XII.

12. der letzte Ausweg

 

Als ich zurück kam, war er in heller Auffuhr:

<< Wo warst Du denn so lange ! >>

Glücklich und erleichtert, mich wieder bei sich zu haben und umarmte er mich, was ich stocksteif über mich ergehen ließ. Schweigend drückte ich ihm die Autoschlüssel in die Hand. Wandte mich zum Gehen. Überrascht rief er mir hinterher:

<< Hey! Wo willst Du hin? >>

Sollte ich auf diese Frage wirklich antworten? Dass ich ihn verlassen würde, würde er sich denken können.

<< Was fragst Du so blöd? >> fragte ich.

<< Du kannst doch nicht einfach abhauen! Und mir nicht einmal sagen, wohin Du gehst! Das geht doch nicht. Kannst du mir das vielleicht mal erklären? Ich hab mir Sorgen gemacht! Was hast Du dir nur dabei gedacht!?? Das kannst du doch nicht machen! >> monierte er.

 

Als wenn ich mich rechtfertigen müsste! Ich hatte ihn verlassen, fertig. Da gab es nicht zu diskutieren. Sinn ergibt reden nur, wenn auf den Erhalt einer Beziehung Wert gelegt wird, was auf uns offensichtlich nicht zutraf. Für ihn schien alles so seine Richtigkeit gehabt zu haben. Auf dieser Basis hatte ich meine Entscheidung getroffen: Es war nicht länger tragfähig. Für ihn schien es selbstverständlich, dass man sich prügelte oder drohte, um anschließend die größtmögliche Ignoranz dem Partner gegenüber zur Schau zu stellen. Vielleicht kannte er es in seinem Leben nicht anders. Das war aber nur aus seiner Sicht so in Ordnung. Aus meiner nicht. Deshalb war ich gegangen und: daran gab es nichts zu rütteln. Selbst dann nicht, wenn ich ihm sein Auto zurückgebracht hatte. Das war doch logisch! Zumindest für mich. Warum musste ich ihm das erst noch alles erklären? Wozu? Was sollte ich antworten? ... Doch, das kann ich?

 

Wie so oft in solchen Augenblicken, sah ich ihn sprachlos an. Alle Worte, die mir durch den Kopf gingen, bildeten einen zerwühlenden Knoten. Er sah meine Verwirrung, interpretierte sie falsch.

<< Komm >> sagte er, nahm meine Hand.

Ich bewegte mich nicht vom Fleck.

<< Nein. >>

<< Wie? >>

<< Nein! >>

Da sprudelte es aus mir hervor:

<< Weißt Du, ich war schon auf der Autobahn Richtung Köln und erst bei Dortmund ist mir aufgefallen, dass ich dein Auto mitgenommen habe. Das darf man doch nicht, das ist Diebstahl. Ich wollte eigentlich überhaupt gar nicht wieder herkommen. >>

Er sah mich wie von allen guten Geistern verlassen an, verstand nicht. Oh nein. Jetzt musste ich ihm weh tun. Er würde verletzt sein!

<< Ich gehe. >>

Da verstand er. Ließ meine Hand los. Sackte zusammen. Wie auf Kommando fing er plötzlich ganz furchtbar an zu flennen. Stotterte einzelne Silben hervor. Ich konnte nur raten. Es schien, als wolle er mir mitteilen, dass die Situation augenblicklich ziemlich schwer für ihn sei. Sollte man sich deswegen an jemanden vergreifen? Es war nicht davon auszugehen, dass sein Ausbruch etwas mit einer situativen Belastung und einer daraus resultierenden Überreaktion zu tun gehabt hatte Dafür war er viel zu routiniert vorgegangen.

 

Als ich mich zum Gehen wandte, brach er theatralisch zusammen. Nun lag er auf dem Boden. Das hatte ich nicht gewollt. Ich habe immer sofort den Reflex, jemandem, der stürzt, wieder aufzuhelfen. Was machte er denn auf einmal dort unten? Er schluchzte. Rotz lief ihm aus Augen, Nase und Mund, lange Fäden ziehend. So hatte ich noch nie jemanden weinen sehen. Erschüttert stand ich da und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die Logik fehlte. Auf einmal konnte er bereuen? Was war zuvor gewesen? Wieso verhielt er sich so?

 

Das war doch bestimmt wieder eine seiner vorher einstudierten Nummern, ein Theaterstück. War es das, was er immer probte, wenn er sich mal wieder mit seinem Spiegelbild unterhielt? Lies man ihn mit einem Spiegel alleine, konnte man denken, mehrere Personen befänden sich mit ihm in einem Raum. Ich hatte beobachten können, wie er sich beim Zähneputzen vor dem Badezimmerspiegel bedroht und beschimpft hatte. Ein befremdendes Verhalten. Sah ich mich im Spiegel an, gab es dort nur mich - niemand anderen. In der Schule hatten wir gelernt, dass auch Adolf Hitler seine Shows stundenlang vor dem Spiegel einstudiert habe. Verhielten sich alle Schauspieler so?

 

Ich reagierte auf gewohnte Weise: überhaupt nicht. Scheinbar nicht das Gewünschte, denn nun fing er an zu winseln wie ein Hund, klammerte sich dabei an meinem Hosenbein fest.1

<< Bleib beiiiii miiiiiier >> röchel, röchel, hust, spuck, jammer.

Das wurde mir zu bunt. Eine neue Strategie musste her. Ich wollte heute Abend noch hier weg und das möglichst bald. Es war zwar schon später Abend und draußen herbstlich kalt, aber das war mir völlig egal. Ich würde mich schon zurechtfinden. Aber zuerst musste er mich loslassen und nach Möglichkeit damit aufhören, hysterisch herum zu kreischen. Als gerade-frisch-aus-der-Psychiatrie-Entlassene achtete ich darauf, so wenig Aufmerksamkeit zu erregen wie möglich. Ansonsten würde ich schneller wieder da landen, als mir lieb war. Also versuchte ich, beruhigend auf ihn einzureden. Er sah auf. Ein Rotzfaden hing an seiner Nase wie eine ausgeworfene Angelschnur in den Teich. Diesen hatte er zuvor tränenreich auf das Laminat hinfabriziert.

 

O je. Was sollte ich ihm nun erzählen? Da mir nichts Besseres einfiel, fing ich damit an, mein Verhalten zu erläutern:

<< Du musst das verstehen >> sagte ich.

<< Ich bin nun mal kein Mensch, mit dem man so umspringen kann. >>

Ich liebte ihn, seit wir uns über den Weg gelaufen waren. Gefallen hatte mir das, was er heute getan hatte, deswegen aber nicht.

Er wischte den Rotzfaden weg.

<< Was ?? >> kam ein wenig verständnislos und schüchtern aus ihm heraus.

<< Wovon redest Du denn da ? >>

Er tat tatsächlich so, als wüsste er nicht, wovon ich sprach?

<< Na, heute Mittag warst du da aber noch einer ganz anderen Meinung. Und das, was da passiert ist, weißt Du wohl sicher noch ganz genau! Jetzt mal eine Frage: Behandelt man so etwa jemanden, den man liebt!?? >> fragte ich ihn.

Ein Fehler. Nun folgte ein Redeschwall. Er erinnere sich an nichts. Daran seien bestimmt die Medikamente schuld!

 

Was für eine feine Ausrede. In dem Fall brauchte er nicht einmal darüber nachzudenken, was er getan hatte. Es war der Auftakt für eine seiner heiß-geliebten Diskussionen, in denen er sich selbst als Gesprächspartner vollauf genügte. Als Außenstehender übernahm man dabei nur noch eine Alibifunktion (eines real existierenden Gegenübers), ohne die auch er nicht auskam.2 Den Dialog dazu dachte er sich komplett selbst aus. Dass ich ihn nur staunend beobachtete, registrierte er nicht. Auf die Art konnte er stundenlang mit frei erfundenen Gesprächspartnern herum diskutieren. Obwohl ganz offensichtlich nicht so, zelebrierte er es, als wäre man beteiligt. Rollen fiktiver Teilnehmer verteilte er hierzu großzügig an zufällige Anwesende. Während dieser "Gespräche" schien sich immer alles nur darum zu drehen, wen welche Schuld warum traf. Verantwortung hatte dann am Ende keinesfalls er zu tragen. Dafür waren andere zuständig.

 

Meine Motivation zur "Teilnahme" an einer solchen Debatte tendierte gerade stark gegen Null. Ob ich etwas dazu zu sagen haben würde oder nicht, machte keinen Unterschied. Wieder in seinem Element - einer Rechtfertigungs,- und Schuldzuweisungswelt - empfand er sich als Alleinherrscher, schwang das Zepter. Daran zog er sich hoch, konnte sich wie Tarzan von Schuld zu Schuld schwingen. Seine Realität selbst zu entwerfen, bewahrte ihn davor, sich mit dieser auseinanderzusetzen. Untergetaucht in die Schaltzentrale seiner Macht fühlte er sich wie ein Fisch im Wasser. Dass er sich eine Erklärung für sich und sein Verhalten je nach Bedarf zusammenbasteln konnte, verlieh ihm Halt. Ziellos bewegte er sich durch dieses Labyrinth, das je nach Baustelle dauernd umgestaltet wurde. An bereits bestehende Gerüste wurden weitere angelehnt - so dass man irgendwann gar nicht mehr erkennen konnte, was sich ursprünglich einmal darunter verborgen hatte.

 

Einen Vorteil hatte diese Methode: Er kam zwar nicht mehr an die Realität heran => diese aber auch nicht an ihn. Alles, was einen im Leben berührt, kann auch weh tun. Selbst eine Rose verfügt über zahlreiche spitze Dornen. Was bei ihm so grotesk überspitzt zu Tage trat, hatte ich (wenn auch in bedeutend kleinerem Format) ebenso bei anderen Menschen beobachtet: um so misshandelter die Seele, um so perfekter versucht sich die Fassadenpersönlichkeit zu verkaufen: Ich bin nicht ich, sondern meine Bildung, mein Beruf. Ich bin mein Auto, meine Religion, Herkunft, Hobby, hübsches Aussehen. Ich bin mein Interesse, mein heiliger Krieg. Man tat alles, um sich von sich abzulenken, nicht einfach nur man selbst, sondern alles mögliche andere zu sein. Idealerweise etwas, das3 Stärke, Größe und vermeintliche Unverwundbarkeit/ Unsterblichkeit verlieh.

 

Deshalb hatten die meisten Menschen auch ein Problem mit mir. Von dem faulen Zauber, mit dem viele sich zu umgeben versuchen, ließ ich mich nicht beirren. Viele Menschen beschließen, ihre Empfindungen einfach auszublenden. Dazu bedienen sie sich der Methode, Wirklichkeit neu zu erschaffen. Phantasie-Vorstellungen legen sich einem Handschuh gleich über diese. Die Bereitschaft dazu scheint gerade bei dem besonders ausgeprägt, wer sich selbst als schwach und wehrlos erlebt. Kindesmissbrauch4 ist Teil unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Ist jemand im Erwachsenenalter immernoch heil, hat er etwas verpasst. Hier besteht Nachholbedarf. Da ich keinen Hehl daraus machte, einigermaßen lebendig5 zu sein, hatte man mich zur Strafe für geistesgestört erklärt und mich anhand von Methoden gequält, die direkt aus dem Mittelalter zu stammen schienen.

 

Was bei anderen kaum auf fiel, zeigte sich bei ihm überdeutlich und klar bis zur Groteske. Beging man den entscheidenden Fehler, ihm einen passenden Aufhänger für seine große, wie eine Schallplattensammlung anmutende Themenauswahl zu liefern, setzte sich daraufhin einem Domino Effekt gleich - mit dem schnaufenden Geräusch einer Dampflokomotive - unaufhaltsam ein Selbstläufer mit Schneeballeffekt in Gang: Eine tunnelartige Beschaffenheit seiner Wahrnehmung erfasste ihn. Nicht mehr ansprechbar, dachte er sich in dem einen Augenblick aus,6 was er im nächsten bereits als real ansah. Dies geschah in einer so affenartig hohen Geschwindigkeit, dass man als Außenstehender kaum mithalten konnte.

 

Dass er sich seine ausgedachten Geschichten obendrein selbst zu glauben schien, machte es für mich interessant. Menschen die lügen, zeigen eine bestimmte Energieform. Glaubt jemand an das, was er erzählt, kann auch ich nicht mehr unterscheiden, ob derjenige tatsächlich lügt oder nicht. Die hohe Kunst beim Erfinden von Realität schien also, sich überzeugend selbst zu beschwindeln. Dahinter zu kommen, benötigte es viel Erfahrung. Da er ein so schillerndes Beispiel abgab, war er mir in nicht nur einer Hinsicht ein guter Lehrer. Wenn es sich bei ihm nicht so plakativ offenbart, hätte ich dieses menschliche Strickmuster nie durchschaut.

 

Ich beschloss, auf einen günstigeren Moment zu warten. Irgendwann musste er ja wieder runter kommen. In sich gekehrt quasselte er versunken vor sich hin: dass er sein ganzes Leben meinetwegen "hin geschmissen" habe.7 Wie immer war ich Schuld an seinem existenziellen Niedergang, den er in vielen leuchtend bunten Regenbogenfarben schilderte. Er hätte nur noch Glitter darauf streuen mögen. Als er bemerkte, dass ich mich gen Haustüre bewegte, schloss er ab. Ich durfte nicht gehen, ihn nicht verlassen, nicht "einfach so abhauen", wie er vorwurfsvoll zu mir sagte. Sein Verhalten fand für ihn schlichtweg darin seine Berechtigung, dass er in mich verliebt war. Als stelle diese Tatsache so eine Art Besitzurkunde dar.8 Ich nahm das alles nicht so ernst.

 

Am nächsten Tag versprach er mir hoch und heilig, dass sich von nun an "alles ändern" würde. Nie wieder Schläge und auch kein Gedanken-Chaos-Wahnsinn mehr.9 Was passiert war, erschien nebensächlich, war unbedeutende Begleiterscheinung, Produkt problematischer Umstände. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass es keine Entschuldigung für solch ein Verhalten gäbe! Im Gegenteil: fände man eine passende Erklärung für sein Verhalten, lief man Gefahr, bei einem erneuten Auftreten von "Umständen" Fehler zu wiederholen. Eine gute Ausrede erschien mir eher als Verschlimmerung der Situation. Denn so eine verführt dazu, Verfehlungen nicht bewusst zu machen, weshalb auch keine Maßnahmen getroffen werden, dass sich Unglück-in-Folge-unglücklicher-Umstände nicht wiederholt.10

 

Erkenntnis ist der Schritt zur Besserung. Fehler sollten als etwas Wertvolles angesehen was (postitive) Be-Achtung verdiente. Ohne zu erkennen, dass etwas falsch gelaufen war, würde es auch weiterhin falsch laufen. Ich traute dem Frieden nicht. Versprechungen und schöne Worte nützen nichts, ist derjenige, der sie macht, gar nicht in der Lage oder bereit, sie einzuhalten. Was bedeutete: alles war nur Kulisse, Pappmaschee. Damit, das Bühnenbild noch einmal gut abgestaubt zu haben, schien er mit sich völlig im Reinen.

 

Als es erneut wieder so weit war, war die Türe zu. Aus der Situation zuvor hatte er scheinbar doch etwas gelernt: Er musste nicht sein Verhalten korrigieren (verprügeln), sondern meines (weglaufen). Wenn man(n) sie schlecht behandelt, läuft die Frau einem weg? Also muss sie in weiser Voraussicht zuvor eingeschlossen werden. Damit man(n) weiterhin zuschlagen darf, sie aber trotzdem bleibt. Nun boxte er gleich mit geballter Faust drauf los, dafür aber diesmal nicht ins Gesicht.11 Statt mich zu wehren, sagte ich (als ich wieder Luft holen konnte) mit fester Stimme:

<< Lass den Scheiß. Was soll das? Bist du ein Idiot oder was? Hast du sie noch alle? >>

Daraufhin zerrte er mich quer durchs Zimmer, um seine Tätigkeit in einer anderen Ecke des Raumes weiterzuführen.12 Danach ging er ungerührt auf seinen über alles geliebten Platz - vor den Fernseher. Wütend blieb ich zurück.

 

Das gefiel mir nicht. Ich ging zu ihm. Setzte mich vor ihn. Fing damit an, ihn mit vulgären Schimpfwörtern zu betiteln. Äußerlich schien ich ruhig, aber der Körper bebte vor Adrenalin. Ich rechnete fest damit, dass er mich wieder angreifen würde. In dem Moment hätte ich keine Skrupel gehabt, ihm ein weiteres K.O. zu verpassen. Auch wenn er sehr viel stärker und größer war als ich: Das hier wollte ich mir nicht länger bieten lassen. Das Problem: seine Angriffe erfolgten immer aus heiterem Himmel. Hatte er den ersten Schlag,13 war ich wehrlos. Nun aber war ich frei, beweglich und vorbereitet. Diesen Vorteil wollte ich nutzen. Also schimpfte ich wie ein Rohrspatz, damit er mich wieder angriff - um mich in Folge dagegen zur Wehr setzen zu können.

 

Obwohl es den Anschein machte, als habe er diesmal tatsächlich ein schlechtes Gewissen und wolle sich bei mir entschuldigen, fuhr ich damit fort, ihn mit Beschimpfungen zu überhäufen. Bis zu dessen Gelingen wollte ich nicht von meinem Plan lassen. Der Grundgedanke war simpel: Die Arschloch Rolle, die er mir zugeschustert hatte, wollte ich nun ganz offiziell übernehmen. Wenn ich meine Darstellung bloß lange genug überzeugend fortführte, würde er mich ganz sicher vor die Türe setzen. Die multiple Identitätsstörung war mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt. Den erneuten Switch14 hatte ich gar nicht mitgekriegt. Für mich stellte alles, was ich mir ihm erlebte, Facetten ein und derselben Persönlichkeit dar. Dass nun jemand anderes vor mir saß, der sich nie an mir vergriffen hatte (und den meine Beleidigungen verletzten) war mir nicht bewusst.

 

Er schaute verwundert. Wieso beschimpfte ihn seine über alles geliebte Freundin so sehr? Meine Beleidigungen nahm er für bare Münze, dachte aber gar nicht daran, mich erneut zu malträtieren. Die Türe blieb zu. Er setzte mich nicht davor, sagte nicht "Hasta la vista, Arrivederci, auf Nimmerwiedersehen, Braut". Statt dessen verlor er sich wieder in einem Weinkrampf... und: auf ein Neues war ich nun an der Reihe, zu trösten und wieder gut zu machen. Ich hatte mich wehren und befreien, ihm jedoch nicht weh tun wollen. Im einen Moment hatte ich jemanden vor mir, der fürsorglich, sensibel, verletzlich und liebevoll war und im nächsten hatte ich es mit einem perversen Rohling zu tun, der keine Gefühle kannte, erst recht nicht die von anderen. Das verstand ich nicht. Sann aber darüber nach, wie ich ihn sobald wie möglich verlassen konnte. Vorsorglich schloss er die Türe gut ab. Ja, er hatte allen Grund, mir zu misstrauen, denn er wusste: Ich hatte nicht vor, bei ihm zu bleiben.

 

Mittlerweile legte er auch einige andere sehr abstoßende Verhaltensweisen an den Tag. Mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erniedrigen (sich dabei wie der allergrößte Macho verhaltend), war ein mir bislang unbekannter Charakterzug. Seltsame Dinge passierten: Teppichfransen mussten mit einem Kamm gekämmt werden. Das tat er nicht selbst, sondern verlangte es von mir. Lag nur eine quer, bekam er einen Anfall. Er bewachte jeden einzelnen Schritt, den ich machte. Ich plante verschiedene Szenarien durch. Eines fiel leider völlig flach: durch um Hilfe rufen Öffentlichkeit zu erregen. Denn dann hätte man mich, just aus der Anstalt entlassen, direkt wieder dort hin gebracht. Dieses Risiko durfte ich auf keinen Fall eingehen. Eine realistischere Strategie schien, Müdigkeit vorzutäuschen und mit Hilfe eines Seils aus dem Schlafzimmerfenster heraus an der Hauswand herunterzuklettern, solange er wie hypnotisiert vor seinem Götzen (dem TV-Bildnis) hockte. Da ich aber Angst hatte, mir bei einem möglichen Sturz die Beine zu brechen und dann mit ebensolchen nicht flüchten zu können,15 blieb es bei einem unter dem Bett in einem Koffer verstauten, zusammen geknoteten Seil16.

 

Immer wieder gab es Szenen, in welchen er ausrastete. Wenn sich Staub auf den Bilderrahmen ansammelte oder beim Brötchen aufschneiden Brötchenkrümel entstanden... so etwas hielt doch keiner im Kopf nicht aus. Was würde mir drohen, wenn er mich bei einem Fluchtversuch erwischte? Weitere sieben Tage saß ich bei ihm fest. Das alles ging schon viel zu lange. Solange ich so tat, als wäre alles beim Alten und ich seine brave und treue Freundin, entspannte er sich. Ich musste ihn in Sicherheit wiegen. Als mir das irgendwann gelungen zu sein schien, bat ich ihn eines Tages um den Haustürschlüssel.

<< Ich möchte meine Rollschuhe in den Keller bringen >> behauptete ich.

<< Warum >> fragte er misstrauisch.

<< Ich will ein bisschen aufräumen, schließlich soll ich hier wohnen,... mich wohl fühlen >> argumentierte ich.

Er überlegte. Widerstrebend gab er mir die Schlüssel.

 

Um mir dadurch etwas mehr Zeit zu verschaffen, den Ort zu verlassen, durchtrennte ich das Telefonkabel. Sonst hätte er sofort seine Freunde angerufen, um sich von Ihnen helfen zu lassen. Dann schloss ich von außen ab und flitzte, in der ernsthaften Absicht, erst einmal zur Polizei zu gehen und ihn als für sein schändliches Verhalten anzuzeigen, die Treppe hinunter. Als ich aus der Haustüre trat, stand er rufend auf dem Balkon. Wieso habe ich Idiot mich eigentlich zu ihm umgedreht? Wie er da stand, so hilflos und verletzlich, wurde mein Herz direkt ganz weich. Er sollte doch nicht leiden! Ganz gleich, welchen noch so ausgeklügelten Plan ich auszuführen im Begriff gewesen war, in dem Augenblick war dieser unerfolgreich. Es befand sich aber genügend Kraft in mir, ihm meine Meinung zu sagen. Wütend, wie ich war, schnauzte ich:

<< Du liebst mich? Hah, KEIN STÜCK, Alter, NEE! Ich hab da einfach KEINEN BOCK mehr drauf! >>

<< Wieso glaubst Du mir nicht? >> säuselte er.

<< NEIN! >> brüllte ich.

<< Ich liebe dich. >>

Wohl wissend, dass er die Wahrheit sagte, starrte ich ihn an. Ich wollte ihm einfach nicht mehr glauben. Jemand, der etwas liebt, behandelt es doch gut? Oder nicht? Das war meine Überzeugung, welcher sein Verhalten widersprach. Was sollte ich tun? Lautstark forderte ich, dass sich "einiges ändern" müssen würde.17

 

Ich solle "erstmal raufkommen", damit wir "reden" könnten. Ja, genau. Wie kann man nur so blöd sein?18 Natürlich hat ein Gespräch (wie ich es mir wünschte) nie stattgefunden. Statt dessen erzählte er mir, ich sei an allem Schuld.19 Beispielsweise würde ich ihm das "Fernsehen verbieten". Das war ein ausreichender Grund dafür, jemanden in seiner Freizeit zu verprügeln, wenn gerade nichts anderes zu tun war? Außerdem: Wovon zum Teufel sprach er? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Ein einziges Mal in der langen Zeit, seit wir hier zusammen wohnten, hatte ich ihn darum gebeten, "dat Dingen doch mal für fünf Minuten auszuschalten". Die Glotze lief rund um die Uhr, was mich schier wahnsinnig machte. Fernsehen, ja meinetwegen - aber doch nicht ununterbrochen! Das wollte er mir nun als Grund dafür verkaufen, mich dafür ständig verprügeln zu müssen? Dass ich ihn einmal in acht Wochen gebeten hatte, für fünf Minuten nicht fernzusehen, animierte ihn, mich zu bestrafen, als wäre ich sein ärgster Feind? War das alles, was ihm dazu einfiel? Anscheinend. Was passiert sei, hätte ich mir selbst zuzuschreiben.

Jetzt kam der Spruch:

<< Du bist selber Schuld. Du hast mich provoziert! >>

Ich prustete los, verschluckte mich beinahe vor lachen. Den Vortrag fand ich genial. Das war doch wohl nicht wahr! Live is Comedy. Nicht, dass ich auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendete, bei ihm zu bleiben. Gott, bewahre! Amüsiert und von wissenschaftlicher Neugierde beseelt wartete ich nun darauf, wie er sich argumentativ aus dieser Falle, in die er sich hinein manövriert hatte, wieder heraus zu mogeln gedachte. Für diese Argumentationskette interessierte ich mich. Er war sichtlich aufgeschmissen. Jetzt fand er doch tatsächlich keine Beweise, die meine Schuld an seinem Verhalten deutlich machen würden. Ich sei auf jeden Fall Schuld. Soweit kam er noch, sich bei dieser Aussage in gewohnter Manier selbst zunickend. Daraufhin wollte ich schon loslegen, von wegen: Du hast sie doch nicht mehr alle, aber, hmm... - lieber nicht. Bloß keine Gespräche mehr. Fresse halten und so schnell wie möglich weg. Logisch: jetzt war die Türe wieder zu ... und blieb es auch. Also musste einige Tage lang wieder er selbst die Brötchen holen gehen.

 

In dieser Zeit zertrümmerte ich das Telefon. Einer seiner Mitbewohner erniedrigte gern. Physischer Schmerz machte mir nicht sehr viel aus, weshalb er andere Mittel und Wege fand. Zum Beispiel hatte ich Angst vor der Psychiatrie. Das freute ihn sehr. Alles, womit er mir Angst einzujagen vermochte, was erfreulich. Mir mit Suizid zu drohen, hatte mich verängstigt - das Thema war jetzt aber langsam ausgelutscht. Dass er mir gegenüber zur Gewalt griff, zeigte nicht die erwünschte Wirkung. Deshalb ging er das Ganze bald anders an. Er führte Interviews mit mir, um alles möglichst genau herauszufinden. Da ich das nicht durchschaute beantwortete ich ihm seine Fragen brav und naiv, wie es so meine Art ist: stellt jemand eine Frage, dann antworte ich wahrheitsgetreu und ordnungsgemäß20. Auf die Art fand er so ziemlich jede meiner Schwachstellen sehr schnell heraus. Damit putzte er mich herunter.

 

Vor den Irrenanstalten hatte ich nachdem, was ich dort erlebt, eine Heidenangst. Das konnte er ausnutzen. Seitdem drohte er mir regelmäßig damit, dafür sorgen zu wollen, mich wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Er kam er sich groß und stark dabei vor, mir die Psychiatrie-Pistole auf die Brust zu setzen und griff, um seinen Drohungen einen realistischeren Touch zu verleihen, wenn ich nicht wie gewünscht reagierte, dafür sogar zum Telefon. Es hätte auch eine weitere seiner vielen einstudierten Nummern sein können, mit denen er mir bloß Angst machen wollte. Aber: Irgendwann wach werden, das Schlafzimmer voll von weißen Kitteln, die gekommen wären, um mich zu holen, wollte ich nicht. Als er mir mal wieder damit drohte, schlug ich einfach das Telefon zu Klump.

 

Meine Sachen waren längst gepackt. Das Wichtigste zum Überleben hatte ich in eine winzige Tasche und diese wiederum in einem Versteck verstaut. Wieder tat ich so, als sei zwischen uns alles in Ordnung, wir das alte Traumpaar. Als er Vertrauen zu mir fasste und die Türe nicht mehr abgeschlossen wurde, schnitt ich mir heimlich die Haare ab21 und versteckte mich in der Besenkammer. Die Haustüre öffnete ich einen Spalt, verließ die Wohnung aber nicht. Wenn ich mich einfach nur aus dem Staub gemacht hätte, hätte er mich viel zu schnell gefunden. Spätestens sobald er seine Leute angerufen hätte, wäre alles herausgekommen. Bis er anfing, mich zu suchen, wollte ich im Dunkeln der Besenkammer stehenbleiben.

 

Dort wurde mir das erste Mal klar, dass mein Herz in zwei Teile zerbrochen war. Zumindest der Teil, der fähig war, zu lieben,22 schien wegzubröckeln und mich unwideruflich zu verlassen. Ich war noch jung, aber auf so eine Art und Weise lieben würde ich wohl nie mehr wieder. Nach circa zwanzig Minuten, die ich dort still vor mich hin weinend zwischen den Putzuntensilien verbracht hatte, bemerkte er, dass ich verschwunden zu sein schien. Wie vorgesehen, hetzte er die Treppe runter und ließ den Wagen an, um damit vom Hof zu sausen.

 

In aller Seelenruhe stellte ich den verhassten Fernseher ab, schnappte ich mir mein Bündel und ging in den Keller, um mich dort bis zum Einbruch der Nacht zu verstecken - in deren Schutz ich mich ganz gemütlich vom Acker zu machen plante. In den Keller ging er nie. Das war ein Ort, an dem er mich nicht suchen würde. Ein feiner Fluchtplan, auf den ich fast ein wenig stolz war. Einer, der ohne viel Action auskam. Zehn Minuten später hörte ich die Haustüre erneut ins Schloss fallen. Aber..., was war das? Da ging ja jemand die Treppe hinunter, statt herauf! Oje, Oje. Die Kellertür ging auf, erleichtert schloss er mich in seine Arme. Woher hatte er es gewusst? Fragte ich mich. Ich selbst war zwar mitunter hellsichtig und deshalb oft in der Lage gewesen, auf die Art verschwundene Personen (oder Haustiere) aufzuspüren, aber er doch nicht? Oder? Konnte er das etwa auch?!! Oh mein Gott, das wäre wirklich schlimm. Dann würde ich ihm nie entkommen können!

 

Nun versuchte ich, ihm klar zu machen, dass ich ihn hatte verlassen wollen. Sogar einen Abschiedsbrief hatte ich geschrieben, womit ich ihm vor der Nase herumwedelte. Aber er bekam das alles wieder mal gar nicht mit. Dauernd fragte er mich, wieso ich mir denn um alles in der Welt "die schönen, schönen Haare abgeschnitten" hätte. Ununterbrochen stammelte er:

<< Die schönen, schönen Haare... >>

Ich beschloss, es dabei zu belassen. Sollte er doch glauben, was er wollte. Vielleicht war das besser so.

 

Also blieb ich doch noch ein paar Tage. Nun endlich erklärte er sich dazu bereit, mit mir gemeinsam Herrn Dr. Glitzer in seiner Klinik zu besuchen, denn ich war der Auffassung, er benötigte eine psychiatrische Behandlung dringender als ich. Meinen Trennungswunsch benutzte ich als Druckmittel. Wolle er mit mir zusammen bleiben, müsse sich etwas ändern. Damit er mich überhaupt dorthin begleitete, sprach ich mit ihm über die Möglichkeit einer "Paartherapie". Dieser Termin sollte mir für ein paar Tage echte Hoffnung geben.

 

Gemeinsam fuhren wir hin. Ich freute mich. Dies stellte zumindest einen ernst zunehmenden Versuch dar, die Situation in den Griff zu kriegen. Die Lösung: Unsere Götter in weiß. Auch wenn ich dafür an diesen verhassten Ort zurückkehren musste, das war es mir wert. Nun saß ich also wieder bei Dr. Glitzer. In dessen Praxis, auf den pompösen Stühlen vor dem pompösen Schreibtisch mit all seiner beeindruckenden Beleuchtung. Beim Anblick von soviel Wichtig kam sich regelrecht klein und minderwertig vor. Dem Herrn wäre wohl ein Zacken aus der Krone gebrochen, uns direkt seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Er gab sich schwer beschäftigt, zwar höflich, aber: er wollte es sich nicht ganz nehmen lassen, uns zu signalisieren, wie restlos überflüssig wir in seiner -> so viel wichtigeren <- Welt waren.

 

Nachdem uns der Arzt erst eine Weile in (einem völlig leeren) Warteraum (und eine weitere in seinem Büro) hatte warten lassen, schüttelte er einem jeden von uns professionell lächelnd die Hand und setze sich mit an das Mini-Glastischchen zwischen den Polstermöbeln:

<< Lange nicht gesehen, was verschafft uns die Ehre ihres Besuchs >> eröffnete er ironisch, vornehmlich in meine Richtung gewandt.

Wahrscheinlich wollte er damit seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, dass ich mich nicht mehr in der Tagesklinik blicken ließ. Von dieser hatte ich mich jedoch bereits ordnungsgemäß offiziell abgemeldet.

<< Da müssen sie ihn fragen >> sagte ich, deutete dabei mit dem Finger in Richtung meines (Ex?) Angebeteten, der mitgekommen war, um seine Beziehung mit mir zu kitten.

Um zu erfahren, wie ernst es ihm mit diesem Anliegen war, wollte ich Ihn das Wort führen lassen. Ich hoffte, er möge mit offenen Karten spielen.

Irritiert wechselte der Arzt seine Blickrichtung, als nehme er erst jetzt wahr, dass wir uns gar nicht allein in dem Raum befanden. Ebenso irritiert reagierte mein Begleiter, der davon ausgegangen zu sein schien, dass er das Prozedere an diesem Tag nur über sich ergehen lassen müsste, aber nichts dazu beizutragen haben würde.

<< Das war alles ihre Idee >> behauptete er nun eilfertig, in gewohnter Manier jegliche Verantwortung von sich weisend.

Idiot.

<< Ich bin einfach nur mitgekommen, weil sie mich darum gebeten hat! Ich weiß auch gar nicht, was ich hier soll! Sie ist doch die Kranke, es ist ihre Therapie! Ich habe damit nichts zu tun. >>

Unschuldig abwehrend hob er seine Hände.

 

Ich war baff. Was sollte das denn? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Er sollte doch zu dem Gespräch beitragen! Und nun versuchte er sich dadurch, mit dem Finger auf mich zu zeigen, aus der Affäre zu ziehen? Mister Mir-rutscht-so-gern-die-Hand-aus gefiel sich plötzlich wieder in seiner alten ich-bin-der-gute-Samariter-Rolle. Er habe "ja nur helfen" wollen. Erneut schockierte er mich, indem er, nachdem wir extra und eigens dafür den weiten Weg hierhin gemacht hatten (und sogar der Chef uns persönlich die Ehre gab), nichts Besseres zu tun hatte, als die vergangenen Wochen komplett zu negieren.

Alles schwieg. Ich vor Wut, er demonstrativ mit den Schultern zuckend. Herr Doktor schaute hilflos von einem zum anderen. Natürlich wusste der er von nichts. Eine blöde Situation, in der von dessen Professionalität nicht allzuviel zum Einsatz kommen konnte.

<< Nein >> sagte ich.

In Richtung meines nun eindeutig Verflossenen fügte ich wütend und auch etwas kaltherzig hinzu:

<< Das hast du dir nun fein ausgedacht, dich so aus der Affäre zu ziehen, hmm? >>

Wieder dem Arzt zugewandt erklärte ich:

<< Er wollte mit mir hierher kommen! Und nun? >>

Damit wandte ich mich wieder meinem Begleiter zu:

<< Was soll denn das? Hast Du jetzt etwa Angst? >>

Monsieure Professeure schien darüber nachzudenken, inwieweit wir wohl seine Zeit verschwendeten.

<< Vielleicht wollen sie noch einmal wieder kommen? >> bot er an.

<< Nein nein >> sagte ich schnell.

<< Na komm, sag ihm schon, wieso wir hierher gekommen sind! >> forderte ich.

Wenn er den Mund jetzt nicht auf bekam, brachte das alles nichts.

<< Wissen Sie, ihr Vater hat mir davon erzählt,... er hat mich vor ihr gewarnt! Sie soll krank sein, hat er gesagt. Sie sei nicht beziehungsfähig, nicht in der Lage, zu anderen Menschen eine Bindung aufzubauen. Ich habe ihm das nicht geglaubt, aber anscheinend hat er Recht. Sie ist wirklich sehr seltsam, wenn man sie näher kennen lernt. Was ich damit zu tun haben soll, weiß ich jetzt aber auch nicht. >> begann er, sich selbst zu bemitleiden.

 

Mir reichte es. Herrisch wies ich Richtung Tür und verlangte, den Arzt alleine sprechen zu dürfen. Widerwillig und gleichzeitig darüber erleichtert, aus der Situation herauszukommen, verließ er den Raum.

Nun versuchte ich, dem Arzt alles zu erklären. Von den blauen Flecken erzählte ich ihm, von den Brandwunden. Davon, dass mein neuer Lebensgefährte gern mit Brotmessern an mir herumschnippelte. Aber das interessierte ihn alles gar nicht.

<< Und, wie soll ich ihnen da jetzt helfen? >> unterbrach er mich zu meinem Erstaunen fragend, als gingen ihn diese Alltäglichkeiten seiner Patienten gar nichts an.

Schockiert schaute ich ihn mit großen Augen an. Verwundert fragte ich mich zunächst, ob ich mich vielleicht verhört hatte. Alles noch einmal zusammenfassend wiederholte ich:

<< Um Sie recht zu verstehen. Sie bekommen Besuch von einem ihrer Patienten, der vor nicht allzu langer Zeit noch Insasse ihres Psychiatriekomplexes war und sich vertrauensvoll und Hilfe suchend an Sie wendet, ihnen davon berichtet, bereits über Wochen Opfer von gewalttätigen Übergriffen geworden zu sein. Und Sie behaupten, nicht helfen zu können? >>

Insgeheim unterstellte ich ihm natürlich bereits, mir nicht helfen zu wollen. Das demonstrative Desinteresse stand im krassen Gegensatz zu seiner zur Schau gestellten Freundlichkeit.

 

Ganz klar: Wenn er gewollt hätte, hätte er gekonnt. Auch ich kannte mittlerweile die Gesetze. Schließlich waren diese in meinem Fall rechtswidrig zur Anwendung gekommen. Aber er hatte gar kein Interesse daran, mich in irgendeiner Form ernsthaft zu unterstützen. Das stellte einmal mehr alles, woran ich in dieser Welt zu glaubte, auf den Kopf. Sein Verhalten zog mir23 den Boden unter den Füßen weg. Das Entsetzen stülpte sich über meinen Kopf, Blut dröhnte mir in den Ohren, mein Körper wurde gefühllos. Hätte ich nicht bereits gesessen, wäre ich umgefallen. Mein Gesicht fühlt sich in solchen Momenten immer so an wie, als hätte ich gerade eine Betäubungsspritze bekommen.

<< Was soll ich denn da machen? >> hakte er nach, als wenn er noch einmal bekräftigen müsste, dass ihm ganz real die Hände gebunden seien.

Ich konnte nicht mehr sprechen, und bekam auch nicht mehr wirklich mit, was er als Nächstes sagte. Alles war ganz, ganz weit entfernt.

 

Vermutlich erklärte er mir noch einmal (wie einem Kleinkind) dass ich die Patientin war.24 Es folgten einige Minuten Schweigen meinerseits. Völlig überfordert sah ich erst einmal nur noch aus dem Fenster. Um die Kontrolle über mich und die mir entglittene Situation wieder zurück zu erlangen, konzentrierte ich mich auf das Naheliegendste: meine Sinneswahrnehmungen. Das Gras war tatsächlich immer noch grün, der Himmel grau und bedeckt. Die sich im Wind bewegenden Blätter der Bäume vor dem Fenster gaben mir meinen inneren Frieden zurück. Ich traf eine Entscheidung: Ich musste hier raus. Denn: So kam ich (- gab es überhaupt noch ein Wir? In dem Fall würde man sagen: So kamen wir) nicht weiter.

 

Im Kopf überschlug ich die mir gegebenen Möglichkeiten. Sollte ich jetzt auch noch seinen Job als Arzt besser machen als er? Ihm Dinge vorschlagen und ein Konzept dafür ausbreiten, wie er mir helfen könnte? Außer ihm seine Inkompetenz vorzuhalten, fiel mir nichts ein. Das wäre ihm sicherlich nicht angemessen erschienen, schließlich war er der Allmächtige und nicht ich. Und nicht ich hatte das Denken gepachtet, weil von der Universität mitgebracht, sondern er. Ich war nur Patientin. An seinem Status durfte man selbst dann nicht zweifeln, wenn man einen (oder gleich mehrere) gute Gründe dafür hatte. Ich schwieg mich also aus und ging, erfüllt von verzweifelter Perspektivlosigkeit. Mein Kopf war leer. Rein theoretisch hätte er mich zumindest zur Polizei begleiten oder diese für mich von seinem Büro aus anrufen müssen, um mich aus der Gefangenschaftssituation zu befreien.

 

Statt dessen hatte er ein so großes Interesse daran bekundet, mich lieber wieder selbst bei sich einzusperren, dass ich davon absah, seine "Hilfe" weiter in Anspruch nehmen zu wollen. Mühsam beherrscht wies ich darauf hin, dass ich mich "wieder bei ihm melden" würde, wenn ich dazu bereit sei, sein Angebot in Anspruch zu nehmen. Das schien ihm zu genügen. Glücklich verabschiedete er sich: ich durfte gehen. Erleichtert verließ ich den Raum. Dabei musste ich mich ganz ernsthaft darum bemühen, nicht zu rennen. Und da saß es, mein Problem, in Zeitschriften blätternd. Fast hätte ich aufgestöhnt. Ach jaa! Den hatte ich in meiner Panik vor diesem Psychiatriearzt schon fast wieder vergessen. Diese Aufgabenstellung wartete jetzt auch noch auf mich. Sie stand ganz oben auf der Prioritäten Liste, rot unterkringelt. Aber nicht jetzt. Erst einmal musste ich hier weg. Und das so schnell wie möglich.

 

Das war so ganz und gar nicht nach Plan verlaufen. Alles war blöd! Ich fragte ihn, wieso wir eigentlich hierher gefahren waren. Um im Restaurant einen strammen Max zu bestellen, oder wie? Er tat so, als ginge ihn das gar nichts an? Keine Antwort. Also doch die Trennung. Die einzige Alternative. Das schien er zu ahnen. Wahrscheinlich hockte er genau deswegen seitdem wie eine Glucke an meiner Seite. Egal, wo ich hin ging, er folgte mir25. Wenn wir nebeneinander saßen, schlief er vollkommen erschöpft auf meinem Schoß (oder an meiner Schulter) ein. Plötzlich war er nur noch lieb und gab mir gar keinen Grund mehr, vor ihm Angst zu haben. Auf einmal sollte alles gut werden?? Zufällig ich hörte ich ein paar Tage später mit, wie die angebliche "Ex" eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprach

<< Ich liebe dich, komm zurück >>

 

An einem Tag Anfang Dezember war es dann soweit: Nichts war vergessen, nichts geklärt. Also kündigte ich ihm an, ein ernstes Gespräch führen zu müssen. In genau diesem Augenblick klingelte es an der Tür: Unverhofft gewährte seine Süße um Einlass. Den Kopf zur Türe noch einmal herein steckend erklärte er, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen. Zornig sah ich den beiden hinterher. Diese Tussi war ihm anscheinend wichtiger als ich, wenn er in genau diesem Moment das Weite mit ihr suchte.

 

Ich hinterließ einen Brief: " Habe die Prüfung scheinbar nicht bestanden." Damit brachte ich meine begründeten Zweifel an dieser Beziehung zum Ausdruck. Dass ich ebensolche hatte, war für ihn immer ein Synonym für ein angebliches nicht-richtig-lieben gewesen. Wenn Du dies und jenes nicht für mich tust, an mir zweifelst, liebst du mich nicht richtig - eines seiner dämlichen Spiele. Er hatte mein Vertrauen regelmäßig geprüft. Wie früher meine Klassen,- und Spielkameraden es getan hatten, verlangte er von mir, Mutproben zu bestehen.

 

Da waren z.B. seine Waffen, für die ich mich als lebende Wilhelm Tell artige Schießscheibe zur Verfügung stellen musste. Oder die ganzen Substanzen, die er mir einflößte, von Schlaftabletten über Polamidon den ganzen Scheiß. Ich tat, was er von mir verlangte. Sträubte ich mich, sah er darin einen Verrat meinerseits seiner Liebe gegenüber, die er auf den Prüfstand stellte. Wenn du mich liebst, tust du alles für mich. Was für ein Schwachsinn! Genau das hatte ich ihm immer wieder gesagt, aber er bestand darauf. Dass ich physischen Schmerz aushalten konnte, ohne dabei mit der Wimper zu zucken, dass ich mir, während er mir glühende Zigaretten auf die Haut drückte, auch noch dazu Zeit nahm, ihn voller Verachtung anzusehen, schien ihm Angst ein zu jagen. Mein zuwenig-an-Reaktion war ihm ein Grusel.

 

Scheinbar sollte ich nun auch noch damit leben können, dass er ebenso mit seiner Ex zusammen sein wollte wie mit mir? Das sollte meiner Liebe zu ihm keinen Abbruch tun? Ich sollte weiterhin vertrauen? Deshalb schrieb ich zum Abschied diese Notiz, diese letzte "Prüfung" nicht bestanden zu haben, griff mir mein immer noch gepacktes Survival Täschchen und ging. Keiner hielt mich auf. Wie oft war ich in Gedanken diesen Tag immer wieder durchgegangen. Mein Herz raste, als ich durch das Dorf schlenderte. Wieder wurden die Beine weich, ich konnte kaum noch gehen, musste mich erst mal hinsetzen. Aus unerfindlichen Gründen sah ich auf die Uhr, es war 14:18. Dann war es 14:23, 14:24. Ich stand auf und ging weiter. Nicht, dass er mich vielleicht doch noch aufhalten würde! Ich musste hier weg.

 

Am Kreisverkehr sah ich sie herum fahren. Eine kleine, liebenswürdige, harmonische Familie, deren Frieden ich zerstören würde, bliebe ich. Der Anblick über ihr trautes Zusammensein versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Das war sie also, meine große Liebe und da fuhr sie vor mir davon. Daumen raus, stellte ich mich an die Straße Richtung Holland. Ich hatte nicht das Bedürfnis, wieder nach "Hause" zu gehen, Ihr den Platz streitig zu machen. So war es doch alles in allem eigentlich ganz gut. Ich hatte zwar meine große Liebe verloren, aber: wollte ich ihn wieder haben? Nein. Nein? Oder Nein! Bloß nicht die Zielgerichtetheit meiner Entscheidung in Frage stellen. Vielleicht gab es irgendwo ein Ja, aber das wollte ich nicht zulassen. Nein, nein, nein, NEIN! Auf keinen Fall. Eine Stunde später war ich nicht mehr in Deutschland. Nach einer weiteren Stunde hielten zwei sympathische Typen in einem hellgrünen T3, und erlösten mich aus der Kälte, in der ich stand. Gewissensbisse plagten mich. Ich bekam eines dieser neumodischen Mobilfunktelefone in die Hand gedrückt und konnte ihn damit anrufen. Ich musste wissen, ob es ihm gut ging!

 

Er nahm den Hörer ab. Ohne mich mit irgendwelchen Begrüßungsformeln aufzuhalten, sagte ich:

<< Ich liebe dich und ich bin auf dem Weg nach Frankreich... >>

Mich gar nicht richtig erst zu Wort kommen lassend erwiderte er arrogant:

<< Du kannst deine Sachen hier abholen kommen, ich bin wieder mit meiner Elfe zusammen >>

Das war jawohl ein schlechter Witz! Nein? Es war gar kein Witz gewesen? Ui. Umzukehren hatte ich zwar eh nicht vorgehabt, aber jetzt gab es auch gar keinen Grund mehr dazu. Ich brauchte nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben, meine Intuition hatte mich nicht betrogen: Er hatte wieder etwas mit ihr.

 

1 (-> höchst wirksam: einfach denjenigen festhalten, den man nicht gehen lassen möchte)

2 (zumindest dann, wenn gerade kein Spiegel in der Nähe war)

3 (demonstrative, rein äußerliche)

4 ("Missbrauch" ist nicht zwingend physisch)

5 (empfindsam Anm. d. Übers.)

6 (dabei unentwegt in trauten Dialog mit seinen eigenen imaginären Gesprächspartnern debattierend)

7 (- bla, ganze Sukunft schwarz - blabla)

8 (eine weitere Besonderheit in seinem Verhalten und Denkmuster schien, die Welt in (metaphorische) Scheibchen zu schneiden. Dass B (mein Trennungswunsch) mit A (seinen Schlägen) zu tun haben sollte, brachte er nicht voreinander. Er trennte die Ereignisse fein säuberlich, was ihn zu dem Schluss kommen lies, nicht er, sondern ich habe mich falsch verhalten)

9 (gibt es, wie beim Alkoholismus und dem hier bekannten Co-Alkoholikertum auch eine Art Co-konfus-sein?)

10 (deshalb nennt man das ja auch: Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen! Die Menschen, die sich davor scheuen, glauben immer, das einzige Problem, welches sich stellte, sei das Verteilen von Schuld. Schuld ist in diesem Fall irrelevant und deshalb auch irre-führend)

11 (das gab doch so hässliche Flecken)

12 (So ein Witzbold - als wenn das einen Unterschied machte - natürlich war er in dieser Ecke des Zimmers nicht weniger Idiot!)

13 (den hatte er immer, man sah ihn nicht vorher)

14(so wird es genannt, wenn eine der anderen Persönlichkeiten das Ruder übernimmt)

15 (welch gruselige Vorstellung, was, wenn er mich mit einem oder zwei kaputten Beinen gefangen halten würde!)

16 (Ich fand bloß einige läppsche Gürtel und Bademantelkordeln, nicht besonders vertrauenerweckend)

17 (... ganz ehrlich? Das war doch eine Utopie! Der Typ war krank! Und selbst dann, wenn er sich selbst glaubte, was er erzählte, waren es trotzdem alles Lügen! Was wirklich zählt, das sind nicht die Worte, die jemand macht. Was wirklich zählt, das sind Taten. In Taten spiegelt sich unsere wahre Haltung wider. Und? Wie hatte er sich verhalten?)

18(von mir ist die Rede)

19 (ich hätte gehen sollen, und zwar nicht nur zur Polizei, sondern gleich nach Uruguay !!!)

20 (und zum Leidwesen des Fragers auch in vollständiger Länge)

21 (in einem Dorf wie diesem hätte mich sonst jeder sofort erkannt)

22 (der war rot/pink - was übrig blieb, war grün)

23 (wieder einmal erlebte ich dieses Gefühl des-von-allen-guten-Geistern-verlassen-Werdens und dem daran anschließenden Lost-in-Space-Sein)

24 (und er nur darauf wartete, dass ich mich wieder in den schützenden Schoß seines Reiches begeben würde)

25 (...nervt übrigens, und zwar total)

 



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