The Survival of the Arschloch
Kindergarten und Alphatiere
1977, Köln: die Geburt.
Der Vater: Zuerst noch Künstler, dann Psychologe.
Die Mutter: damals bereits eine Lehrerin.
Zusätzliches Bonusmaterial: ein kleines Brüderchen.
Der Bruder, welcher vermutlich ein Zwilling hätte werden sollen, verspätete sich um ein Jahr. Seine Galle und Leber wuchsen zunächst viel zu schnell, wovon er einen riesenhaften Bauch bekam - was komisch aussah. Die Mutter entwarf form-angepasste Hosen. Dramatisch prognostizierten behandelnde Ärzte sein kurz bevorstehendes Ableben. Als er bis zu seinem vierten Lebensjahr immer noch nicht verstorben war, revidierten sie ihre Einschätzung. Man könne zwar für nichts garantieren, aber unter Einbehaltung einer äußerst strengen Diät würde er vielleicht überleben.
Die obligatorische Studenten-Matratze auf Paletten unter indischen Tüchern, so kam ich auf die Welt. Mit einem Blick, der „so weise“ gewesen sein soll, als habe man bereits „alles auf der Welt schon gesehen". Die Eltern nahmen Anteil an der nach Freiheit strebenden Hippie-Generation. Die Sturm und Drang Zeit der jungen Leute. Beinahe täglich erfand man sich neu. Männer ließen sich die Haare wachsen, Frauen schnitten sie sich ab. Ärzte legten damals auch damals schon sehr viel Wert auf Kundenbindung. Kinder sollten ausschließlich in Krankenhäusern zur Welt kommen. Die Mutter aber blieb hartnäckig bei ihrem Wunsch nach einer Geburt innerhalb der eigenen vier Wände.1 Wütend drohte man ihr mit Konsequenzen.
Das Schreikind. Der Vater versuchte es mit einer Überdosis Körperkontakt, schlief selbst nicht mehr. Wir hielten uns gegenseitig wach. Musste er einmal außer Haus, war die Mutter darüber sehr erleichtert. Sie legte mich in das Torfbettchen, in welchem ich sofort einschlief. Den Papa die Nacht über wach zu halten war ganz schön anstrengend.
Ich begann meine Karriere als schmuckes Ausstellungsstück. Kurze Zeit nach der Geburt schob man mich2 in einem rollenden Nest durch eine Gruppe von Menschen, welche an einzelne Tische verteilt herumsaß. Die Mutter grub mich aus den Kissen aus, hielt mich dann unverhofft einem fremden weiblichen Wesen entgegen:
« Möchtest du sie auch mal halten? Aber ... Vorsichtig! Gaaanz vorsichtig... » raunte sie.
« Oh,… meinst du wirklich? »
Behutsamt nahm die fremde Frau das zerbrechliche Paket entgegen:
« Ohhh, wie süüüß, Oh mein Goott! »
Andächtig hielt sie mich für eine Weile in ihrem Armen, während sie, fast wie eine aufgehende Sonne, in einem hellen Licht zu blühen begann.
« Die Kleine ist ja goldig! Eine richtige kleine Fee! »
Zärtlich stopfte man mich zurück in das Sicherheit spendende Nest.
« Hat die kleine Fee denn auch einen Namen? »
« Nein. Wir haben uns noch nicht entschieden. »
« Wieso das denn nicht? Ihr müsst doch einen Namen für sie haben. »
« Es gibt so viele schöne Namen, wir können uns einfach nicht entscheiden! »
Eine Diskussion über Namen entbrannte.
« Natalie! Jennifer! Jasmin! »
« Fee! Nennt sie doch Fee! Das ist sie. Unsere kleine Fee. »
Meine temporäre Zulassung als Fee war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich wahrhaft geliebt worden bin. Ich war süß, Gummibär, wahlweise Heilige - meine Existenz brachte Glück und Freude ins Leben anderer Menschen.
Unsere Spieluhr - ein Objekt, dessen ich mich eine Zeit lang mit einigem Interesse bediente. Sie bestand aus Holz, hatte die Form einer roten Glocke und war bereits ziemlich abgenutzt. Ein verblichenes, hellgrünes Blümchenmuster zog sich um ihre Mitte. Die Schnur zu ergreifen, um daran zu ziehen, erforderte volle Konzentration. Was es besonders erschwerte, war, dass die Holzkugel am Ende des Bändchens fehlte, welche durch einen kleinen Knoten ersetzt worden war. Nicht zu sprechen und mich damit nicht adäquat mitteilen zu können, erwies sich als eher nachteilig.
Anfangs ging mein Bruder ohne mich kaum allein irgendwo hin.3 In der Regel erwiesen wir uns selbstverständlich als erbitterte Konkurrenten, so wie es sich für anständige Geschwister gehört. Stark über das normale Maß hinaus bemuttert lernte er, dass Unselbstständigkeit sich insoweit lohnte, als dass sich in diesem Fall andere Menschen um seine Belange kümmerten.
1981.
An dem Tag, als Vater fortging, weinte die Mutter sehr. In den folgenden Wochen fragten wir immer wieder:
« Wo ist Papa? Wann kommt der Papa wieder? »
Und immer bekamen wir die gleiche Antwort:
« Er muss arbeiten. Er hat keine Zeit. »
« Aber, aber, wann kommt er denn? Er kann doch nicht immer nur arbeiten! »
« Wenn er mal Urlaub hat. Jetzt geht mir nicht schon wieder damit auf die Nerven! »
Sie wollte nicht, dass wir sie fragten. Wir fragten trotzdem. Woher hätten wir wissen sollen, dass sie ihm nicht erlaubte, uns zu sehen?
Sehr gut kann ich mich noch an die vielen schlaflosen Nächte erinnern, in welchem ihre Streitereien einen stundenlang wach hielten. Natürlich wäre ich gerne zu ihnen gegangen und hätte ihnen gesagt, dass sie sich zusammenreißen und einfach an sich glauben sollten. Dass sie das schon schaffen würden und alles gut werden würde. Da man kleinen Menschen meistens aber nicht zuhört, noch sie im Falle eines Falles ernst zu nehmen pflegt, entschied ich, mich nicht einzumischen. Drei Jahre später wurde die Scheidung rechtsgültig.
Eines Tages brachte meine Mutter einen Fremden mit zu uns nach Hause.
« Kinders, schaut mal her. »
Sie ergriff den großen, fremden Mann an der Schulter, der unbeholfen stolperte, schob ihn nach vorn. Er lächelte schüchtern.
« Das... ist mein neuer Freund ».
Ende der Vorstellung. Dieser Mensch war das neue Familienmitglied.
Schon bald sollte alles anders werden.
Wir zogen in eine Wohnung am Stadtrand. Eine gute Portion Urlaubsfeeling versprechend verfügte sie über Garten, Spielplatz und Balkon. Kreischend vor Vergnügen spielten mein Bruder und ich zwischen Umzugskartons Fußball. Den „Ball“ stellte das nächstbeste unschuldige Objekt dar, welches zwischen den Kartons auf dem Boden herumgelegen hatte - in diesem Fall war es eine kleine, steinerne Zierfigur.4 Schon bald erforderte der dabei produzierte Lärm eine elterliche Radau-Begutachtung. Schon gab es eine mütterliche Kreischerei. Oh, Mann... Was brüllte die denn so? Konnte man denn nicht ruhig und vernünftig mit uns in Kontakt treten? Der Versuch, Widerworte zu geben, ist in einer solchen Situation nicht gerade förderlich. Kaum hatte ich dem Mund aufgemacht, wurde dem ersten Kandidaten wurde bereits mit Schwung die Hose runter gezogen. Fälschlicherweise davon ausgehend, dass die Situation ein solches Verhalten von mir verlangte, lachte ich lauthals los. Eine Prügelei war bislang immer etwas gewesen, wobei traditionell laut gelacht werden sollte. Als ich hörte, wie mein Bruder damit anfing, ganz entsetzlich zu schreien, blieb mir mein Lachen im Halse stecken. Das klang so gar nicht nach lustig. Es ging der Reihe nach. Den Rest habe ich nicht mehr mitgekriegt.5
Um seine Kinder wiederzusehen, musste unser Vater erst einmal vor Gericht ziehen, wo ihm alsbald ein Besuchsrecht zugesprochen wurde. Auch er hatte wieder in die Arme einer Frau gefunden. Erneut: eine Lehrerin! Diese hier wohnte in einem kleinen Häuschen auf dem Land.6
Wir waren eine reisefreudige Familie. Während einer unserer Urlaube geschah es: ich fiel vom (seitlich ungesicherten) Hochbett. Dem Aufklatschen meines Gesichts nach zu urteilen wies das Regal, auf dem ich landete, fünf Ebenen7. Endlich unten angekommen, entschied ich trotz dem als intensiv zu bezeichnenden Schmerz, auf lautes Gezeter nach Möglichkeit zu verzichten. Das obligatorische Gebrüll saß mir zwar direkt in den Backen, aber: weckte ich das Muttertier mitten in der Nacht, wäre es sehr genervt. Also entschied ich, einfach nur schnell weiterzuschlafen.
Wie üblich hatten das Brüderchen und ich zuvor endlos darum gerungen, wer seinen Besitzanspruch auf die privilegiert erscheinende obere Etage des Doppelstockbetts für sich vermelden durfte. Am Ende hatte man sich mit Hilfe der Eltern darauf geeinigt, beide Teilnehmer auf der oberen Ebene einzuquartieren So brauchte sich niemand benachteiligt zu fühlen, das wurde akzeptiert. Anscheinend schaffte es auch das Brüderchen, in dieser Nacht vom Bett zu fallen. Im Gegensatz zu mir versäumte er jedoch nicht, die Erwachsenenwelt darauf aufmerksam zu machen. Da ich sein Gezeter offenbar verschlafen hatte, gehe ich davon aus, dass er zunächst ins elterliche Schlafzimmer gelaufen sein wird, bevor er sein Tarzangeschrei losließ.
Als sei, aus dem Bett zu fallen, eine ganz besonders krasse Heldentat, entwickelte sich dieser nächtliche Ausrutscher am morgendlichen Frühstückstisch zum Gesprächsthema Nummer Eins. Ich staunte: was für ein lustiger Zufall! Lachend berichtete nun auch ich, in dieser Nacht ebenso aus dem Bett gefallen zu sein.8 Nur machte mich das jetzt gar nicht zu einem Helden, sondern zu einer Abartigkeit. Auf einmal war, aus dem Bett zu fallen, ein Verbrechen, welches ich begangen hatte.
« Ach, Kind »
Tiraden-Alarm.
« Du musst doch nicht immer gleich eifersüchtig sein! »
Hatte ich mal wieder irgendwelche Frühstückutensilien nicht gerecht geteilt? Panisch sah ich mich um. Normalerweise war dies meines Bruders Hauptspezialität. Aber man konnte ja nie wissen!
« Häh? »
« Was bist du nur für ein..., Jetzt hör aber auf. Du kannst deinem Bruder ruhig auch mal etwas gönnen, weißt du? »
Wovon redete sie?
« Was? Warum? »
Missbilligendes Schweigen.
« Was meinst du? Was hab ich denn gemacht? »
Ich blickte mich nach der Missetat um. Den zurückgebliebenen Krümeln auf dem Tisch ließen sich keine Informationen entlocken. Dies verlangte nach einer Erklärung! Den Tag, der gerade durch die Fenster zu scheinen begann, wollte ich schließlich noch genießen. Wir bewohnten gerade, urlaubsmäßig voll professionell, ein Ferienhaus direkt am Meer. Dies war der eine wichtige Faktor. Der andere sollte sein, sich von nichts die Laune verderben zu lassen.
… aber scheinbar hatte man just in diesem Moment - wenn auch, ohne mich vorher darüber zu informieren – plötzlich beschlossen, keine Kommunikation mehr zu betreiben. Auf Antwort sehr gespannt verharrte ich in dieser verwirrenden Situation, die ich nur zu gerne zu durchschauen fähig gewesen wäre. Alles blickte solidarisch schweigend, die Augen niedergeschlagen, auf den Tisch. Was war nur los? Der sich darbietenden Sinnlosigkeit ein Ende setzend stand ich auf. Meine Entscheidung entsprach einem Konsens. Stühle rückten. Das Frühstück galt auf einmal offiziell als beendet.
Gemeinsam schweigend räumten wir das Geschirr ab. Meine Gedanken drifteten zu den uns noch verbleibenden Urlaubstagen. In diesen wollte ich soviel Zeit wie nur möglich am Strand zu verbringen.9 Hoffentlich schien weiter so die Sonne - dann wäre alles, wie es in einem richtigen Urlaub zu sein hatte. So, wie andere Kinder aus der Schule es im morgendlichem Stuhlkreis erzählten. Was hast du am Wochenende/ in den Ferien/ etc. gemacht? Keiner sprach jemals von Regen, anstrengend weiten Wanderungen in den Bergen oder gar Hausarbeiten, die er zu erledigen hatte. Es gab in dieser Welt anscheinend ausschließlich Strände und Sonnenschein. Würden wir jetzt einmal einem richtigen Urlaub erleben? Ohne Matschpfützen, durch die man stundenlang begeistert stapfen konnte (alle verzogen angewidert das Gesicht), ohne die-Äpfel-für-den-Kuchen-selber-pflücken oder einen kalten Arsch im Nieselregen. Einmal nicht das erklärte Ziel für Getuschel und Gelächter zu sein, wäre gut. Was ich nach den Ferien brauchen würde, wäre ein makelloser Einwand-frei Sonne-und-Strand Urlaub, von dem ich berichten konnte, ohne dass man vor lauter Abscheu die Luft anhielt, sich abwandte und hinter vorgehaltener Hand kicherte, bis ich wieder aufhörte zu sprechen.
« Ach kommt her » meinte das Muttertier plötzlich,
« Du möchtest halt auch mal ein bisschen Aufmerksamkeit! »
Mit ein paar schnellen Schritten kam sie unverhofft auf mich zu, strich mit der Hand derbe über die nächtliche Regalkollision meldende Wange. So, wie es sich anfühlte, war diese geschwollen. Automatisch floh ich die Berührung, hielt mir schützend die Hand vor das Gesicht.
« Auh! »
Und schon wieder hatte ich etwas falsch gemacht. Angewidert wich sie vor mir zurück:
« Jetzt, ... da hört sich doch alles auf. Du undankbares Kind! Was ist eigentlich los mit dir! »
« Aber, aber, ich... » startete mein Protestsong.
Meine Gedanken überschlugen sich: Wofür sollte ich denn jetzt umständliche Dankbarkeitsrituale aufführen? Hatte ich schon wieder etwas nicht verstanden!? Fürs Weh-tun gab es doch ganz andere Rituale! Eigentlich musste sie sich dafür bei mir entschuldigen! O-wei. Welches Ritual war in diesem Augenblick denn wichtig, welches konnte warten?
« Ach, sei still... Warum musst du immer lügen? »
Warum warf man mir vor, zu lügen? Und dann auch noch, immer zu lügen? Sollte ich mich gegen diese Ungerechtigkeit zur Wehr setzen, drohte mir die wahrscheinlich schlimmste aller Maßnahmen: ein Donnerwetter. Also blieb ich still und zog mich lieber nur zurück.
Im Verlauf des Tages wurde mir bewusst, dass diese Art der Behandlung durch mein soziales Umfeld Grund zur Traurigkeit darstellte. Vor dem Spiegel stehend betrachtete ich das komische Ding darin. Ordnungsgemäß sollte es jetzt den Strand, Sonne, Sand und Wasser genießen. Aber die Welt war kompliziert. Hoffentlich merkten die anderen Kinder in der Schule nichts. Sonst würden sie mir nicht glauben, wenn ich damit an der Reihe war, diesen Vorzeigeurlaub vor Publikum wiederzukäuen. Wir hatten Glück: Sie schien tatsächlich eine ganze Woche lang.
Bereits im Kindergartenalter schalt man mich "verhaltensauffällig". An Spielen innerhalb der Gruppengemeinschaft nahm ich nur insofern teil, als von meiner Unfähigkeit, meine eigene Rolle darin zu begreifen, genervt herumzustehen. Versuchte ich mich irgendwo mit einzubringen, wurde ich als sozial amputiert vorgeführt. Selbst simple Spiele wie "Fangen" waren mir zu kompliziert. Es hatte etwas damit zu tun, wegzulaufen. Soweit, so gut. Dass es aber vor allen Dingen darauf ankam, überzeugend das arme Opfer zu spielen und dabei den Jagdtrieb des Fängers anzustacheln, verstand ich nicht. Derweil alle anderen kreischend umadum rannten, stand ich bloß Ölgötzenfeil. Das muntere Treiben ärgerte mich: Es war so unlogisch! Mich zu fangen, wäre so einfach gewesen! Ich lief ja gar nicht erst weg! Wieso wurden ausschließlich nur hingebungsvoll all jene gejagt, die so verdammt schwer zu erwischen waren? Von einem Spiel, welches alle spielten, ausgeschlossen zu werden, fühlte sich für mich so an, als wolle niemand etwas mit mir zu tun haben.
"Spielen".
Ganz allgemein bedeutete das nicht nur unberechenbares Gewusel, sondern ging auch mit einem sehr hohen Lärmpegel einher. Es gab schönere Beschäftigungen: Lagen bunte Zeitschriften herum, konnte man darin blättern. Das weiche, sanft raschelnde Papier glänzte im Licht. Es fühlte sich schön an, mit den Fingern über die Seiten zu streicheln. Malen war angenehm, still und entspannend. Dabei saßen zwar manchmal andere Kinder neben einem, trotzdem war jeder ganz auf sich konzentriert. Die Liebe meines Lebens: Bauklötze. Tat ich, was ich gern tat, fühlte ich mich dabei wohl. Versuchte ich mich in dem, was die anderen taten, stellte es einen hilflosen Versuch dar, der grundsätzlich fehlschlug, was frustrierte.
Schnell merkte man, das mit mir etwas nicht zu stimmen schien. Eine nützliche Erkenntnis, um Schabernack zu treiben: Trug man mir etwas auf, nahm ich die Dinge wörtlich und gehorchte. Einmal befahl man mir, mich an den Fuß eines Hügels zu begeben, weil es dort angeblich spukte. Ich dürfte erst dann wiederkommen, wenn ich „den Geist gesehen“ hätte. Ich glaubte nicht diesen blöden, kettenrasselnden Spielplatzhuibuh, vor dem sich angeblich alle so sehr fürchteten.
« Ach Quatsch. Was soll das für ein Geist sein? So etwas gibt es doch gar nicht. »
« Doch... Den gibt es. »
« Ich will aber nicht. »
« Du musst. »
« Ich habe aber keine Lust. »
« Doch. Und, hörst du? Du wirst soo lange dort sitzen bleiben, bis er kommt. »
« Da kommt aber keiner! »
« Doch, der Geist. »
« Nein. »
« Hör mir mal zu. » kam es bedrohlich.
« Er kommt ganz bestimmt. Begreifst du das? Und du darfst erst wiederkommen, wenn du ihn gesehen hast. Hast du das verstanden? »
« Ja, Okay. »
Das verstand ich nicht. Wozu übertrug man mir Aufgaben, die keinen Sinn ergaben? Da saß ich nun und überlegte angestrengt, wie viel Zeit ich damit verbringen müsste, dort zu sitzen, bis man mich aus dieser vertrackten Situation (auf einen Geist warten zu müssen, den es gar nicht gab) erlösen würde. Ob es Okay war, das Am-Fuße-des-gefährlichen-Geisterhügels-sitzen abzubrechen, wenn die Mutter kommen würde, um mich abzuholen? Bis dahin waren es noch geschlagene zwei Stunden! Würde ich am nächsten Tag wieder dort sitzen müssen? Vielleicht sogar die ganze Woche? Oder sogar zwei? Welch deprimierende Aussichten. Langsam entwickelte sich die Idee des wohlüberlegten Ungehorsams. Ich schielte nach meinen Befehlshabern. Sie waren gerade sehr damit beschäftigt, ihrer totalitären Spielplatzherrschaft nachzukommen. Heimlich stahl ich mich davon.
Einmal anderes Mal befahl mir ein deutlich älteres und kräftigeres Mädchen, ich solle meine Hose herunterziehen. Das war ein doofes Spiel und ich mochte es nicht, aber sie insistierte. Also tat ich es. Daraufhin warf sie sich auf mich und begann mich (ungeachtet meines lautstarken Protestes - sie hielt mir den Mund zu) mit einem Spielzeug zu penetrieren. Die anderen Kinder sahen, davon sichtlich beeindruckt, zu. Da ich es als ein reichlich unangemessenes Spielverhalten wahrnahm und es in mir eine Angst vor weiteren solchen Übergriffen auslöste, versuchte ich hinterher eine Erzieherin darauf aufmerksam zu machen. Diese hörte mir gar nicht erst zu. Sie reagierte sehr ungehalten: Ich solle ihr doch nicht „auf die Nerven gehen“. Diese Pädagogin taufte ich zur Strafe lautstark in "Schrotthaufen" um. Erfahren hat von diesem Vorfall nie einer, - wohl aber davon, dass ich ungehöriges Kind Erzieherinnen beschimpfte. Seitdem war ich geächtet. Man sprach nicht mehr mit mir,10 sondern tuschelte nur noch, sobald ich in die Nähe kam.
Um in die Spielecke des Kindergartens (zu meinen geliebten Bauklötzen) zu dürfen, forderte ein älterer und recht kräftiger Junge mich auf, seine Schuhe von unten abzulecken. Ich tat, wie mir geheißen, auch, wenn es mir unangemessen erschien, dadurch möglicherweise Dreck in den Mund zu bekommen. War das nicht etwas, was die Eltern immer als "bäh" bezeichneten? Und war "bäh" nicht auch etwas Abscheuliches? Warum mochte ich die Art und Weise, in der er mit mir sprach, nicht? Trotzdem wirkte das Versprechen, mit meinen heißgeliebten Bauklötzen spielen zu dürfen, verlockend. Vor ihm auf dem Rücken liegend, schaute ich ihn erwartungsvoll an. Die anderen Kinder sahen zu. Die Aufgabe war erfüllt.
Weiterhin hielt er mir seinen Schuh ins Gesicht:
« Und, wie ist die Luft da unten so? Macht das Spaß? Und?? Wie gefällt dir mein Schuh? Gut, ja?? »
Oha. Wieso fragte er jetzt so viele Fragen? Wie kompliziert! War die Luft am Boden anders? Schnell zwei tiefe Atemzüge, um das zu überprüfen. Sie schmeckte nicht deutlich anders, atembar schien sie auch. Kein Unterschied festzustellen. Und sein Schuh? Naja, gefallen tat er mir nicht..., zu altmodisch - immerhin sauber. Er sah aus wie neu, roch nach Leder. Ich nickte.
« Ja. »
Damit war er immer noch nicht zufrieden und dachte sich direkt wieder etwas neues aus.
« Siehst du die Ameisen darauf? » fragte er mich nun lächelnd.
Eine neue Aufgabe stellen zu dürfen, war nicht ausgemacht gewesen. Ameisen finden? Das barg ungeahnte Konsequenzen! Was würde passieren! Was wurde aus der Verabredung mit der Spielecke? Ok. Es war Sand an seinen Schuhen. Wo Sand war, da waren auch Ameisen. OMG. Hatte ich vielleicht versehentlich eine abgeleckt oder sogar verschluckt? Bei der Vorstellung verspürte ich direkt das Bedürfnis, meine Zunge mit den Fingernägeln bearbeiten und versehentlich abgeleckte Ameisen herunterzukratzen. Vorsichtig nickte ich. Versuchte mich überfordert darin, zu lächeln. Nicken und lächeln. Meistens funktionierte das. Die Erzieherinnen kamen zurück. Schnell nahm der Junge seinen Schuh von meiner Brust und ging lachend zu seinen Freunden. Trotz allen gezeigten Einsatzes nicht zu meinen Bauklötzen zu dürfen, kommentierte ich lautstark. Die Mutter erschien auf der Bildfläche. Kindern braucht man nicht zuzuhören.
Bald bot ich jeder Anordnung genau so lange die Stirn, bis sich mir ihr tieferer Sinn wenigstens einigermaßen erschloss. Das machte die Sache leider auch nicht einfacher. Befehle sind grundsätzlich dazu da, ihnen Folge zu leisten. Verstehen gehört in der Regel nicht mit zum Auftrag. Die Welt macht aus Kindern gern kleine Soldaten. Erwachsenendasein wiederum verwechseln viele mit zur Schau gestellter Aggression. Der Gewaltbereiteste hat das Sagen. Junge Rekruten gelten nur dann als gute Rekruten, sofern sie Befehle ausführen, ohne diese zu reflektieren oder gar verstehen zu wollen. Von diesem Schema abzuweichen wird bestraft. Ist der eigenständig arbeitende Wille erst gebrochen, erfolgt der Gehorsam. Genau das funktionierte bei mir nicht.
Den Vorgang, bei dem einem das Überlegen-bevor-man-etwas-tut ausgetrieben wird, nennt man „Erziehung“. Ein „guter Mensch“ fragt nicht nach. Da ich dieser Erwartung nur selten gerecht werden konnte, musste „Erziehung“ bei mir lebenslänglich zum Einsatz gebracht werden. Ein „guter“ Soldat soll keine Fragen stellen. Mein persönlicher Ungehorsam stellte jedoch keinen blinden Opportunismus dar, so wie es immer wieder gern unterstellt wurde. Im Gegenzug zu einem Mangel an Unterwürfigkeit wuchsen Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein, welche sich langsam, aber sicher, gegen Kontrollwahn und Gehorsamkeitsverpflichtungen durchsetzten. So gelang es, die Erwachsenenwelt zu erziehen. Das Zimmer war aufgeräumt, an der Hausarbeit wurde sich stets im gewünschten Ausmaß beteiligt. Gab es eine -nachvollziehbare- Aufforderung, erfolgte daraufhin die Anpassung.
Das Erlebte zu analysieren, half, über ein gutes Gedächtnis zu verfügen.11 Erinnerungen gab es an: Windstärke und Richtung, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Gerüche, den Zustand von in-der-Ecke-aufgestellten-Blumensträußen, Anzahl von im-Raum-herumfliegenden Stubenfliegen, innere sowie äußere Dialoge, Klangmuster, Bewegungsabläufe, sensorische Trigger. Ging es darum, die Menschen um mich herum zu verstehen, brachte diese Fähigkeit allerdings kaum weiter. Situationen, in denen ein gewünschtes Verhalten zu zeigen verlangt war, überhaupt erst als solche zu erkennen, stellte ein großes Problem dar. Parallel dazu sorgte eine diffuse Angst vor Übergriffen für Anpassung an den Stellen, an welchen ein Verständnis vollkommen fehlte. Sag Bitte, gib dem Herrn die Hand, mach einen Knicks, lächeln! Man sagte missmutig "Bitte", streckte seinen Arm aus, ohne sich die darauffolgende ritualisierte Berührung mit der fremden Gewalt zu erhoffen, beugte in unechter Demut das Haupt vor Menschen, die man nicht kannte (oder gar respektierte) und schnitt Grimassen vor Publikum.
Die offensichtlich dringende Notwendigkeit, sich den gesellschaftlichen Vorstellungen nach, wie man zu sein hatte, angepasst zu verhalten. Wie das wohl funktionieren sollte? Als blinder Befehlsempfänger sei man auf genau der richtigen Seite, wird einem glauben gemacht. Alles klar. Leider gestaltete es sich auch so, dass Befehle unsichtbar waren. Also sollte man nicht nur blind sein, sondern auch Unsichtbares sehen. Des befohlenen Gültigkeit bestand ungeachtet der Tatsache, dass es gar nicht erst ausgesprochen oder gar erklärt wird. Obwohl es mir im Verlauf der Zeit gelang, einiges davon zu entschlüsseln, waren die am-längeren-Hebel-Sitzer auch damit nicht zufrieden zu stellen.12
Ein Fluch.
Wenn es eines gibt, was ich in meinem Leben gelernt habe, dann war es das: Ich kann mich bemühen, wie ich will und dabei ist es auch vollkommen egal, wie sehr:
ICH- KANN- EINFACH - NICHTS - RICHTIG - MACHEN
Allein bei dem Versuch, sich anzupassen, ging regelmäßig noch mehr schief.13 Der mir hierbei unterstellte Vorsatz animierte zu besonders aufgeprägter Feindseligkeit. Absichtliches Fehlverhalten musste besonders hart bestraft werden. Gnadenlos. Und bei mir jagte ein unerfolgreiches Konzept das nächste, während der Lohn für das Ringen um Integration auf ewig der gesellschaftliche Unmut und Frustration darstellten.
Nach der Einschulung wurde in der Schule weiter gehänselt und gequält. Der Mutter Annahmen, dies seien "die dummen Katholiken", welche einfach nicht damit leben könnten, dass ich nicht getauft sei, waren falsch. Es lag sicherlich nicht am mangelhaften Katholizismus des Elternhauses oder dem übertriebenen Katholizismus der Grundschule. Offensichtlich zurückgeblieben zu sein stand im krassen Gegensatz zu meiner hohen Auffassungsgabe. Das „zerstreute Professor Syndrom": Jemand, der mit Schlafanzug, Gummistiefeln und fettigen Haaren aus der Tür geht und dann aber nicht nachvollziehen kann, warum man ihn dafür auslacht. Mobbing lernen die Schüler in der Grundschule noch von den Lehrern, sogar deutlich schneller als Mathematik. In einer Gesellschaft wie dieser, in welcher die ganz besonders Rücksichtslosen sich auf dem breiten Rücken einer fleißigen Mitläufergesellschaft nieder,- und von ihr tragen lassen, entwickelt sich gegenüber den aus-der-Reihe-Tanzenden übertriebene Aktivität. Als käme die Feststellung, dass die Natur einen jeden von uns als Individuum erschaffen hat - einer Bedrohung gleich, welche plötzlich Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung rechtfertigt. Survival of the Fittest? Nein. Survival of the Arschloch.
Angst und Aggression liegen so nah beieinander. Was liegt Menschen (und, ja, auch Kindern) näher, als ihre Emotionen unkontrolliert und ungehemmt am Nächstbesten auszulassen? Richten Früchte der Frustration sich obendrein gegen jemanden, der sich nicht zur Wehr setzen kann, ist der Erfolg eines solchen Unterfangens garantiert. Ich will schlagen, kann aber das Echo nicht vertragen? Man nehme sich einen deutlich Schwächeren zur Brust.
Was tun? Siegen durch Nachgeben? Ein wütender Stier lässt sich von einem hingeworfenen Handtuch nicht aufhalten. Eine in Panik geratene Herde auf der Flucht auch nicht. Dem Mob die andere Wange hinhalten? Viel Erfolg!14 Verteidigung und Selbst-Schutz stellten sich hier leider als verpflichtend heraus. Der Hack-Ordnungs-Status. Außerhalb dieser anerkannten Muster sind Marionettenmenschen orientierungslos, was sie, nicht nur als Einzelne, sondern auch als Gruppe, in außerordentlichen Stress versetzt. Deshalb ist es wichtig, einen jeden Teilnehmer unserer Gesellschaft in ein solches Raster hinein zu verpressen. Ich beherrschte aber weder die Rolle des Alphatierchens, noch die üblichen Versager und Mitläuferrollen, welche in unserer Kultur zu den Basics gehören. Die gesellschaftliche Angst suchte hier ihren Halt in der Wut.15
Der Möchte-Gern-Alpha.16 Diejenigen, welche in der Hackordnung17 ganz unten zu stehen scheinen, besonders gerne zu verdreschen, ist unter jenen, die gern "etwas zu Sagen" hätten, weit verbreitet. Den Status des Ton-Angebers, vermeintlich privilegiert, betrachten sie als erstrebenswert. Das Risiko, selbst auf die Fresse zu bekommen, gehen aber auch Arschlöcher nur ganz selten ein. Hier droht der Statusverlust18. Deshalb kann, auch aus vollkommen nichtigen Anlässen heraus, urplötzlich um Gedeih und Verderb gekämpft werden.19 Hack-Ordnungsrangeleien gehören zu den Dreckigsten überhaupt - Abgründen menschlichen Verhaltens scheinen hier keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Eine potentielle Gegenwehr bereits im Keim zu ersticken, scheint aus diesem Grunde nur recht und billig. Für manche von uns entwickeln sich diese Verhaltensweisen aus einer anfänglichen Notwendigkeit heraus im Verlauf ihrer Existenz zu einer ganz eigenen Form der Kommunikation: Verspricht ein asoziales Verhalten Erfolg, scheint es nicht nur legitim - sondern stellt auch ein sich selbst belohnendes Verhalten dar, das zur Routine wird..
Jede Münze hat zwei Seiten. Gegenspieler: Hingabe und Liebe. Für manche ist sie die zu einem Lebensgefährten, Kind, Familie, Freund oder Haustier, die zu hüten, pflegen und zu beschützen ihr Leben bereichert. Manche lieben ihren Beruf oder ein erfüllendes Hobby. Auch ein wacher Verstand, der allzu primitivem Verhaltensweisen keine Bedeutung beimisst, kann sich erfolgreich gegen Status-Ticker wehren. Diese Tatsache fordert nicht nur den Neid heraus, sondern bedroht ganz offenbar des Möchtegern Status (Macht), gefährdet seine Sicherheit (Überleben) und beraubt ihn seiner Lust. Ein MGA hat es darum immer auf die positiven, uns motivierenden Gefühle abgesehen, deren Zerstörung mit dem eigenen Überleben gleichsetzt werden. Ein ewiger Krieg, welcher sich durch die gesamte menschliche Geschichte zieht.
Wahre Stärke speist sich nicht allein aus der Hörigkeit einer unterwürfigen Armee von einander nach dem Mund redenden Mitmenschen - oder dem Hobby, andere in erniedrigten Positionen zu sehen, um sich daraufhin besonders groß vorzukommen. Sie findet sich darin, in sich selbst zu ruhen. Der Fels in der Brandung ist nicht deshalb Fels, weil er sich durch Wellen und Sturm aus der Ruhe bringen lässt. Da solche Menschen sich aber nie in den Vordergrund spielen, findet man sie nur selten in den genau dafür vorgesehenen Führungspositionen. Um diese reißen sich die MGA´s, welche allerdings nur das Ziel verfolgen, sich aufgrund ihrer vermeintlichen Macht,- und Statusposition auf Kosten anderer zu bereichern.
Alphas bestimmten - wer in ihrer Mitte zu massakrieren gerade offiziell ausgewiesen war. Wie geschaffen dafür, ein Feindbild zu bekleiden, war mir eine Existenz als Punching-Ball vorgesehen. An solche wie mich schien man sich immer dann zuverlässig zu erinnern, wenn gerade eine Rakete abgefeuert werden musste, ein Prügelknabe erforderlich & Exempel zu statuieren war. Als Rechtfertigung dafür, sich an anderen zu vergreifen reichte bereits, miese Laune zu haben. Wer leidet,20 darf nicht zulassen, dass andere Menschen sich in ihrer Haut wohlfühlen! Das stille Lebensglück des einen stellt hier bereits eine Provokation für den anderen dar.
Uneingeschränkte Macht/ Weltherrschaft zu demonstrieren, schien es erforderlich, sich exemplarisch ganz besonders grausam aufzuführen. Die einzige Notwendigkeit: ein Publikum aus rückradlosen Versagern um sich zu scharen. War die Demonstration geglückt, gab es in der Regel niemanden mehr, der sich mit dem MGA anzulegen bereit gewesen wäre. Jemand, der Angst und Schrecken zu verbreiten vermag, ist definitiv über jeden Zweifel erhaben. Kinder sehen, Kinder lernen, Kinder wenden an. Das ist unser Leben. Jeder, der begreift, wie man sich durch gezielte Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft einen vermeintlich als privilegiert zu betrachtenden Platz sichert, findet im Rahmen dieser unausgesprochenen, aber doch allgegenwärtigen "Ordnung" seinen Platz: Entweder gehört man zu denjenigen, welche sich mit unlauteren Methoden den Platz an der Sonne erstreiten (First Class) oder man bekommt den zweitbestesten Platz (den des Mitläufers/ Nicht-Täters/ Windschattenfahrers/ Beifall-Klatschers und/oder Wegguckers).21 Solange sich diese Verführer auf die starken Schultern ihrer Mitläuferfraktion verlassen können, wird es das Recht des Rücksichtslosen sein, welches unsere Welt regiert.
Gaaaanz weit darunter befand sich die Klasse, zu der ich mich zählen durfte: die Unberührbaren. Als Mittel zum Zweck zwar durchaus von Bedeutung, also nicht gänzlich unnütz, schien ich aber nach dem jeweiligen Einsatz nicht weiter von Relevanz. Ich lernte also, nur dann real zu existieren (und das auch nur als Buhmann für alles und jeden), wenn an mir jemand seine Überlegenheit demonstrieren wollte. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen schien grundsätzlich mit Gefahren verbunden. Unsichtbar blieb man zumindest von der hasserfüllten Missgunst der breiten Mitläuferfraktion verschont, da einen um diese Position niemand beneidete. Für breite Masse schien ich noch weit weniger Mensch als für die MGA´s, die auf ihre Prügelknaben ein Stück weit angewiesen sind.22 Sich mit mir zu solidarisieren brachte den, der es versuchte, in Gefahr, degradiert zu werden. Mitläufer redeten den MGA´s nach dem Mund, gesellten sich unter jeder beliebigen Fahne.23 Außer dem, welches gerade offiziell erlaubt war, hatte man kein Gehirn zu haben. Änderte der MGA die Regeln, segelte alles stante pede hinterher. Ein Innehalten zum Zwecke der Selbstreflektion ist unter Mitläufern stets verpönt.
Richtig kriminell wurde es, wenn die Menschen erst um drei bis fünf Ecken herum mussten, um sich mit anderen auseinander zu setzen.24 Statt einander aufrecht und, -richtig zu begegnen, wurden eifrig die Spinnweben der Intrigen gesponnen. Dafür versteckten man sich hinter den göttergleich bekniefallten Autoritäten. Stufe zwei des Mobbing stellte dar, aus diesem Windschatten heraus zuzuschlagen. Der Alpha war der Alpha, den hatte niemand in Frage zu stellen. Sakrileg! So wurde von klein auf gelernt: Von oben einstecken, nach unten austeilen! Das ist erlaubt,- alles andere jedoch nicht.
Ich erinnere mich an all die lustigen Spielchen, die sich die besonders gewitzten Kinder ausdachten, weil ich einfach dumm war. Machte sich mal einer die Mühe, auf mich zuzugehen, ließ ich mich, dafür äußerst dankbar, auf eine ganze Menge Zweifelhaftes ein. Da man es als "Spiel" tarnte, erkannte ich nicht, wenn sie absichtlich grausam zu mir waren. Lachte irgendjemand mich aus, lachte ich mit. Ich war ein Idiot! Das Geräusch von Gelächter war mir zwar vertraut, dieses gehässige, brutale aber ließ die Kopfhaut kribbeln.
Nur in den Büchern, die ich las, gab es Glück. Eines, welches in der realen Welt nicht zu finden war.25 Mein erster Roman, "Die rote Zora"26 war bald geschafft. Die Stadtbibliothek Köln wurde zum Kinderspielplatz umfunktioniert. Als ich Neun Jahre alt war, kam einmal ein Kamerateam vom NDR an unsere Schule: Man interviewte die Mädchen, wie ihr zukünftiger Traummann auszusehen hätte, welche Eigenschaften er haben sollte. Als ich mit meiner Familie später die Sendung im Fernsehen ansah, hatte man von unserer Schule nur ein einziges (neunjähriges) Mädchen ausgewählt. Mit todernstem, selbstbewussten Blick sagte es zu den Zuschauern:
« Mein Traummann soll sein wie Friedrich Schiller. »27
Das Muttertier sagte, ich sei meiner Entwicklung um "mindestens zwei Jahre voraus". Wo war ich denn bitte voraus? Lag es vielleicht daran, dass ich so viel las? Ich las einfach alles: Zeitungen, Bücher, Inhaltsstofflisten von Zahnpasta, Waschmittel, Shampoo, Beipackzettel von Medikamenten, Verpackungen von Nahrungsmitteln, Straßenschilder, Gebrauchsanweisungen (trotz eines Mangels an Verständnis auch gern in verschiedenen Sprachen) Telefonbücher, Songtexte, Lexika, Comics, Kinderbücher. Es machte mir Spaß, Fahrpläne auswendig zu lernen. Aus einem Interesse heraus begann ich irgendwann damit, mithilfe von ewigem Herumblättern in antiquierten Wörterbüchern englischsprachige Texte zu übersetzen.28
Das Mutterier verausgabte sich mit all ihrer Energie im Kampf für das Gute in der Welt und war nahezu permanent in erhitzte Gefechte mit irgendjemanden gegen irgendetwas verstrickt. An den Vater-Wochenenden hingegen gab es viel Ruhe, Liebe, Natur und freie Zeit. Wenn nach der langen Autofahrt das ersehnte Ziel in erreichbare Nähe rückte, stimmten wir Kinder vor lauter Verzückung über das bevorstehende Wohlgefühl von Erholung und Geborgenheit ein Begrüßungslied an. Es gab auch ein dementsprechendes Abschiedslied, in welchem unsere Sehnsucht zum Ausdruck kam, die wir, wie wir wussten, in unserer Abwesenheit empfinden würden. Unsere Lieder versprachen, es - das schöne Land - ganz fest in unserem Herzen zu verwahren, bis wir in baldiger Zukunft wieder zurück kommen würden.
Plötzlich sollte ich darüber entscheiden, ob wir zum Vater ziehen wollten. Wenn auch es das krasse Gegenteil von dem war, was ich empfand: Ich entschied dagegen. Als ich ihm meine Entscheidung bekannt gab, reagierte mein Bruder mit unverhohlenem Entsetzen:
« Bist Du bescheuert? » fragte er mit einer vom Leid verzerrten Miene.
Wären wir gegangen, hätte es unserer Mutter das Herz gebrochen. Das wusste ich und konnte es nicht verantworten. Hätte ich in dem Moment im eigenen Interesse entschieden, wäre sie vielleicht daran zugrunde gegangen. So entschied ich (in diesem Fall für uns beide), für eine Zukunft mit dem darin für uns bereit stehenden Leid. Als Begründung für diesen Entschluss führte ich die angebliche "Angst vor dem Verlust der gewohnten Umgebung" an, welche nun wie geplant keiner in Frage stellte. Wir hielten durch und wuchsen weiter mit den für die damalige Zeit üblichen Erziehungsmethoden29 auf.
Als ich älter und damit auch reifer wurde, fing ich an, mich aufgrund des von mir in der Situation empfundenen seelischen Leids selbst zu verletzen. Durch den Schmerz war ich dazu in der Lage, den psychischen Druck in einen physischen Schmerz abzuleiten, wodurch ein beruhigender Effekt erzielt werden konnte. Es dauerte aber nicht lang, bis ich mir Gedanken darüber machte: Dieser Form der Problemlösung ging die Dinge nicht an ihrer Ursache an. Das war blöd. So konnte es nicht weiter gehen.
Nach reichlicher Überlegung sprach ich zuerst mit unserem Vater, um daraufhin zum ersten Mal in meinem Leben in einer traumatisiernden Dafür-bin-ich-nicht-zuständig Warteschleife zu landen.
« Da kann ich auch nicht weiterhelfen. »
« Was? Aber warum denn nicht?? »
« Mit eurer Mutter kann man nicht reden. »
« Aber das stimmt doch gar nicht! Wir reden doch auch mit ihr, jeden Tag! »
« Naja, das kann schon sein, aber ich kann nicht mit ihr reden. »
Wie, er konnte nicht mit ihr sprechen? Ich stellte mir das live vor. Wenn Sie sich trafen. Und was machte er dann statt dessen? Schweigen? Und was machte sie dann? Zurückschweigen? Bei der Vorstellung musste ich beinahe lachen. Wollte er mich verarschen? Nein. So etwas tat er nicht.
Ich insistierte:
« Ach doch, das geht, … ganz bestimmt. »
Musste ich es ihm etwa beibringen? Sprechen konnte er doch! Was war denn da los?
« Nein! Ich habe es ja versucht! Immer wenn ich mit ihr ein Gespräch anfange, rastet sie gleich aus. »
« Wie, rastet aus... ? »
Ein Schloss eines Koffers oder einer Tür konnten ein, und wahrscheinlich auch ausrasten. Aber was hatte das denn jetzt mit der Mutter zu tun?
« Naja, sie erzählt halt irgendwelchen Blödsinn, schreit die ganze Zeit herum. Das kann einem richtig Angst machen, so, wie sie sich immer aufführt. Ich kann nicht einmal im Bezug auf Kleinigkeiten vernünftig mit ihr reden. Das ist ihre Reaktion auf alles, was mit mir zu tun hat. »
Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Na so ein Mist...
Insgeheim beschuldigte ich ihn, sich nicht richtig für uns Kinder zu interessieren. Das war nicht in Ordnung! Einerseits schien das Thema nun für ihn erledigt zu sein, und, was erschwerend hinzukam: er hatte uns ja auch schon einmal im Stich gelassen.30
« Und wenn wir nun vielleicht doch zu dir ziehen? » fragte ich zaghaft.
« Nein. Das geht leider nicht. Du weißt ja, ich habe jetzt eine neue Freundin. Und die hat gesagt, sie möchte keine Kinder haben. Jaa, und ohne ihr Einverständnis kann ich da erst mal nichts machen. »
Hallo? Was kann denn da noch wichtiger sein als wir, seine Kinder! Außerdem: Was für eine unsympathische Person! Die sollte er lieber mal ganz schnell in die Tonne kloppen. Warum erkannte er das nicht selbst? Ihm vernünftiges Denken erst noch erklären zu müssen, war mir unangenehm. So etwas mochten Erwachsene nicht.
« Ist doch ganz einfach: Wir ziehen zu dir! »
« Nein, so einfach ist das leider nicht. »
« Warum denn nicht !!? »
Nachdenklich schwieg er vor sich hin.
« Man könnte vielleicht zum Jugendamt gehen, aber... das halte ich für keine so gute Idee. Die stecken Euch dann nachher noch in ein Heim... Weißt du was? Ich werde mal versuchen, mit meiner neuen Lebensgefährtin zu sprechen. Vielleicht kann ich sie ja überreden, dass sie es sich noch einmal anders überlegt. Aber eins muss klar sein! »
Bedeutungsvoll erhob er den Zeigefinger in die Luft:
« Ich kann nichts versprechen! »
Dieses abendliche Gespräch zerschlug meine letzte Hoffnung. Nun war an diese Stelle ein Schmerz getreten, der mich von innen her auffraß. Unser Vater war in dieser Kette von Ereignissen die Einzige noch verbleibende Hoffnung gewesen. Sah er vielleicht gar nicht den Ernst unserer Situation? Nun war auch noch die Seifenblase der Hoffnung geplatzt!
Und wieder einmal war das Licht der Straßenlaterne zu hell, das Atmen meines Bruders aus der anderen Ecke des Raumes viel zu laut, der Geruch seiner Füße zu betörend. Ich konnte nicht richtig schlafen. Morgens früh um vier fuhr ich aus einem Alptraum hoch: Verwüstende Stürme hatten ein blutiges Schlachtfeld hinterlassen, in dem entfesselte Gewalten blutig auf einander geprallt waren. Am Ende war mir das Regal, das über meinem Bett hing, samt seinem Inhalt krachend auf den Kopf gefallen. Ratlos schob ich das Regalbrett wieder an seinen gewohnten Platz. Wie war das überhaupt zu mir runter gekommen? Hatte ich etwa im Schlaf um mich geschlagen? Ich deckte mich wieder ordentlich zu und schlief in dem Bewusstsein ein, auf jeden Fall einen Weg finden zu müssen, um uns aus dieser belastenden Situation zu befreien. Sich ausgeliefert zu fühlen war nicht gesund. Mein nächtlicher Wutausbruch hatte zwar auf die Fähigkeit hingewiesen, mich womöglich zur Wehr setzen zu können, aber: brachte die Kraft der Emotion einen dazu, anderen Menschen zu schaden, schien dies nicht zuträglich. Ohne einen wachen Verstand an ihrer Seite erschienen starke Gefühle riskant. Da konnte es passieren, dass dies mehr zerstörte, als einem lieb war. Außerdem war der Feind in diesem Fall auch nicht mein Vater, selbst wenn er und gerade erneut im Stich lies.
Tags drauf zog ich meinen Bruder ins Vertrauen. Wir vollführten gerade gemeinschaftlich den täglichen Abwasch.
« Duu, … » holte ich weit aus.
« Jaa? Ich? »
Wie immer zum Scherzen aufgelegt. Dieses Mal aber war es bitterer Ernst, so dass mir mein Kichern im Hals stehenblieb.
« Wir müssen etwas besprechen. »
« O-oh, was kommt jetzt. »
Der Alberkopf. Ich schwieg, musste mich erst sammeln. Er spülte, ich trocknete ab.
« Wir müssen etwas unternehmen. » sagte ich ernst.
« So wie es jetzt ist, hier, bei uns, kann es nicht weitergehen. Wir sollten mit der Elternfraktion sprechen. Das muss dringend aufhören. »
Er drehte sich mit vom Spülwasser tropfenden Händen zu mir um, sah mich mit großen Augen an.
« Spinnst du? »
« Nein. Das ist mein Ernst. Wir müssen da was machen. Es geht nicht anders. Und das weißt du auch. »
Er drehte mir wieder den Rücken zu, spülte, nun gar nicht mehr zum scherzen aufgelegt, verbissen weiter.
« Du und deine komischen Ideen. »
Was sollte das denn jetzt heißen? War er dagegen???
« Komm schon... Mann, … is doch wahr.... »
Jetzt sprach er gar nicht mehr mit mir. Wahrscheinlich hatte er einfach nur die Hosen voll. Nachvollziehbar - mir erging es ja nicht viel anders. Aber: Dass er mich jetzt deshalb im Stich ließ, durfte ich nicht zulassen. Wenn sie eine Aussicht auf Erfolg haben sollte, mussten wir die Sache auf jeden Fall gemeinsam durchziehen. Anders ging es nicht.
« Wir müssen etwas unternehmen! »
« Jaa, uund? Was soll das denn bringen? Das ist eine Scheißidee! Willst du etwa unbedingt was auf die Fresse? Ich nicht!! » fluchte er.
« Jetzt hör doch mal zu! » vermeldete ich.
« Nein! Ich will nicht!!! »
Er war zwar jünger als ich, was jedoch nicht hieß, dass er sich von mir alles diktieren ließ. Trotzdem: das hier war zu wichtig. Ich überlegte. Eine Grundsatzdiskussion zu dem Thema, wer jetzt der Bestimmer war und wer das letzte Wort hatte, führte uns nirgendwohin. Darauf lief es aber hinaus, wenn ich sein Statement jetzt nicht respektierte und versuchte, ihn zu zwingen. Dies galt selbst dann, wenn ich im Recht war. Nach einer Weile versuchte ich es erneut:
« Aber... weißt du ... wenn wir uns nicht wehren, wird es niemals aufhören? Wir haben nur diese eine Chance und die, das siehst du doch bestimmt ein, sollten wir nutzen! Entweder bringt es was, mit ihnen zu reden, oder auch nicht. Wenn es etwas verändert, ist es gut. Und wenn nicht, dann haben wir es wenigstens versucht! Wir könnten zwar auch zum Jugendamt gehen, aber da muss ich unserem Vater Recht geben, dass das keine so gute Idee ist. Nachher stecken die uns in ein Heim. Nein, wir müssen versuchen, unsere Probleme selbst in den Griff zu kriegen. »
Ich kam mir vor wie ein Idiot. Stand hier herum und textete ihn voll, obwohl er bereits deutlich geäußert hatte, was er davon hielt. Aber: Es war mir äußerst wichtig, dass er verstand, was für uns davon abhing.
« Außerdem bin ich der Meinung, wir sollten es nicht weiter aufschieben. Ob wir uns heute darum kümmern oder in zwei Wochen, oder Jahren, macht ja gar keinen Unterschied... Das Thema muss auf den Tisch. Ja! Vielleicht bekommen wir dafür die Hucke voll, aber …na und? Ich mein, das bekommen wir doch sowieso immer! Ob einmal mehr oder weniger, das macht doch jetzt eigentlich gar keinen Unterschied mehr. Oder? »
Er schwieg sich weiterhin aus, hörte mir aber wenigstens zu.
« Und, weißt du was? Mir ist es lieber, wenn es heute passiert. Denn das könnte bedeuten, dass es jetzt aufhört und nicht erst in zwei Wochen - oder Jahren. »
Ich hatte Recht, das musste er einfach einsehen. Er brauchte nur etwas Mut.
« Gut. Hör zu. Zur Not ziehe ich das Ding allein durch, wenn es sein muss. In Ordnung? Du brauchst gar nichts zu sagen, ich rede für uns beide. Das schaffe ich. Aber eines ist wichtig: Stell dich nicht gegen mich. Wenn dabei irgendwie heraus kommt, dass ich hier die Einzige bin, die sich beschwert, kommt das nicht gut an. Dann geht es schief. Lass mich bitte nicht im Stich, ja? Du musst mir nur eines versprechen: Sei an meiner Seite, wenn es drauf ankommt. Stell dich nicht gegen mich. Das ist wichtig, weil es sonst nicht funktionieren wird. »
Er nahm ein Geschirrtuch, trocknete sich die Hände ab. Drehte sich erneut zu mir um. Ha! Innerlich atmete ich die tausend Tode aus, die ich während dieses Gesprächs bereits gestorben war.
« Okay? »
Er nickte langsam, streckte seine Hand aus. Ich ergriff sie.
Deal.
« Okay. »
Als unsere Mutter nach Hause kam, schlug ich geheimnisvoll vor, eine unserer "Familienversammlungen" einzuberufen. Es funktionierte. Alle vier setzten wir uns zusammen an den Küchentisch. Ich eröffnete: Körperliche Gewalt als Erziehungsmethode sei bereits vollkommen aus der Mode und in unserem Fall auch nicht mehr fruchtbar einzusetzen. Den einzigen Effekt, der damit erzielt werden könne, wäre die von uns als solches empfundene Demütigung. Ich sah meinen Bruder an. Er nickte mir, wenn auch extrem vorsichtig, zu.
« Jetzt gehts aber los. »
Von ihrem ersten Schreck hatte sie sich aber schnell erholt!
« Ich glaub, es hackt!! »
Mein Bruder hatte schon Recht - mit Dynamit sollte man nicht spielen.
« Das schlägt jawohl dem Fass den Boden aus. Was fällt Euch überhaupt ein? Erst tun sie so scheinheilig, und jetzt das. Ich spinne wohl! Ab in eure Zimmer! Aber schnell! Das wird noch ein Nachspiel haben, meine Freunde, das sag ich euch… »
Nun war es soweit. Sie war sauer und wollte nichts mehr davon hören. Das war schnell gegangen. Ganz unverhofft aber erhielten wir in diesem Augenblick von Seiten ihres Lebensgefährten konstruktiv Unterstützung. Resolut sagte er zu ihr:
« Ganz ruhig. Jetzt sei doch mal still und hör erst einmal zu. »
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mit dieser Reaktion ihrerseits war zu rechnen gewesen. Nun aber war sie, urplötzlich vollkommen fassungslos, verstummt. Das war gut. Ich brauchte Mut. Den hatte mir meine verzweifelte Wut verliehen. Ich brauchte Hoffnung. Diese bekam ich durch den Beistand meines Bruders. Und ich brauchte Zeit, um zum Ausdruck zu bringen, was uns auf dem Herzen lag. Diese erhielt ich jetzt durch den Einwand meines Stiefvaters. Das im selbstgerechten Zorn aufgeblähte Muttertier sackte in sich zusammen wie ein mit dem Holzstäbchen gepiekter Kuchen und warf daraufhin erst einmal nur noch mit verkniffenen Blicken, aber wenigstens eine Zeit lang nicht mehr mit schlimmen Worten um sich.
Es folgte eine ausführliche, durch gelegentliche Zwischenfragen meines Stiefvaters unterbrochene Ansprache. Lange noch behielt das Muttertier seine mauernde, lauernde, geduckte Körperhaltung mit den zusammengekniffenen Augen31 bei. Bis ich zu dem Punkt kam, an welchem ich darüber berichtete, sogar den Vater um Hilfe gebeten zu haben. Hatte er mir durch seine Machtlosigkeit, uns nicht helfen zu können, doch noch ungewollt ein Ass in den Ärmel gespielt: Es bereitete ihr stille Genugtuung, zu hören, dass er gar nicht allmächtig war. Ha! Hatte sie es doch schon immer gewusst! Ihn vermeintlich damit zu demütigen, fiel es ihr plötzlich ein leichtes, auf unsere Forderungen einzugehen. Sich mit uns zu solidarisieren gab ihr das Gefühl, ihm damit ordentlich eins ausgewischt zu haben. Das gefielt ihr. Auf einmal konnte sie wieder kerzengerade sitzen und nahm uns ernst. Der glorreiche Sieg über den Ex, das musste gefeiert werden. Wie war noch gleich unser Begehr?
Na: Wir wollten einfach keine Schläge mehr!
Ouh... Das war keine Kleinigkeit.
« Aber womit soll ich euch denn dann erziehen? Dann habe ich ja gar nichts mehr, womit ich euch daran hindern kann, Blödsinn zu machen! »
« Wir machen keinen Blödsinn. Wir sind ganz lieb. »
Ich sah meinen Bruder an.
« Ne?? » fragte ich in seine Richtung.
Er nickte eifrig, hob die Hand zum Schwur.
« Wir geloben, nie wieder Scheiße zu bauen! »
Der Stiefvater lachte. Na, das war vielleicht etwas dick aufgetragen.
« Wir geloben, auch ohne schlimme Strafen nicht mehr Scheiße zu bauen als vorher? » ergänzte ich.
« Versprochen? Ihr seit nicht frech? Macht eure Hausaufgaben?? Helft im Haushalt??? » rief sie ungläubig aus.
« Ja! Jawohl! » salutierten wir im Chor.
« Aber was, wenn nicht...?? »
« Das wird nicht passieren. »
« Hmm... Gut. Probieren wir es aus. » murmelte sie äußerst nachdenklich. Kaum zu übersehen, dass sie nicht einverstanden war und jede sich ihr bietende Gelegenheit nutzen würde, um diese Vereinbarung mit sofortiger Wirkung aufzukündigen. Trotzdem.
Wir jubelten.
« Stop! » brach es, nun wieder eindeutig autoritär, aus ihr heraus.
Wir verstummten augenblicklich.
« Also: Wenn es funktioniert, dann bin ich einverstanden. Aber wenn nicht... » drohte sie mit ihrem Zeigefinger.
« Wir werden ganz brav sein » versprachen wir noch einmal.
« Na das wollen wir doch mal sehen. »
Vor Freude lachend, quiekend und hüpfend rannten wir in unsere Zimmer. Keine Schläge mehr! Keine Schläge mehr! Keine Schläge...
Ihrer Ansicht nach war nur die Angst vor Strafe das Einzige, was unsere unbeherrschte Leidenschaft, Böses zu tun, im Zaum zu halten vermochte. Ein ziemlich krasser Irrglaube, nach dem allerdings äußerst viele Menschen ihre Beziehungen zueinander ausrichten. Dabei wird felsenfest davon ausgegangen, dass jeder einzelne von Grund auf schlecht wäre, falls kein wie auch immer gearteter Zwangsapparat einen zum zivilisierten Miteinander dirigierte. Warum pflanzt man Menschen so eine absurde Idee in den Kopf? Das Gegenteil ist der Fall! Fällt die Terrorherrschaft der MGA´s weg, können sich die Menschen deutlich besser mit einander arrangieren.32 Regeln sind als Hilfe zur Orientierung zwar durchaus von gewissem Nutzen - dienen aber meist nur, die Interessen einzelner (auf Kosten anderer) durchzusetzen. Da sie genau das üblicherweise zu tun pflegen, sind es meist diese Einzelnen, die sich als Gesetzesmacher und Hüter aufspielen und auf ihre Einhaltung pochen. In unserem Fall war es die in ihrer hilflosen Angst um sich schlagende Mutter, die auf ihre Macht des Stärkeren pochte, ohne welche sie sich verloren glaubte.
Das eigentliche Problem aber war nicht die Gewalt. Diese wurde nämlich nicht als alleiniges Mittel zur Bestrafung zum Einsatz gebracht, sondern hing vielmehr ausschließlich von ihren (sehr unberechenbaren) Launen ab. Ich erinnere mich deutlich daran, dass über lange Zeit das einzige Gefühl, welches ich empfand, wenn ich an meine Mutter dachte, die Angst gewesen ist. Bei ihr fehlte einfach das richtige Maß! Nie konnte man sicher sein, wann und wie viel Terror es als nächstes geben würde, so dass ich immer froh war, wenn sich die Gelegenheit ergab, nicht in ihrer Nähe zu sein. Selbst in die Schule zu gehen erschien mir in diesem Augenblick als Befreiung. Nach Hause zu kommen, löste Angstzustände aus. Emotionen gestalten sich sehr unberechenbar, steuern aber menschliches Verhalten. Es war vollkommen gleichgültig, ob ich mich besonders brav und angepasst verhielt oder nicht. Ein sich-Bemühen half überhaupt nicht. Dafür, ob ich nun ein böses Kind war, das Strafe verdiente, oder ein liebes, welches geliebt und gelobt werden würde, gab es keinen wie auch immer gearteten Kontrollmechanimus. Das erschien vollkommen unabhängig davon, wie ich mich verhielt. Die Mutter fand, wenn sie mies drauf war, immer einen Grund, sich an einem abzuarbeiten.
Jemanden als Führungsperson ernst nehmen zu können, beinhaltet für mich nicht, dass jemand aus einer Laune heraus die Hand erhebt. Der Trugschluss aber, dass ein Verzicht auf Handgreiflichkeiten das Zusammenleben für uns vereinfachen würde, sollte uns bald gewahr werden. Unser Versprechen, nicht frecher zu sein als sonst33 - das konnten wir problemlos erfüllen. Schließlich waren wir nicht der vielen Züchtigungen wegen so brav, wie wir es waren. Fielen die Schläge weg, würde es uns deshalb nicht an irgendetwas fehlen. Ihr aber fehlte etwas: Der Frust-Ableiter war nicht mehr da! Leider verhielt es sich nun so: Was sie uns mit körperlicher Gewalt nicht mehr antun konnte, ersetzte der bald darauf einsetzende Psychoterror.34 Alles an ihr wurde zu einem personifizierten Vorwurf, was die Situation insgesamt für uns sogar noch deutlich schwieriger machte. Da waren die regelmäßig verteilten Ohrfeigen und der ganze Quatsch tatsächlich noch das kleinere Übel gewesen.
Nach dem Abschluss der Grundschule hatte man mich mit einer Hauptschulempfehlung versehen. Die Lehrerin, welche mich von der ersten bis zur vierten Klasse hätte unterrichten sollen, hat mich gehasst: How -to hell- wie konnte jemand gleichzeitig so klug und trotzdem so ein hirnverbrannter Idiot sein, wie ich einer war. Das ging aus ihrer Sicht nicht mit rechten Dingen zu und musste auf jeden Fall bestraft werden.35 An einen gravierenden Vorfall kann ich mich noch sehr gut erinnern: Da hatte mir meine Lehrerin in einem als gelungen zu bezeichnenden Aufsatz viele Rechtschreibfehler angekreidet, die gar keine waren, nur um diesen nicht dementsprechend würdigen zu müssen. Meine Mutter hatte sich darüber sehr aufgeregt und sogar in Erwägung gezogen, sich zu beschweren, - schließlich war das nicht der einzige Vorfall dieser Art. Richtige (und oberkluge) Antworten im Unterricht, mit welchen ich meine Lehrerin verärgerte, wurden als falsch umdeklariert36 und ich vor den anderen Kindern - von deren ausgewiesenem Vorbild, ihrer Klassenlehrerin - gemobbt. Das Resultat zeigte sich bald darin, dass meine Klassenkameraden dabei mitzumachen begannen. Unglaublich. Strafen & Gesichter der Diskriminierung entbehrten jeglicher Grundlage und erschienen als Ausdruck reiner Willkür. Mein Fehler: Ich war klug. Dem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens nach war das so aber nicht in Ordnung. Gebildet hatten nur die Lehrer zu sein.37 Kinder, insbesondere Schüler, waren dumm - das wussten doch alle! Warum verstand ich das nicht? Wusste ich mal wieder etwas besser, zeigte ich mich damit, wahrscheinlich auch noch vorsätzlich (schließlich wusste ich doch, was ich falsch mache) unangepasst. Das Muttertier sorgte für Ordnung: mit dieser Hauptschulempfehlung wurde ich dann zum Gymnasium überwiesen.
An der Tatsache, dass die Mitschüler38 mich hänselten, änderte sich auch nach dem Schulwechsel von der Grundschule auf die Weiterführende indes nicht viel. Im Gegenteil. Nur die Methoden wurden jetzt andere: Es war zum Beispiel deutlich schwieriger, sie zu durchschauen. Meine Bücher mutierten zur Überlebensstrategie. Ich las nur noch, schloss mich ein, lebte in meiner ganz eigenen Welt. Selten war ich mit meinen wenigen Freunden unterwegs.39 Sobald ich ein Buch aufgeschlagen hatte, bekam ich einen hochroten Kopf und war über einen gewissen Zeitraum nicht mehr ansprechbar. Dann gab es keinen Hunger, keinen Durst und keinen Gang zur Toilette mehr. Selbst ein Erdbeben hätte mich nicht losreißen können. Mein Stiefvater wunderte sich über die Schnelligkeit, mit der ich las. Oft scannte ich den Text bloß und blätterte nach kurzer Zeit schon wieder eine Seite um, so dass er mir unterstellte, ich würde die Geschichte gar nicht erst lesen. Als er mich jedoch nach Inhalten befragte, konnte ich ihm darüber berichten, was ihn relativ fassungslos zurück lies und eine heiße Diskussion darüber mit der Mutter anstimmen ließ.
Soviel ich mir auch an-studierte: Im krassen Gegensatz hierzu stand die ausgeprägte soziale Inkompetenz. Aus diesem Grunde pendelten sich die Schulnoten eher im Mittelfeld ein. Die Herausforderung des Gymmis bestand für mich sicher nicht darin, den verblödenden Schulstoff interessant zu finden. Ich hatte ganz andere Probleme, zB. mir die Zeit zu vertreiben, bevor ich vor lauter Langeweile starb. Im Unterricht arbeitete ich gar nicht erst mit. Die Notwendigkeit, irgendwie "dazugehören" zu müssen, sah ich zwar ein, wusste aber gar nicht, wie das funktionieren sollte. Dazu gehörte unter anderem auch, dazugehören zu wollen. Wollte ich das denn überhaupt? Für die anderen, die sich immer in kleinen Pulks zusammenkletteten und niemals irgendwo allein hingingen, war das keine Frage. Und für mich? Ich gehörte nicht dazu. Selbst wenn ich gewollt hätte, gäbe es immer noch das „Wie“. Eine theoretische Überlegung, deren Beantwortung mich interessierte: Bedeutete es Schutz, sich innerhalb von Gruppen zu bewegen? Ja. Das wär was - nicht dauernd Angst haben zu müssen vor irgendwelchen Übergriffen.
Bei mir fehlte nicht nur die dafür notwendige Motivation, mich an den nach wie vor üblichen für mich weiterhin vollkommen unverständlichen Mutter-Vater-Kind-Spielen zu beteiligen, sondern auch die Markenkleidung. Modetrends hinterher zu hängen fand ich albern, mitreden konnte ich sowieso nicht. Dazu fehlte mir das Verständnis für den tieferen Sinn dieser Art "Gespräche". Also beteiligte ich mich nicht daran. Wenn ich denn tatsächlich einmal auf die Idee kam, meinen Mund aufzumachen, hörte es sowieso keiner. Meine Stimme war meistens viel zu leise, teilweise vollkommen tonlos. In gewissem Stimme war sie so wie ich: nicht vorhanden. Ob ich etwas sagte oder nicht, spielte gar keine Rolle.
Missachtung ist eine der konstanten Größen in meinem Leben.Oft kommt es mir vor, als sei ich ein Geist, den man weder hören noch sehen kann. Im Sportunterricht gehörte ich nicht nur zu denen, die als Letzte noch dastanden, weil keiner sie in seiner Mannschaft haben wollte. Meistens waren das ja die dicken, unsportlichen oder eben ganz besonders unbeliebten - bei denen sich dann darum gestritten wurde, wer sie nehmen musste. Ich stand zwar auch als Letzte noch da, aber nur, weil man mich übersah. Sich über mich zu streiten - hätte ja bedeutet, dass man mich wahrgenommen hätte. Da der Sportlehrer diesen unglaublichen Vorgang meist selbst nicht mitbekam - und auch keiner korrigierend eingriff, ging man regelmäßig einfach nahtlos dazu über, das jeweilige Spiel zu spielen, während ich dastand wie bestellt und nicht abgeholt.
Ich wurde zwar oft geschlagen, aber austeilen - ... Meine Hemmung, andere zu verletzen, war dafür einfach viel zu groß. Also bat ich, während sie mir das Gesicht zerkratzten, mich bespuckten, traten oder an den Haaren zogen, immer nur darum, doch bitte damit aufzuhören. Besonders gern bestahlen sie mich, wofür mich zu Hause dann, wenn es herauskam, empfindliche Strafen erwarteten. Sogar meine "Freundinnen" beteiligten sich an diesem Spiel. Woraus ich lernte, dass sie nur deshalb mit mir befreundet gewesen waren, weil sie gerade keinen anderen gehabt hatten, der mit ihnen Zeit verbringen wollte.40 Nicht alle waren so, aber auch das gehörte zu diesen Gesetzmäßigkeiten in meinem Leben - es stellt eine grundsätzliche Erfahrung dar.
Also hatte ich viele mir zugewiesene Rollen: Ich war nicht nur Buhmann, Prügeldummi oder einfach unsichtbar, sondern auch Lückenbüßer. Gegenwehr fand nicht statt. Wobei ich mich durchaus des öfteren schützend vor meinen kleinen Bruder stellte. Da er klein war und einen dicken Bauch hatte, wurde er von ortsansässigen Schlägerkindern gern als das ideale Opfer auserkoren. Außerdem war er schlau, was provozierte. Was sie nicht wussten, war, dass sie in dem Augenblick nicht nur mit Beulen und Blessuren drohten, sondern sein Leben in Gefahr brachten. Denn er war nicht einfach nur dick: seine inneren Organe waren in ihrer Funktion beeinträchtigt. Um ihn vor eventuellen, nicht wieder gut zu machendem Schaden zu bewahren, stellte ich mich auch einer Überzahl von Gegnern zu allem entschlossen in den Weg. Aber mich selbst beschützen? Nö. Das war etwas anderes. Mein persönliches Wohlbefinden war mir nicht wichtig genug, um dafür zur Gewalt zu greifen.
Als ich noch zur Grundschule ging, hatte mein Vater mir empfohlen, die anderen Kinder einfach zu „ignorieren“. Dann würden sie schon von allein damit aufhören, mich zu ärgern. Aber immer, wenn ich versuchte, meine Tränen herunter zu schlucken und statt dessen tapfer zu lächeln, spornte sie das meist noch zu gemeineren Taten weiter an. Zu Beginn war ich eher eine kleine graue Maus, still und leise. Im Verlauf der Zeit und auch mit dem Wechsel auf das Gymnasium kam irgendwann, ein paar Jahre später, ein neues Verhalten zum Vorschein: Ärgerlich und LAUT. Dies fiel dann doch auf und gab auch Anlass zu Gerede. Aus meiner anerkannten, mir zugewiesenen Rolle41 auszusteigen, das war wie... als habe sich Sylvester Stallone einer Geschlechtsumwandlung unterzogen oder die Queen ein Nasenpiercing verpasst. Unvorstellbar. Das kleine graue Mäuslein auf den Barrikaden - das passte einfach nicht.
Eine bis heute für mich unüberwindbare Hürde: ich setzte ein Verständnis seitens der Gesellschaft für mein Verhalten voraus, welches für diese aber keineswegs verpflichtend war. Es überforderte ihr Weltverständnis - in welchem ich die längste Zeit über ein Schwächling gewesen war. Mit den Schülern der Parallelklasse kam ich überraschenderweise unerwartet gut aus. Sie behandelten mich mit dem Respekt, mit dem man einen Mitmenschen eben behandeln sollte. Hatten wohl noch nicht mitgekriegt, dass ich zu den Untermenschen gehörte! Die Gepflogenheiten meiner Mitschüler (und sogar eines Teils der Lehrer), solche Rollen zu verteilen, waren ihnen gänzlich unbekannt. Was ich daraus lernte: es lag nicht nur an mir, sondern an der Gruppendynamik. Auch hier waren es die Lehrer gegeben, welche gerne einzelne Schüler „aufs Korn“ nahmen, um an Ihnen ein Exempel ihrer allumfassenden Macht zu demonstrieren. Das macht Schule!
Als ich langsam der Rolle von Durchsetzungsvermögen für menschliche Beziehungen auf die Spur kam, fing ich an, dies gezielt einzustudieren. Welcher Spielplatz eignet sich dazu mehr als der Ort in Köln, an dem auch außerhalb von Weihnachtsmarkt-Zeiten täglich die größten Menschenmengen zusammenkommen? Unendliche Massen von aggressiv-genervten Einkaufstüten-Bewehrten, die sich unter Einsatz ihres Ellenbogens gegenseitig durch die Gegend schoben. Diesen Ort wählte ich ganz bewusst, um eine krisenfeste Haltung einzustudieren. Mein Exerzitium sah so aus: Wenn ich aufgrund meiner Körpersprache Menschen dazu bringen konnte, mir dort, wo ich gerade ging, Platz zu machen, hatte ich es drauf. So lange würde ich einfach üben, üben, üben. Mehrere Tage verbrachte ich damit, immer wieder auf der Schildergasse vom Neumarkt bis zum Dom hin,- und wieder zurück zu pilgern.42 Dass das irgendwann sogar so, wie ich es geplant hatte, funktionierte, war eine beeindruckende Erfahrung. Statt mich wie gewohnt umzurennen, hielten die Menschen doch glatt einen Meter Abstand von mir! Sie bildeten eine Gasse für mich, wichen mir, einem 12 jährigen, dürren, kleinen & unscheinbaren Mädchen respektvoll aus! Die Wirkung, die die Körpersprache auf andere Menschen hat, war mir einfach lange nicht bewusst gewesen. Das war der Schlüssel - jetzt hatte ich ihn endlich gefunden! Erhobenen Hauptes warf ich einen letzten Blick auf den immer am Eingang der Schildergasse stehenden Straßenzeitungsanpreiser, erfüllt von Stolz und Dankbarkeit dafür, diese überaus erstaunliche Erfahrung gemacht haben zu dürfen.
Doch ich hatte die Rechnung nicht mit der Macht der Gewohnheit gemacht: Meine Mitschüler dachten gar nicht daran, mich zu respektieren. Ich war ihr Dummie und sollte für immer ihr Dummie bleiben. Für mein neu erfundenes Selbstbewusstsein wurde ich bloß doppelt abgestraft. An dieser Stelle wusste mir nicht anders zu helfen, als mich wieder in mein Schneckenhäuschen zu verziehen und in Phantasiefiguren Trost zu suchen. Das Lesen von Büchern wurde zu einem Verschlingen. Dass auch das Anlass zu Spott gab, war egal. Aus der Stadtbibliothek nahm ich so viel Lesestoff in die Schule mit, wie ich nur konnte. Am besten gleich diese dicken Schinken ab fünfhundert Seiten aufwärts. Sonst reichte es nachher nicht bis zur letzten Stunde, Desaster! Einmal vielleicht nicht ausreichend mit Literatur versorgt zu sein, gab Anlass zur Panik. Kampflesen unter dem Pult, jeden einzelnen verdammten Tag, den ich dort verbringen musste.
Den Lehrern muss zwar aufgefallen sein, dass ich mehr unterm Tisch als auf ihm "arbeitete", aber solange ich ihren Unterricht nicht störte, war denen wohl alles egal. Die meiste Zeit hatte ich - wenn überhaupt etwas - ausschließlich Blödsinn im Kopf, spielte von allen unbemerkt irgendwelche verrückten Streiche. Vom Unterricht bekam ich überhaupt gar nichts mit, hielt aber, zum großen Erstaunen der Mutter, ohne große Mühe den Durchschnitt. Die nämlich hatte geglaubt, dass ich es ohne ihre fürsorglichen Züchtigungen nicht schaffen würde, so zu funktionieren, wie es sich für ein anständiges Kind gehörte. Bemerkenswert fand sie, dass sich meine schulischen Leistungen durch ihr Nicht-Einmischen sogar plötzlich deutlich verbesserten. Ich machte meine Hausaufgaben, fand eigene Interessen heraus, entdeckte Begabungen.
Pferde. Woche für Woche stemmte ich die mehrere Stunden andauernde Reise bis zum Reittherapiezentrum bei jedem Wetter. Sie haben mich gerettet. Bei Ihnen fand ich Wärme und Geborgenheit, Zuneigung. Tiere verstellen sich nicht. Diese Wärme war echt. In den schwersten Zeiten vermochten nur sie mir Trost zu spenden. Wir verrieten uns gegenseitig unsere Geheimnisse und kuschelten dabei ausgiebig.
Als bald schon überraschend seitens des Vaters das Angebot kam, zu ihm zu ziehen, waren wir weg:
Mitte 1991 zogen wir glücklich mit Sack und Pack ab - ins gelobte Land.
1(meine Hebamme, Therese Schlundt, hat tatsächlich über ihre Arbeit als helfende Hand bei Hausgeburten ein lesenswertes Buch geschrieben)
2 (=> noch weitgehend bewegungsunfähig & auf dem Rücken liegend)
3(wie eine Klette hing er an meinem Arsch!)
4 (Ein Hahn: je nach Wetterlage zeigte er eine andere Farbe: bei Regen rosa, bei Sonne blau)
5 (sich an doofe Sachen gar nicht zu erinnern, ist vielleicht auch ganz gut)
6 (Ihr Kodex gilt bis heute: nur Eingeschworene haben näheren Zutritt)
7(also: „Klatsch klatsch klatsch klatsch klatsch - Bum)
8 (mit mindestens ebenso heroischen Möbelkollisionen, allerdings deutlich weniger Gebrüll)
9 (am liebsten allein und in Ruhe. Meistens jedoch bekam ich meinen Bruder ans Bein gebunden)
10 (sondern nur noch über mich - wenn man der Meinung war, dass ich es nicht hören konnte)
11 (trotzdem brauche ich oft irre lange Zeit, um einen Situationskontext zu begreifen, weil ich mir einfach ALLES merke, und nie weiss, welche Informationen von Relevanz sind und welche nicht)
12 (fragte ich an dieser Stelle nach, was ich falsch mache oder richtiger machen könne, war die Antwort -ein Leben lang- immer dieselbe: "das weißt du schon ganz genau". Ein für alle mal: NEIN ich weiß es NICHT!!! Und schon gar nicht genau! Da ich definitiv aufs Raten angewiesen bin, ist das eine ganz blöde Antwort)
13 („Du kannst es doch!“ , „Warum machst du es mit Absicht falsch!“)
14 (ich bin als überzeugter Pazifist ein ziemlich penetranter die-andere-Wange-Hinhalter)
15 (Mobbing: Was wir für unnötige Grausamkeit halten, ist eigentlich nur der etwas unglückliche Versuch, herauszufinden, was in einem steckt)
16 (folgend nur noch MGA genannt)
17 (welche gesellschaftlich höher bewertet wird als Logik und Vernunft)
18 (Status => ungehinderter Zugriff auf Ressourcen => Überleben)
19 (Gegenwehr => bedroht Status => „rechtfertigt“ Gewaltanwendung)
20 (sei es auch nur unter dem eigenen Unvermögen)
21 (Windschattenfahrer! Das sind diejenigen, die ich für wirklich gefährlich halte. Ohne die hirnlose Masse der Mitläufer wären so manche Missetaten von Missetätern ohne Chance, überhaupt jemals verübt zu werden)
22 (Was ist ein Kriegsherr ohne legitimes Feindbild?)
23 (fragte man nach jemandes Meinung, reagierten sie alle gleich: mit unverhohlenem Misstrauen – so als stellte es ein Verbrechen dar, eigene Ansichten zu vertreten)
24(bzw. der Versuch, dies eigentlich möglichst zu vermeiden)
25 (die Fähigkeit zur Imagination ist bei mir überverhältnismäßig stark ausgeprägt. Beim Hören einer ganz normalen Metapher wie z.B.: "Ich werfe mich in Schale" oder "Aus allen zu Wolken fallen" muss ich lachen. In meinem Kopf scheint ein Clown zu sitzen: Sofort habe ich ein Bild vor Augen. Weil amüsantes Kopfkino läuft, kichere ich während ganz normaler Gespräche oft vor mich hin)
26 (mein Stiefvater hat ihn mir geschenkt, als ich acht Jahre alt wurde)
27 (Schiller kann man nur lieben!)
28 (später erfand ich sowohl ein eigenes Alphabet, als auch eine eigene Sprache. Das eine, um Tagebucheinträge zu chiffrieren und das andere, weil ich meinte, dass die regulär gesprochene Sprache zur Verständigung untereinander nicht ausreichte)
29 (An dieser Stelle sollte deutlich gemacht werden, dass wir über ein für die damalige Zeit vorbildliches Elternhaus verfügten. Kindern gegenüber zu Formen von physischer Gewalt zu greifen, das hieß damals "Erziehung". In Deutschland hat es sogar mal eine Zeit gegeben, in welcher es als ein Fehlverhalten galt, seine Kinder nicht körperlich zu züchtigen. Dafür wurde man schief angesehen!)
30 (das hatte sich tief eingeprägt: alles war kaputt gegangen, nicht nur ihre Ehe, sondern auch meine Welt)
31 (welche Blitze umher zu schießen schienen)
32 (da sie es oft gar nicht gelernt haben, müssen viele (ihr Hirn einsetzen) meist erst noch ein bisschen üben)
33 (eher lieber, wir würden uns hüten, unseren neuen Seelenfrieden aufs Spiel zu setzen!)
34 (den ich als noch viel grausamer - und im Bezug auf die damit beabsichtigte Demoralisierung deutlich wirkungsvoller - empfand. Man glaubt gar nicht, um wie viel intensiver psychische Gewalt schmerzen kann als physische)
35 (das tun Lehrer übrigens sehr gern - die ihnen verliehene Macht missbrauchen. Zum Beispiel, indem sie ihrer Vorbildfunktion durch ein Bloßstellen sozial schwächer gestellter Kinder (vor Publikum) gerecht werden oder: indem sie im Unterricht gezielt Schüler ausgrenzen - selbstverständlich mit anschließendem Verteilen von schlechten Noten)
36 (z.B. war „Pubertät“ in der Zweiten Klasse meiner Grundschule das falsche Wort dafür, zu benennen, wenn Kinder zu Jugendlichen und langsam erwachsen werden. Das heißt nun nicht mehr Pubertät, sondern „Reifezeit“ - Setzen, 6)
37 (und, wenn man dieses Glück sein eigen nennen durfte: die Kinder der Reichen und Schönen)
38 (übrigens weiterhin im trauten Einvernehmen mit einem Großteil der Lehrer)
39 (die sich meistens aus dem sogenannten "Bodensatz der Gesellschaft" heraus rekrutierten, also die eindeutig "bessere Hälfte" der Menschheit stellten für mich jene dar, denen ein aufrichtiges Gegenüber mit Herz wichtiger war als das Konto ihrer Eltern oder die Markenkleidung, welche sie kennzeichnete)
40 (fanden sie dann heraus, dass ich zu den Untermenschen gehörte, passten sich ihre Verhaltensweisen dementsprechend an)
41(den Mund zu halten und alles herunterzuschlucken)
42 (Der blanke Horror, total anstrengend)