offenen Karten gespielt, mir sogar bereitwillig die Regeln erklärt)

22 (allerdings fiel es mir schwer, beim Äußern dieser Worte nicht irre los zu kichern)

23 (vermutlich aber jeder privat Versicherte)

24 (aus ihrer Sicht scheinbar noch viel bösere)

25 (aber echt! Woher leitete sie sich das Recht, sich derart zu echauffieren? Schließlich machte sie das doch genauso)

26 (Das gibt es so ein Gesetz, dass es Ärzten erlaubt, einen Menschen auch gegen seinen eigenen erklärten Willen festzuhalten und zu "behandeln". Dann, wenn dieser aufgrund einer geistigen Erkrankung sein eigenes oder das Leben anderer Menschen in Gefahr bringt => klingt erst einmal sehr vernünftig... Soweit ich weiß, gibt es aber keines, dass es Ihnen erlaubt, einen aufgrund unbewiesener Aussagen Dritter (wie z.B. der Eltern) auf diese Art und Weise zu entmündigen, wie es bei mir der Fall war. Leider wird eben jenes Gesetz von den Kliniken, wie ich mittlerweile schon von vielen Seiten erfahren habe, dazu missbraucht, sich mehr Patienten zu verschaffen. So wurde einmal einer Bekannten von mir beispielsweise eine "Fremd und Eigengefährdung" vorgeworfen, weil sie in ihrer Wohnung Kerzen angezündet und einen Rock getragen dazu hatte (das stand so in den Papieren!). Um sie zwangs-einweisen zu können, mussten man eine Gefahr erfinden. Man steckte sie mit der Begründung in die Geschlossene, dass "der Rock an den vielen in der Wohnung angezündeten Kerzen hätte Feuer fangen können")

27 (aus einer rein rechtlichen Sicht ist das Leisten einer solchen Unterschrift ein Fehler)

28 (in diesem Falle eher: dem Kofferraum meines Autos, indem ich zuletzt immer geschlafen hatte, das also mein "zu Hause" gewesen war)

29 (welches sich im Nachhinein jedoch nicht als bessere, sondern eher die schlechtere Wahl herausstellte)

30 (aufgrund meiner privaten Krankenversicherung an mir gut verdienenden)

31(Auch alle anderen Muskeln im Körper machten nicht mehr mit)

32(da fragt man sich, woraus eigentlich der gesundheitsfördernde Aspekt bei der ganzen Chose besteht)

33(plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun, dass sie mich damit ganz real umbringen würden. Mich zur Wehr zu setzen, getraute ich mich nach dem jüngst Erlebten nicht mehr. Das hätte, wie ich nur zu genau wusste, ernüchternd schnell wieder Zwangsmaßnahmen zur Folge gehabt)

34(die ihm diese ganzen Titel verliehen hatte - warum eigentlich? Wem war er dafür weit genug in den Arsch gekrochen?)

35(o. die Temperatur - die war nämlich auch zu hoch)

36(weil ich angeblich"eine falsche innere Einstellung" dazu habe)

37(wer kommt schon auf Dauer mit nur zwei Stunden Schlaf aus? Lange ausschlafen gab es hier nicht, weshalb die nächtlichen Schlafstörungen ins Gewicht fielen)

38 (Mich (körperlich) zu untersuchen war nicht möglich, aber die Medikamenten-Dosis erhöhen, das ging immer!)

39 (eine Schwester saß die ganze Zeit neben dem Bett, um beruhigend mit dem Patienten zu sprechen)

40 (wenn das der Medizinmann gewusst hätte)

41 (Später fand ich heraus, dass ich zu denjenigen davon Begnadeten unter uns gehöre, die auf die Vergabe von Psychopharmaka "paradox" reagieren. Was bedeutete: Ich konnte erst schlafen, als das Schlafmittel damit aufhörte, zu wirken)

42 (was ich mir natürlich verkniff, denn: wer sitzt am längeren Hebel? Genau)

43 (und eifrig inszeniert)

44 (und sicherlich auch ein Teil des Pflegepersonals)

45 (Dr. Google war noch nicht verfügbar)

46 (wenn auch nur sehr widerwillig)

47 (und erst recht nicht auf seine Lesekünste, Beipackzettel von Medikamenten betreffend)

48 (enthusiastisch und aufdringlich wie ein Staubsaugervertreter)

49 (das auch noch unter zur Hilfe nahme von Zwangsmedikation!)

50 (später hat eine Freundin mir verraten, dass sie aus genau diesem Grund ihren Job als Krankenpflegerin in genau dieser Psychiatrie an den Nagel gehängt hat: Weil dort im großen Stil mit Medikamenten an Patienten Versuche durchgeführt worden waren und ihr Gewissen ( => Manche Menschen haben so etwas!) diese Art Praxis nicht mitzutragen bereit gewesen war. Als Sie sich, weil sie es für unverantwortlich hielt, darüber hatte beschweren wollen, war sie auf massive Widerstände gestoßen. Man hatte ihr die Kündigung nahe gelegt. Alle machten mit. Wer nicht mitmachte, musste gehen)

51 (natürlich schob man meine Spontanheilung dem tollen, neuen Medikament in die Schuhe. Was für ein Heilerfolg!)

52(auch, wenn einem davon speiübel wurde)

53(keiner sollte es verpassen)

54 (dort, wo man den Puls fühlt)

55 (wenn auch missglückten)

56 (ich zog den schnellen und schmerzfreien Tod dem langsamen und qualvollen Prozedere vor)

57 (TUN SIE MIR NICHT WEH! NEIN! HILFEEE!!!!!")

58(aus einer instinktiven Vorsicht heraus fragte ich nur ganz allgemein nach, bezog den Inhalt der Frage nicht auf mich selbst, gab keinen Hinweis, dass ich damit gemeint sein könnte)

59 (Was ich hierbei aber nicht ausschließen möchte, ist, dass es Menschen gibt, die so etwas wahnhaft verarbeiten)

60 (man nannte ihn auf Station 6 bald nur noch meine "Glückspille")

61 (wobei, die blieben unterhalb der Hüften, ich drohte damit niemandem)

62 (soviel Interpretationsspielraum innerhalb der nachträglichen Darstellung von Kommunikation muss schon sein (zumindest für die Akten). Um ein besonders negatives Bild von Patienten zu malen, anhand dessen man hinterher der Gesellschaft vorgaukeln kann, dass man unbedingt zu Zwangsmaßnahmen greifen muss, um sich vor dieser so gemeingefährlichen Person zu schützen)

63 (eine Weile, in der der ganz und gar nicht das heikle Thema Beziehung/ Zukunft besprochen worden war)

64 (-> zumindest nicht mit seinem "Humor")

65 (oder so getan, als wenn er jemanden würgte -> auch nicht viel besser)

66(frühe Form der SMS, Anm. d. Übers.)

 



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