13. uff Jück
Eine Pistole,1 ein Regencape, eine Landkarte, Isomatte, Feuerzeug. Zwei Butterfly-Messer, eine lange Unterhose; Unterhemd und ein paar Socken zum Wechseln,2 eine Packung Aspirin und logischerweise meinen Ausweis. Das war mein Reisegepäck. Am Körper trug ich eine strapazierfähige Lederhose und einen warmen, bis zum Oberschenkel reichenden, schwarzen Filzmantel. Auf dem Kopf saß ein breitkrempiger schwarzer Hut, den mein Vater mir geliehen hatte und mir nun bei Wind und Wetter gute Dienste erweisen würde.3
Die beiden Männer in der Front des T3 lachten:
<< Nach Frankreich! Mitten im Winter! Hahahahaa!! Du bist ja lustig. Nein, du bist verrückt! Du wirst niemals dort ankommen. >>
Sollten sie glauben, was sie wollten. Mir von dem beiden Angst einjagen zu lassen, bestand keine Notwendigkeit. Ich hatte nichts zu verlieren. Vielmehr wollte ich möglichst weit weg von ihm4. Trotzdem er mir gerade eben offiziell einen Laufpass gegeben hatte, machte es Sinn, meine "Flucht" weiterhin als solche wahrzunehmen.
Der Jeck5 konnte in einem Moment etwas voller Überzeugung behaupten und im nächsten Augenblick bereits zum Gegenteil übergehen, ohne dabei mit sich selbst in einen inneren Konflikt zu geraten. Er war wieder mit seiner Ex zusammen. Damit sollte alles gut sein. Trotzdem hatte ich mich in den letzten Wochen derart intensiv darauf vorbereitet, blitzartig verschwinden zu müssen, dass bei mir jetzt nur eines auf dem Plan stand: weg. Weg von ihm, weg von der Familie, weg von allen, die mich einsperren, maßregeln, mir Gewalt antun, mein Leben zu nehmen versuchten. Dazu begab man sich damals traditionell ins Ausland.6
Der Nächste, der mich in seinem Auto mitnahm, war Holländer. Ein aufrichtiger und freundlicher Mensch. Ins Gespräch gekommen, erzählte ich ihm ein wenig von meinen Absichten, alles hinter mir zurück zu lassen, so lange und so weit fort zu gehen, bis meine eigene Vergangenheit mich nicht mehr einholen würde. Seit Jahren schon hegte ich den Traum, in Kulturen anderer Länder einzutauchen, um etwas über fremde Sitten und Gebräuche zu lernen. Wenn diese sich von unseren unterscheiden würden, konnte das nur positiv sein. Herumzureisen und mir die Welt anzusehen bedeutete, das Leben ganz neu zu erfahren. Auf der Zukunftsträume-Bestenliste befand sich diese Idee gleichauf mit der des Eremitenlebens auf einem einsamen Berg. Meine Reise sollte also nicht nur eine heillose Flucht, sondern auch die Erfüllung einer meiner größten, lang gehegten Wunschträume werden. Selbst wenn der Winter zugegebenermaßen vielleicht nicht gerade die ideale Jahreszeit dafür war.
Dieser herzensgute Mensch machte sich plötzlich große Sorgen. Er brachte zwar Verständnis dafür auf, dass ich weggelaufen war, mahnte aber unentwegt, dies sei für eine junge Frau wie mich so allein doch "viel zu gefährlich". Bei ihm im Auto zu sitzen oder im Winter an der Straße zu stehen empfand ich aber als sehr viel ungefährlicher als das, was mich "zu Hause" erwarten würde.
<< Haben sie denn niemanden, zu dem Sie gehen können? Ihre Mutter! Gehen Sie zu ihrer Mutter! Ich bringe Sie hin. Sollen wir irgendwo anhalten und sie anrufen? >>
Wie schön, dass es auch noch Menschen gab, die ihr Elternhaus als einen sicheren Ort empfanden.
Meine Mutter..., die war doch Teil der Hetzkampagne! Durch meinen Psychiatrieaufenthalt hatte sich das nicht unbedingt zum Besseren gewendet. Eher im Gegenteil: dem Gerede über das missratene Kind hatte das sogar noch einen ganz entscheidenden Auftrieb verliehen. Zu ihr sollte ich gehen? Bei der Vorstellung musste ich lachen. Ob ich nicht irgendwelche Vertrauten hätte, zu denen ich könnte. Mir fiel niemand ein. Wen sollte es da geben? Vertrauen? Das hatte ich nur noch zu mir selbst. Nicht jetzt sofort und auf der Stelle helfen zu können, stimmte ihn traurig. Bald trennten sich unsere Wege. Ich bedankte mich.
Es wurde bereits dunkel. Zitternd vor Kälte stand ich an einer Raststätte bei Appeldoorn. Die Entbehrungen und Anstrengungen dieser Odyssee sollten mich, solange sie währten, davor bewahren, mir über das, was passiert war, Gedanken zu machen. Wer sich den Arsch abfriert, hat keinen Raum dafür, zu jammern oder zu trauern. Das schützte mich vor den Erinnerungen. Ein LKW mit weihnachtlich bunter Beleuchtung und einem Haufen süßer Stofftierchen hinter der Windschutzscheibe hielt an. Der Fahrer winkte mir zu. War das ein rollender Puff? Ich stieg nicht ein. Ein anderer hielt, wie vom Himmel geschickt. Jean Paul hieß dieser Engel und er fuhr Richtung Antwerpen.
Eigentlich vertraute ich Niemand über zwanzig, der mich dazu einlud, bei ihm zu zu übernachten. Nun musste ich mit dem arbeiten, was die Situation hergab. Jean schien ganz in Ordnung zu sein. Er spendierte ein Getränk, bot Nahrung an. Leider wurde mir bereits von diesem einen Schluck Cola speiübel, weshalb ich auf alles andere dankend verzichtete. In gebrochenem Deutsch (mit einem stark französischen Akzent) versuchte er weiterhin, mich zum essen zu überreden. Ich schüttelte den Kopf, worauf er verstummte. Überhaupt schien er sehr ruhig, sprach kaum mehr als notwendig. Vielleicht spürte er instinktiv, was mit mir los war.
Tief in in Gedanken versunken fühlte ich mich hundeelend. Die ganze Zeit war mir schlecht. Bereitwillig bot mir JP an, die obere Liege in seinem LKW zum Schlafen nutzen zu dürfen. Mit seinem massigen Körper belegte er das untere Stockwerk. Die Füße in den einen Ärmel meines Mantels steckend versuchte ich, mich mit dem Rest davon einigermaßen zuzudecken. Irgendwann schlief ich ein, wurde aber sofort von Alpträumen geplagt, um von meinem eigenen Schreien wieder auf zu wachen. Als ich versuchte, weiter zu schlafen, fuhr ich immer wieder unter lautem Stöhnen zusammen. Sobald ich einnickte, stieg aus meinem Unterbewusstsein sein Gesicht empor. Vorsorglich legte ich eine Kotztüte neben mich auf die Pritsche. Aus Angst, JP zu stören, blieb ich lieber wach. Nicht dass er auf die Idee kam, irgendwelche Weiß-Kittel hinzuzuziehen. Sie würden mich angreifen, an mir herumzerren und mir Drogen verabreichen. Ich wollte weder angegriffen, noch eingesperrt, noch Zombie werden.
Fröhlich standen wir am nächsten Morgen gemeinsam auf. Nun zog ich ihn ins Vertrauen. Zeigte ihm meine noch nicht ganz verheilten Wunden und frischen Narben, erzählte ihm von meinen Problemen, erklärte, warum ich in der Nacht kein Auge zu getan hatte. Ihm gefiel das alles ganz und gar nicht. Er erzählte irgendetwas von der Polizei. Ich tat erst so, als könne ich seinen Ausführungen nicht ganz folgen, um dann, als er zu insistieren versuchte, energisch zu widersprechen. Nein, ich wollte nicht zurück! Hier ging es mir gut! An ein Zurück wollte ich nicht einmal denken! Er sah, wie entschlossen ich war, was ihn wieder verstummen lies. Trotzdem nahm ich beim nächsten Stopp an einer Raststätte von einer Telefonzelle aus erneut Kontakt zu dem Zurückgebliebenen auf. An Error occured.
Warum? Um das ansatzweise nachvollziehbar zu gestalten, muss ich mich im Besonderen erklären => Manchmal komme ich mir tatsächlich vor wie eine Maschine. Eine, die unflexibel und unerbittlich ein einmal eingegebenes Input befolgt (auch dann, wenn es keinen Sinn ergibt). Diese Eigenschaft kann einen zwar unglaublich zuverlässig - aber auch zu einem starrsinnigen Pendanten machen. Wer sich mit mir unterhält, muss beispielsweise fest damit rechnen, dass ich bei einer ungenau gewählten Ausdrucksweise wie eine blöde Oberlehrerin noch einmal alles hinterfragen muss. Da hilft auch der mir dann oft begegnende Spruch: "Du weißt schon, was ich meine" nicht.
Mit dieser Eigenart hatte ich mir als Kind schon keine Freunde gemacht, es aber trotzdem bis heute nicht geschafft, sie vollständig abzulegen. Dinge nehme ich oft absolut wörtlich.7 Ein Charakterzug, den viele als einen Mangel betrachten, andere wiederum als wertvoll. Sagte ich etwas, dann tat ich es auch. Ähnlich verhält es sich mit Gefühlen: Solche sind bei mir eher rar gesät, haben aber, wenn sie auftreten, nichts (wie einem normalen Menschen) diffuses, nicht greifbares weil unterbewusstes, sondern unübersehbar, stark und klar.
Selbst wenn Tatsachen, die zu einer Aussage geführt, sich änderten, stand ich zu dem, was ich gesagt. Um es deutlich zu machen: es handelt sich um einen Zwang. Schon seit vielen Jahren versuche ich daran zu arbeiten: an den Stellen, wo andere sich um Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit aufwendig bemühen, versuche ich mich zu überlisten, ein bisschen unzuverlässiger und weniger aufrichtig sein zu können. Bei mir genügt ein einfaches Wort.
Er aber musste alles "schwören" (oder andere schwören lassen). Immer waren irgendwelche hochtrabenden Szenarien notwendig. Lustig erschien mir die Tatsache, dass seine Schwüre allesamt rein gar nichts bedeuteten. Im Gegenteil: schwor er, konnte man sich hundertprozentig sicher sein, dass er log.8 Der Schwur, den er mir abverlangt, war: bei ihm zu bleiben, solange er mich liebte. Von diesem wollte ich jetzt offiziell entbunden werden, sonst würde mir das ewig nachhängen.
Seine Elfe nahm das Gespräch entgegen. Als sie merkte, wer sich am anderen Ende der Telefonleitung befand, fing sie direkt an zu keifen:
<< Duuu Familienkaputtmacherin! Dass du es wagst, hier anzurufen! Lass uns in RUHE!!!!! >>
Sachlich trug ich mein Anliegen vor. Da sie viel zu sehr mit Schreien beschäftigt war, musste ich mich mehrmals wiederholen. Als sie sich irgendwann doch endlich fürs Zuhören entschied, erklärte ich ihr erneut mein Ziel: von diesem Versprechen entbunden zu werden. Ob er mir bitte eben kurz einmal mitteilen könne, dass er mich nicht liebte?
Dieser Spinner hatte darauf bestanden, ihm das Ganze schriftlich zu geben und mich obendrein auch noch mit meinem eigenen Blut unterschreiben lassen. Was für ein Theater, ... und gerade in meinem Fall so absolut überflüssig! Ich wollte mich nicht mehr9 an ihn gebunden fühlen. Also musste er es sagen! Als sie endlich verstanden hatte, woran mir lag, wollte sie mir zuerst nicht glauben. Dass ich wirklich so dämlich sei, konnte sich einfach nicht vorstellen.10 Sie hätte ihm wohl nie den Telefonhörer in die Hand gegeben, um uns um jeden Preis voneinander fern zu halten. Wobei ihr das, was ich vorschlug, andererseits aber auch gefiel. Das gab guten Stoff für Geschichten, von denen man sich versprechen konnte, hinterher jahrelang etwas zum Lästern zu haben.
Sie bekam einen (sehr nach schäbiger Schadenfreude klingenden) Lachanfal und ich meinen Willen. Brav sagte ich mein Sprüchlein auf:
<< Hallo, ich bins. Also: ... sag mir bitte, dass Du mich nicht liebst. >>
Brav sagte Er zu mir:
<< Ok. Ich liebe dich nicht. >>
<< Alles klar. Danke! >>
Prima! Nun war ich offiziell von meiner Pflicht entbunden. Und Tschüss!
Bei Jean Pauls Firma in Antwerpen angekommen, luden wir neue Last auf. Damit wollte er bis nach Liége weiterfahren. Luxemburg, das lag genau auf meinem Weg, freute ich mich und beschloss daher einfach weiter bei ihm zu bleiben. Auf einmal hatte ich jedoch wieder mal ein so komisches Bauchgefühl, welches immer dann auftrat, wenn einer dringend meine Hilfe benötigte. Mehr, als dass jemand in Gefahr war, den ich (gut) kennen musste, erfuhr ich nicht. Obwohl wir eigentlich schon Pläne geschmiedet, seine ganze Tour bis nach Spanien runter gemeinsam abzureißen,11 verabredete ich mit JP, mit seinem Kollegen Christophe am darauf folgenden Tage wieder rauf ins deutsche Land zu reisen. Abends tischten die beiden mir einen Teller Spaghetti mit Tomatensoße auf. Aber mir war immer noch schlecht. JP drohte, mich nicht mit nach Barcelona zu nehmen, wenn ich keine Nahrung zu mir nehmen würde.
<< Du siehst aus wie ein Geist. >> sagte er ernst.
Ich versuchte herauszufinden, was mein Bauchgefühl zu bedeuten gehabt hatte. Vom Bürotelefon der Firma denHartogh rief ich Jaeck an. Ich musste wissen, ob bei ihm alles in Ordnung war. Er ging ans Telefon. Da ich aber gar nicht wusste, was ich sagen sollte, beschränkten sich meine Worte auf die Begrüßung:
<< Hallo, ich bins. >>
Wenn etwas Schlimmes passiert wäre, würde er mir das sicher sofort erzählen.
<< Äh, ja. Du kannst aber jetzt nicht mehr bei uns pennen! >>
Seine Äußerung verwirrte mich. Warum to hell sollte ich bei ihm übernachten wollen?
<< Ich bin in Antwerpen. >> klärte ich ihn auf.
Was sollte ich sonst sagen? Ich esse gerade keinen Teller Nudeln? Ich sah auf den Teller mit den bereits kalt gewordenen Albinowürmern. Jean Paul und Christophe rannten draußen im Dunkeln hin und her, beluden ihre LKWs.
<< Musst Du denn immer lügen? Kannst du nicht anders, als dauernd irgendwelche Geschichten zu erfinden? >> regte er sich auf.
<< Nein, ich bin wirklich in Antwerpen! >> sagte ich.
<< Ach Mann, erzähl doch keinen Scheiss! >> erwiderte er.
In diesem Telefongespräch sah ich allmählich keinen Sinn mehr. Wenn er mir etwas Wichtiges sagen wollte, hätte er nun mehr als genug Zeit dafür gehabt, es zu äußern. Da er es nicht tat, zog ich daraus den Schluss, dass bei ihm alles in Ordnung sei. Dann, wunderte ich mich, musste mein Bauchgefühl mit einer anderen Sache zusammen hängen. Scheiß drauf, sollte er doch glücklich werden. Dass er mich der Lüge bezichtigte, ärgerte mich zwar, aber änderte nichts. Kurz angebunden verabschiedete ich mich und legte auf. Die gingen mir echt total auf die Nerven.
Tags drauf fuhr ich dann mit dem jungen französischen12 Kollegen nach Oldenburg. Das war so die Gegend, der zu begegnen ich eigentlich zu vermeiden versuchte. Bei der Vorstellung, gen Heimat zu tuckern, fühlte ich mich nicht wohl. Mir war immer noch nicht klar, weshalb ich den Drang dazu verspürt hatte, zurückzukehren. Unschlüssig, was genau ich eigentlich jetzt mit mir anfangen sollte, fragte ich Christophe nach dem Ziel seiner Fahrt. Coooool, ich war noch nie in Dänemark gewesen. Bauch hin oder her. Auch egal.
Christophe war ein unheimlich lieber Mensch. Obwohl er auf Tussen genau so wenig Bock hatte wie ich auf Kerle, was wir gleich zu Anfang unserer Reise einvernehmlich klargestellt hatten, hatte ich ihn insgeheim richtig gern. Manchmal unterhielten wir uns - in einem anarchistisch anmutenden Kauderwelsch aus französisch und deutsch. Sein Zigarettenvorrat wurde gewaltig geschröpft, was ihn nicht zu stören schien. Wieder schlief ich auf der oberen Liege unterm LKW-Dach. Mann, war das kalt da oben im Norden. Am nächsten Tag fuhren wir erneut Richtung Deutschland. Christophe musste zu seinem Chef, welcher keine mitfahrenden AnhalterInnen duldete, also blieb ich in Hengelo. Dort klopfte ich beim nächstbesten LKW an. Da ich es derweil mehr nicht anders gewohnt war, textete ich den Fahrer erst einmal auf französisch voll. Huh! Der Mann sprach ja englisch! Umdenken, schnell schnell. Gehirn? Ou est ce que you? Noch vorhanden? Nein?
<< Nuschelnuschel, mmh,... Osnabrück? >> stammelte ich aufgeregt.
Erst wolle er nach Flensburg, danach Richtung OS. Ich fackelte nicht lange, stieg ein. Diesmal aber gegenüber! Ganz schön verrückt, diese Schotten. Haben glatt das Steuer auf der falschen Seite. Wir tranken eine Flasche italienischen Wein. Auch Davy war ein sehr netter Mensch. Baggern oder unzüchtig zu grabschen unterließ er. Gut für ihn. Statt dessen erzählte er von seiner Familie in Schottland, fünf Kindern und so weiter.13 Als ich am nächsten Tag auf dem Beifahrersitz14 wach wurde, erklärte er mir besorgten Blickes, dass ich, während ich geschlafen hatte, um mich geschlagen und dabei geschrien hätte. Das überraschte mich nicht. Nun zeigte ich auch ihm die gerade erst frisch verheilten Wunden. Wies ihn an, sich um mich keine Sorgen zu machen, schließlich sei ich hier bei ihm und habe auch nicht vor zu dem Verursacher dieser Verletzungen zurückkehren. Da lachte er, freute sich und versprach, gut auf mich Acht zu geben. Darüber lachten wir dann gemeinsam. Es war fast wie ein Pakt, den wir geschlossen hatten.
Aber: So schlimm die Zeit des täglichen Wahnsinns, den ich gerade hinter mir gelassen hatte, auch gewesen war, ich liebte Ihn immer noch - und das hörte, bloß weil ich es so beschlossen hatte, nicht einfach so auf! Diese innere Zerrissenheit machte ganz schön zu schaffen. Was mir wirklich etwas ausmachte, waren nicht die schlimmen Erinnerungen, sondern gerade die schönen. Diese nicht mehr erleben zu dürfen, tat mehr weh als alles andere. Diese Tatsache behielt ich wohlweislich für mich, zumal sie nicht nur mein Gegenüber verwirrt hätte, sondern auch mich selbst. Sich zu jemanden zurück zu sehnen, der einen so schlecht behandelt hatte, war zu verrückt, um es laut auszusprechen.
Davy teilte bereitwillig Zigaretten irgendeiner schottischen Marke mit mir. Ich qualmte eine nach der anderen, bekam davon Kopfschmerzen und qualmte noch mehr. Immer wieder fragte ich ihn nach einer neuen, das war schon fast peinlich. Aber sie beruhigten und alles was beruhigte, war gut. Eine Einladung zum Essen schlug ich aus, was ihn traurig stimmte. Er wollte sich als Freund erweisen und ich machte ihm das schwer. Selbst meine dauernden Scherze wollten ihn plötzlich nicht mehr aufmuntern.
Auf der Fahrt nach OS bemerkte ich aufgrund von Zahnschmerzen, dass ich die ganze Zeit über die Zähne mit aller Gewalt zusammenpresste. Davon waren sie ganz locker geworden und wackelten. Es war ein ähnliches Gefühl wie beim Zahnwechsel während der Kindheit, nur dass damals nicht gleich alle Zähne auf einmal gewackelt hatten. Ohje. Kurz darauf entdeckte ich, als ich mich im Spiegel betrachtete, dass meine Stirn ganz rot und total geschwollen war. Erst schreckte ich vor meinem Spiegelbild zurück, bevor ich es mir erneut anzusehen bereit war. Was war das denn? Ich betrachtete mich genauer. Wahrscheinlich waren es körperliche Reaktionen auf die Sorgen und innere Anspannung. Das würde vorübergehen, beruhigte ich mich. Nicht schlimm.
In OS startete er noch einen letzten Versuch und lud mich ein, fünf Wochen Urlaub mit ihm und seiner Familie in Schottland zu verbringen. Das meinte er ernst! Dankbarkeit durchflutete mich. Trotzdem verneinte ich dankend. Nun war er noch viel beleidigter, was mir sehr Leid tat. Aber auch im Nachhinein bereute ich diese Entscheidung nicht. Die Sache mit dem Pariser, den er statt einem Familienphoto in seinem Portmonee mit sich herum trug, war mir nicht aus dem Kopf gegangen. Ebenso hatte ich festgestellt, dass ich ihm ernsthaft zu gefallen schien. ... Oh nein, bloß nicht. Für den Augenblick hatte ich schon genug Scheiße an den Hacken.
In OS traf ich (O Wunder, O staune, er war noch gar nicht in Spanien) meinen Bruder und seine gerade frisch gebackene, neue Pflaume. Alle Freunde aus der Gegend schienen sich bei ihr zu treffen. Wir begrüßten uns herzlich und konsumierten zu diesem Anlass allerlei, mit dabei sogar: eine Flasche Champagner.
Meinem Bruder hatte ich bereits Wochen vorher Rat suchend von dem Scheiß, den ich mit Jaeck erleben durfte, berichtet. Er war die einzige Person, zu der ich in der Zeit einen Kontakt hatte initiieren dürfen. Beziehungen zu anderen Menschen waren nicht erlaubt. Daher war er auch der Einzige gewesen, dem ich mich deswegen anvertraut hatte. Zu diesem Anlass hatte er in Form eines Achselzuckens reagiert: das war nicht sein Problem.
Die an diesem Abend stattfindende Zusammenkunft war schön. Endlich konnte ich mal wieder lachen! Über Probleme sprach ich überhaupt nicht. Trübsal zu blasen half niemandem, auch mir nicht. Ich wollte damit abschließen. Als ich morgens früh aufstand, schien als einzig weitere Person mein Brüderchen schon auf. Er rumorte in der Küche. Vom Hunger getrieben stand ich auf, wollte nachsehen, ob sich etwas Anständiges zum Verspeisen würde auftreiben lassen. Vielleicht lag ein altes Stück Brot herum, dass keiner mehr essen wollte oder so. Völlig egal. Hauptsache, es würde den Magen füllen. Schließlich hatte ich seit ein paar Tagen nichts mehr gegessen. Als er sah, wie ich mich anpirschte, musterte er mich, als sei ich irgendein Fremdkörper.
<< Guten Morgen. >> sagte ich.
<< Ja. >> antwortete er ziemlich abweisend.
Schweigen, in welchem ich mich über diese so unübliche Antwort wunderte. Was viel wichtiger war: machte er gerade Frühstück? Ich auch, ich auch, klatsche mein Magen zu dieser glorreichen Idee seinen Beifall.
<< Ah, übrigens, vorgestern hat dein Freund bei den Eltern angerufen und nach dir gefragt. Er wollte unbedingt wissen, was du machst und wie es dir geht. >> wusste er zu berichten.
Darüber musste ich lachen. Es klang nicht fröhlich. Er fand es scheinbar auch nicht witzig, wenn auch aus ganz anderen Gründen als ich. Nun fing er zu belehren an:
<< Ja. Du bist einfach abgehauen. Das hat ihn völlig fertig gemacht. Er war ganz in Sorge. Warum machst du denn so was! >>
Das sollte auch mein Bauchgefühl erklären. Also machte er wieder Dummheiten.15 Trotzdem wurde ich böse. Was sollte dieses doppelte Spiel?
<< Du, weißt du was? Das ist nicht alles so gut gelaufen. Der hat mich ziemlich scheiße behandelt. Du weißt ja gar nicht, was der alles mit mir gemacht hat! Lächerlich, jetzt so zu tun, als würde er sich um mein Wohlbefinden Gedanken machen. >> sagte ich.
Und stieß damit auf taube Ohren.
<< Es schien ihm wirklich etwas auszumachen. Er war in Tränen aufgelöst, ganz verrückt vor Angst um dich. Du solltest mit anderen Menschen nicht so rücksichtslos umgehen. Er hat für dich sehr viel getan, sich um dich gekümmert, weißt du? >> behauptete er nun.
Das wurde ja immer schöner!
<< Ach ja? Und sowas glaubst Du??? Der spielt doch... Theater! >> zickte ich.
<< Ja, das glaube ich. >>
Sein augenblicklich letztes Wort. Er drehte sich um und ging weg. Was für ein Schreck, und das auch noch am frühen Morgen. Das Hungergefühl trat wieder in den Hintergrund.
Zwei Stunden später startete ich in einem etwas ruhigeren Moment noch einen Versuch, mich deutlich genug mitzuteilen, damit er Bescheid wissen und nicht wieder so einen Stuss zu erzählen anfangen würde.
<< Du, ... ich muss dir da mal reinen Wein einschenken. Du siehst da etwas komplett falsch. Deshalb sage ich es dir besser noch einmal, damit du es verstehst: Der Typ,... weißt du? Der ist scheinbar nicht ganz richtig im Kopf. Er hat mich... 16 ... misshandelt! >>
<< Und ich sage dir jetzt auch einmal was >> sagte er daraufhin zu mir.
<< Du bist ein Arschloch! Dass du dir solche Geschichten über andere Menschen ausdenkst und hinter dem Rücken so über sie so redest, das finde ich richtig Scheiße! >> schloss er und wandte sich wieder ab, jegliches weitere Gespräch mit mir demonstrativ unterbindend.
Das also war die einzige Person, der ich glaubte, vertrauen zu können. Na prost. Viel später erst sollte ich mir zusammenreimen, dass meine Familie anscheinend große Stücke auf den Jaeck hielt. Sich hinter meinem Rücken regelmäßig über mich austauschend, im Rampenlicht des jeweils anderen sonnend, gegenseitig ihre Phantasiegeschichten zum Besten gebend. Anderen Beteiligten gegenüber präsentierte sich dieser Spinner als perfekter Mensch, so kannten sie ihn. Nur ich galt als bekloppt,17 weshalb er eines meiner Opfer darstellte.
Die arme Sau, sagte ich mir ironisch.18 Mein Gott, was hatte ich ihn ausgenutzt! Einen so anständigen Menschen, mit welcher Schuld hatte ich mich befleckt! Und jetzt wagte ich, schlecht über ihn zu reden? Selbstverständlich, war, was auch sonst, meine Wahrheit nur eine rein subjektive, wich aus diesem Grunde von der Mainstreamdiktatur ab. Genau das sollte nun wieder bestraft werden. Opferte jemand sich für mich auf, wie es mein Vater, ach was, .... sicher alle Familienmitglieder es aus ihrer subjektiven Sicht getan hatten, war das mein Dank. Ein weiterer Beweis, was für ein grottenhoffnungsloser Fall von einem schlechten Mensch ich war. Das musste mit Verachtung bestraft werden! Mein Bruder blies in seiner Unwissenheit in genau dasselbe Horn wie alle anderen auch. Und schon wieder wollte ich nur eines: weg.
Dieses Mal ging es tatsächlich einmal nach Köln. Dort angelangt versuchte ich, wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Bei Ethan und seiner Familie blieb ich für ein paar Tage. Die machten ganz große, entsetzte Augen, als ich ihnen irgendwann erklärte, warum es mir augenblicklich nicht so gut ging. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich nicht so fröhlich war wie alle anderen. Das Schlimmste (was ich nicht zugeben wollte) stellte für mich der Umstand dar, dass ich mich in Wirklichkeit sogar nach ihm sehnte! Trotzdem alle total nett waren, fühlte ich mich der Gesellschaft von Freunden, der Atmosphäre familiärer Fröhlichkeit einsamer, verlassener und unverstandener als je zuvor. Als ich noch an vereisten, dunklen und kalten Straßenrändern gestanden - hatte das Frieren mich getröstet. Mich davon abgehalten, etwas anderes zu fühlen als die grausame Kälte, die mir in die Glieder kroch. In dem Moment, als die Einsamkeit noch richtige Einsamkeit gewesen, machte sie mir nicht so viel aus. Nun war der Kontrast zu offensichtlich, um weiter übersehen werden zu können. Wie konnten die so unbeschwert und glücklich miteinander sein, während in mir die Welt zusammenbrach? Das und die vermeintliche Verpflichtung, diese Gefühle nicht offen zeigen zu dürfen, um die allgemein herrschende Fröhlichkeit nicht zu zerstören, trieb mich gerade fast in den Wahnsinn. Ich gehörte hier nicht hin. Alle waren so glücklich! Wieso konnte ich denn nicht einfach daran teilhaben? Wieso war ich so anders? Ich kam mir vor wie der Schandfleck auf der ansonsten weißen Weste dieser heilen Welt und schämte mich dafür.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, verkroch mich in ein leerstehendes Nebenzimmer. Dort hielt mir die Pistole an den Kopf, die ich bei ihm hatte mitgehen lassen.19 War das denn nicht schon beim letzten Mal eine dumme Idee gewesen? Aber es tat so weh! Als außer verheißungsvoller Stille nichts weiter dramatisches passiert, musste ich feststellen, dass die Pistole nicht funktionierte. Irgendwie waren alle meine Selbstmordversuche amüsante Erlebnisse. Auch dieses Mal musste ich lachen. Da macht man sich schon die Mühe, zaubert ein Riesendrama herbei und es macht nicht einmal Peng! Worüber ich gar nicht nachgedacht hatte:20 Wieso hatte ich nicht versucht, mit jemanden über meine Gefühle zu reden, niemanden um Hilfe gebeten!21 Was wäre, wenn ich Erfolg gehabt hätte! Vielleicht hätten diese wunderbaren Menschen, die mich so lieb aufgenommen, sich dann ewig schuldig gefühlt, selbst wenn sie ihren Schock darüber irgendwann überwunden hätten. Das alles bedachte ich zu dem Zeitpunkt nicht. Im Nachhinein schämte ich mich sehr dafür, mich so selbstsüchtig und verantwortungslos verhalten zu haben.
Seinen enormen Fundus an illegalen Waffen habe ich später irgendwann einmal bei der Polizei angezeigt. Vor allem, weil er damit ständig um sich schießen musste.22 Den Polizeibeamten gab ich auch die Namen von verschiedenen Zeugen, die aber gar nicht erst angehört wurden. Der Spinner durfte seine Waffen behalten. Ich denke, er besitzt sie immer noch, wenn er sie nicht bereits zu Geld gemacht und an irgendwelche Verbrecher weiterverkauft hat. Natürlich würde er nicht den Fehler begehen, sie bei sich zu Hause aufzubewahren! Er ist vorbestraft, gilt als gefährlich! Warum also dort danach suchen, wo man sicher sein konnte, eh nichts zu finden! Genau das ist passiert. Eine Hausdurchsuchung, damit hatte es sich. Wenn man, so wie er, "unzurechnungsfähig" in seiner Akte stehen hat, sollte man eigentlich keine offizielle Waffenbestizerlaubnis bekommen können.23
1 (aus seiner Sammlung)
2 (trockene Socken = warme Füße)
3 (um das Klischee vollständig zu machen: unter dem Hut trug ich ein schwarzes Halstuch mit Totenköpfen, welches ich mir, um meinen kahlgeschorenen Kopf warm zu halten, darum gewickelt und im Nacken zusammen geknotet hatte - )
4 (und dem in deutschen Krankenhäusern stehenden Weißkittel-Heer)
5 (Kölsch für Verrückter/Narr, Anm.d.Übers.)
6 (EU gab es noch nicht.)
7 (häufig, ohne dabei zu wissen, dass man sie auch anders verstehen kann)
8 (wenn er sich bei dem, was er sagte, hätte vertrauen könne, wäre ein Schwur auch gar nicht notwendig gewesen)
9 (auch durch irgendwelche bescheuerten Schwüre nicht)
10 (ja, das bin ich tatsächlich! Wie man sieht...)
11 (Wie ich gerüchteweise gehört hatte, war auch auch mein Bruder gerade auf dem Weg dorthin)
12 (dessen Deutschkenntnisse ebenso mickrig waren wie mein Französisch!)
13 (von da an machte ich mir auch keine Sorgen mehr, wobei ich mir aber die Frage stellte, warum er dann anstatt eines Photos seiner Frau und der fünf Kinder im Portmonee einen Pariser mit sich herum trug. Es kam mir nicht ganz logisch vor)
14 (der sich auf der linken Seite befand, dort, wo bei uns eigentlich der Fahrersitz ist!)
15 (später sollte ich herausfinden, dass er damals wieder damit angefangen hatte, zu junken)
16 (ich suchte nach den richtigen Worten, druckste eine Weile herum. Nein, da gab es nichts mehr zu beschönigen, ich musste die Dinge beim Namen nennen)
17 (das wussten ja alle schon seit vielen Jahren)
18 (mit einem langsam anwachsenden, irren Grinsen im Gesicht)
19 (er hatte ein ganzes Arsenal an Kurz und Langfeuerwaffen zu Hause, Schwarzmarktware)
20 (und auch gar nicht lustig ist)
21 (Vielleicht hätte ich das getan, aber die Angst vor der Psychiatrie beherrscht seitdem mein ganzes Leben - um Hilfe zu bitten hätte mich aller Wahrscheinlichkeit nach dorthin zurück gebracht)
22 (und es ja sicher auch nicht ganz ungefährlich ist, wenn so ein Idiot auch noch scharfe Waffen mit sich herumträgt)
23 (auch dann nicht, wenn man so wie er in einen Bibelverein eintritt, um dort regelmäßig öffentlich zu frömmeln. Das macht nämlich im Bezug auf die Moral, wie man bei den Priestern, Kardinälen und Bischöfen ja sieht, auch keinen großen Unterschied)