14. Suicide
Nach vier weiteren Tagen bei Ethan auf dem Sofa war ich wieder fähig, aufzustehen und herumzulaufen. Nun galt es, alte Kontakte wiederherzustellen. Auf dem Weg zu einem meiner Freunde1 wurde mir auf einmal schwarz vor Augen. Da beschloss ich, es lieber doch noch einmal mit etwas Essbarem zu versuchen. Kaum hatte ich Anton begrüßt, lautete sein erster Auftrag, ein Butterbrot zu kredenzen, welchen er ohne zu Zögern erfüllte. Nach zwei Bissen wurde mir natürlich schlecht, aber immerhin blieben sie bloß im Hals stecken und kamen nicht sofort wieder heraus... Na also, geht doch...
Anton schwärmte von irgendeiner neuen Band. Während unseres sehr herzlichen, lang andauernden Gesprächs hörten wir Disco Volante von Mr. Bungle. Das gefiel mir! Er war so nett, mir eine Kopie davon auf Band aufzuzeichnen. Alte Zeiten wurden wieder aufgewärmt, von den aktuellen Problemen berichtete ich nur bruchstückhaft - worüber er sich sehr betroffen zeigte. Aber, so konnte ich ihn beruhigen, das war ja alles Schnee von gestern. Neuanfang! Ich sorte dafür, dass wir uns statt dessen lieber positiven Themen zuwendeten. Opfergelaber ist nicht schön.
Zwei Stunden später informierte er mich plötzlich darüber, dass ich auf meine Mutter treffen sollte, die sich bereits auf dem Weg zu uns befinden solle.2 An dieser "Verabredung" hatte ich gar nicht teilgenommen! Was war das? Schon wieder hinter dem Rücken? Meine Mutter. Oje. Die konnte ich, so schwach wie ich war, gerade gar nicht gut gebrauchen. Sicher würde Anton davon ausgehen, dass zwischen mir und meiner Familie alles in Ordnung sei, weshalb ich darauf verzichtete, ihm Vorwürfe zu machen. Ein Treffen mit meiner Mutter war keine gute Idee. Mich nicht einverstanden zu erklären, hätte jedoch sehr seltsam ausgesehen. Also: Augen zu und durch.
Erst schweigsam, dann von jetzt auf gleich ultimativ besorgt.3 Was dann bedeutete: Katastrophe, Unterweltgang, Drama, Alarm, Theater. Sie tarnte es als "Vorschlag", bestand aber darauf: ich musste in die Psychiatrie.
Ich meinte nur:
<< Ja ja >> Rede du, gehörst selber rein.
Bald darauf hatte ich Dr. Glitzer am Apperat. Ruft die den einfach an! Wo hatte sie eigentlich so schnell den Namen und die Telefonnummer her? Nun wurde ich auch noch dazu aufgefordert, mit ihm sprechen! Worauf ich, wie auch zu diesem Treffen mit ihr, überhaupt keine Lust hatte.
Energisch wedelte sie mit dem Telefonhörer in mein Gesichtsfeld. Seufzend nahm ich das Gespräch entgegen:
<< Hallo. Meine Mutter meint, ich soll mit ihnen reden. >>
Es gab gar kein Gesprächsthema! Er wusste doch eh schon alles.
<< Halloooº° >> flötete es durchs Telefon, wie immer, stets darum bemüht, den Anschein von guter Stimmung zu erwecken.
Seine Masche.
<< Ich habe gehört, Ihnen geht es nicht so gut! Was machen Sie denn für Sachen? >>
Hmm..., erwartete er, dass ich ihm darüber Auskunft erteilte, was ich tat?
<< Nun. Seit ein paar Tagen bin ich in Köln. Gerade besuche ich meine Familie. Und ein paar Freunde. >>
Warum fragte er danach? Was er wohl genau wissen wollte? Dann musste er präziser fragen. Wer präzise fragt, bekommt präzise Antworten.
<< Ja, und jetzt gerade telefoniere ich mit ihnen, obwohl ich im Grunde gar nicht genau weiß, warum. Eigentlich auch nur, weil meine Mutter darauf bestanden hat. Aber im Grunde gibt es gar nichts zu erzählen. Es geht mir gut. Gut, ich hatte ein paar Probleme im Rahmen der Beziehung zu meinem Ex-Freund. Aber das ist ja nichts Neues für Sie, nicht wahr? Davon habe ich ihnen bei unserem letzten Termin ja bereits berichtet. Im Augenblick bin ich dabei, diese hinter mir zu lassen. Naja. Das wird schon. >>
Damit sollten eigentlich alle potentiellen Fragen beantwortet worden sein, stellte ich zufrieden fest.
<< Wissen Sie, wir machen uns alle groooße Sorgen um Sie. >>
Die Leier schon wieder. Wen meinte er denn jetzt mit "wir alle"? Ganz ehrlich? Ich wollte es nicht wissen.
<< Das brauchen Sie nicht. Bei mir hier ist soweit alles in Ordnung. Wissen Sie was? Wenn es etwas gibt, bei dem Sie mir helfen können, werde ich es Sie wissen lassen. Schließlich habe ich ihre Telefonnummer und weiß auch ganz genau, wo ich Sie finden kann, nicht wahr? >> 4
Und wie ich das wusste. Dieser Ort stand on the Top von der Liste der Adressen, die ich in meinem Leben nie freiwillig wieder aufsuchen würde. Damit waren heftige Emotionen verbunden:
Verstehen Sie deutsch, Herr Doktor? Ja?? LASSEN SIE MICH IN RUHE!
Tief durchatmen. Augen zu. Atmen.
<< Sie sollten vielleicht für ein paar Tage zu uns kommen. >>
Träum weiter.
<< Das wird kaum notwendig sein. >>
<< Wir können ihnen zu sofort ein Bett frei machen >> flötete es.
<< Das ist kein Problem. Nur für ein oder zwei Wochen. Kommen Sie. Dann wird es Ihnen besser gehen. >> 5
Naja, wenigstens hatte er nicht "uns" gesagt.
Meine Mutter saß daneben, ein imaginäres Nudelholz in der Hand, mit dem sie mir dauernd drohte. Vernahm sie, dass der Arzt etwas sagte, nickte sie energisch, als könne sie mich damit dazu anfeuern, mehr Leistung zu erbringen.
<< Hören Sie. Ich wiederhole mich nur sehr ungern, aber ich habe doch bereits gesagt, dass alles in bester Ordnung ist. Ich weiß nicht so genau, was man Ihnen erzählt hat. Aber es stimmt nicht. Keiner braucht sich hier irgendwelche Sorgen zu machen. >>
Ich sprach langsam, akzentuiert und deutlich, ganz so, als hätte ich es mit einem etwas begriffsstutzigen kleinen Kind zu tun. Genau das war er. Nicht klein, aber begriffsstutzig. Im Umgang mit jemandem, der über so wenig Hirn verfügte, musste man Geduld und Nachsicht üben.
<< Das ist seehr, sehr schade..., dass Sie sich immer noch so uneinsichtig zeigen. Dann wird es ihnen bestimmt bald noch schlechter gehen. Und, was wollen Sie dann machen? >>
Er ließ einfach nicht locker. Das war übel. Idiot. IdiotIdiotIdiotIdioot!
<< Ich will einfach nicht, ok? Und, hören Sie - woher wollen Sie das denn eigentlich überhaupt alles wissen? >>
Echt. Die Hellseherei war doch mein Metier! Amüsiert verzog ich die Mundwinkel.
<< Ok, >> lenkte er ein,
<< ich mache ihnen einen Vorschlag. Einen Kompromiss. Ich habe da ein paar sehr nette Kollegen in einer Kölner Klinik, in der Altenburger Straße. Die kann ich anrufen und sie darum bitten, sich um Sie zu kümmern. Wäre das für Sie in Ordnung? >>
<< Nein. Das will ich nicht. >>
Was ging mir der Typ auf den Zeiger. Meine Mutter starb derweil vor meiner Nase tausend Tode, was mich sehr von dem Gespräch ablenkte, auf welches ich mich zu konzentrieren versuchte.
<< Wir möchten sichergehen, dass es Ihnen an nichts fehlt. Sie sollen sich ja nur einmal kurz untersuchen lassen. >>
Der lügt doch, dachte ich.
<< Nichts stationäres? Danach darf ich wieder gehen? >> fragte ich voller Misstrauen.
Das wäre ja wie Weihnachten und Ostern zugleich? Die Märchen konnte er schön jemand anderem auftischen!
<< Selbstverständlich dürfen Sie hinterher wieder gehen. Aber sicher! Wenn es Ihnen schlechter gehen sollte, können Sie sich ja immer noch bei uns melden. Wir nehmen Sie dann auf. >>
Nur ein Anstandsbesuch, der Rest läge in meiner Hand? Klang akzeptabel. Würde ich seinem Vorschlag jetzt zustimmen, wäre ich ihn los - wie verlockend! Unter dem Vorbehalt, dass ich, wenn, auch nur "vielleicht" in die Kölner Klinik zu seinen "netten Kollegen" gehen würde, erklärte ich mich einverstanden. Ob ein Bedarf dazu vorliege oder nicht, wollte ich schon selbst entscheiden. Er erklärte sich einverstanden. Nun verlangte er, noch einmal mit meiner Mutter zu sprechen. Genervt gab ich den Telefonhörer frei, den sie mir förmlich aus der Hand riss.
Kaum hatte sie ihn wieder am Ohr, vergaß sie sich: es erfolgte ein minutenlanges, hysterisches Herumflennbrüllflennen. Ich lachte leise (nennt man Sarkasmus). Laut sagte ich:
<< Oh, mein Gott. Jetzt regt Euch mal nicht so auf >>
Im Ernst. Ich war in diesem Raum noch die, die am wenigsten -komplett- austickte. Wieso sperrten die denn nicht sich selbst ein? Ich wäre gern gekommen, um die schwedischen Gardinen für sie zuzuziehen. Dann würde in meinem Leben eine wundervolle Ruhe einkehren.
Welch Zumutung: würde ich nicht zusagen, mich am nächsten Morgen direkten Weges in Dr. Glitzers Reich zu begeben,6 nähme dieses Theater nie ein Ende. Ihr Verhalten machte klar: ich hatte gar keine andere Wahl, als mich einverstanden zu erklären. Also nickte ich, abwiegelnd mit den Händen fuchtelnd, nur noch alles ab. Hauptsache, man hörte endlich auf, mich für diese Kreischerei verantwortlich zu machen. Das war mir alles viel zu viel. Selbstverständlich würde ich mich unter keinen Umständen dorthin begeben, aber: mit dem Erfolgen einer7 Zusage schienen sich die Menschen um mich herum endlich wieder normal benehmen zu können. Meine Güte!
Ich floh in den Nebenraum, um dort meinen Nerven etwas Erholung zu gönnen. Bald darauf war sie mir gefolgt und versuchte, mich mit einem Redeschwall über ihre Probleme mit ihrem jüngst Verflossenen wieder aufzubauen.
<< Mama. >> flüsterte ich,
<< Ich kann jetzt weder zuhören, noch sprechen. Bitte, >>
hauchte ich,
<< kannst du mich vielleicht einen Moment lang in Ruhe lassen? Nicht böse sein. Ich weiß, du meinst es nur gut, aber das hilft mir jetzt nicht. >>
Dadurch, dass sie mich so sehr unter Druck gesetzt, ging es mir plötzlich wieder richtig schlecht.
Nachdem ich ein wenig zur Ruhe hatte kommen können, erklärte ich mich einverstanden, mit ihr in die Altenburger Straße zu fahren. Seit meinem ersten Psychiatrieaufenhalt verfüge ich über eine ausgeprägte Krankenhausphobie. Ich fürchtete mich. Würde man mich wirklich nur untersuchen...?
Der Arzt wirkte überbeschäftigt und desinteressiert, was zumindest mich beruhigte. Er schien sich gar nicht erst intensiver mit uns befassen zu wollen, musterte mich nur kurz, nickte und gab uns ein paar Pillen "für den Bedarf" mit. Wie gewöhnlich brachte ich kaum ein Wort heraus. Bald darauf leitete er die Verabschiedungssequenz ein, was deutlich zu Tage beförderte: er hatte genug anderes um die Ohren. Als wir uns zum Gehen wandten, bemerkte das Muttertier,8 dass es noch nicht genug gefüttert worden.
<< Nein, so geht das aber nicht ... >> befand sie sich plötzlich im leisen Zwiegespräch mit sich.
Mir einen undefinierbaren9 Blick zuwerfend drängelte sie sich vorbei, erneut ins Sprechzimmer:
<< Kann ich Sie bitte noch einmal alleine sprechen? >>
Ob sie ihm wohl unbedingt noch darüber Bericht erstatten musste, was für eine überaus schlechte Tochter ich war? Natürlich. Die Türe schloss sich hinter ihnen. Nun stand ich im allein Treppenhaus herum, wartete. Wie unnötig. Das war doch absolut überflüssig. Ein paar Minuten später kam sie, von grimmiger Befriedigung erfüllt, wieder heraus und nahm mich bei der Hand, um mich, als sei ich eine Vierjährige, entschlossen daran abzuführen. Ob sie mitbekam, wie sie sich aufführte?
Als draußen das Tageslicht endlich wieder meine Nase kitzelte, war ich so unendlich erleichtert, dass ich aufseufzte und sogar ein wenig zu lächeln anfing. Was machte ich hier bloß... Der Tag hatte so gut angefangen... Wie schnell die Dinge sich ändern konnten, wenn man es mit den falschen Personen zu tun bekam. Auf dem Rückweg hielt sie am Straßenrand, um kurz noch etwas zu besorgen ... und ließ den Autoschlüssel stecken. Ach, wie gut dass niemand weiß...10 .
Seit dem Telefonat mit Dr. Glitzer hatte sich ein starkes Fluchtbedürfnis in mir aufgebaut. Das war die Gelegenheit. Fluchs rutschte ich auf die Fahrerseite herüber, ließ den Wagen an und gab Gas. Eigentlich bin ich kein Dieb. Dabei, ihr Auto zu entwenden, kam ich mir komisch vor. Aber jeder Meter Entfernung, den ich zwischen mich und ihre verrückten Ideen bringen konnte, verschaffte mir Erleichterung. Auch, wenn es sich falsch anfühlte, konnte es nur eine richtige Entscheidung gewesen sein. Um wieder Herr der Lage werden, musste ich, ganz klar, an erster Stelle meine durchgedrehte Mutter abschütteln.
Ich dachte an die schlimmen Erlebnisse, die mir in der Anstalt widerfahren. Da wollte ich garantiert nie wieder hin! Warum versuchte sie, mich zu etwas zwingen, von dem sie ganz genau wusste, dass ich es nicht wünschte? Anfangs noch in großer Furcht, später dann einfach nur noch weiter, fuhr ich davon.
Ganz spontan fand ich meinen Plan wieder, mich irgendwo im Ausland niederzulassen, um ein neues Leben zu beginnen. Das war es, die Lösung. Fort. Dorthin, wo mich niemand mehr finden und unter Druck setzen konnte. So fuhr ich, fuhr und fuhr,... bis ich mich dann irgendwann in Richtung Belgien befand. Jawoll! Mein Orientierungssinn funktionierte noch. Außerhalb der deutschen Grenze hatte ich mich bisher immer gleich ein ganzes Stück wohler gefühlt. Darauf freute ich mich.
Mein Gewissen zwiebelte aufmüpfig an mir herum, ließ mir einfach keine Ruhe. Ich dachte darüber nach, etwas Falsches getan zu haben. Dies schob ich jedoch zunächst beiseite: Vollkommen grundlos hatte man mir misstraut! Hatte ich dazu einen Anlass gegeben? Hatte ich nicht. Es war zwar eine Kurzschlusshandlung, dessen war ich mir bewusst - die aber keineswegs aus heiterem Himmel geschehen. Ich wollte mich schützen. War das falsch? Wütend machte ich in meine Mutter verantwortlich. Die war doch völlig malle im Kopf!
Bloß nicht darüber nachdenken, sonst regte ich mich nur wieder unnötig auf. Weiterfahren, weiter und weiter. Wenn es sein musste, bis ans dicke, große Ende der Welt. Wo auch immer sich dieses gerade befand.... Dann brauchte ich nur noch einen neuen Anfang finden. Vielleicht eine Gruppe von Menschen, die jemanden brauchten, der Ihnen den Acker pflügte, den Hof fegte oder die Toiletten putzte. So einen Bedarf gab es immer und überall auf der Welt. Ein Kloster. Eine Kommune. Irgendwas. Das sollte kein Problem sein. Ich war ein Survival Experte. Darum brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Auf mich war Verlass.
Was meine Mama wohl ohne ihren Wagen anstellen würde? Hmm, ... naja, wer im Land des 4711 wohnte, brauchte im Grunde gar kein Auto. Trotzdem gehörte es ihr. Wahrscheinlich würde sie es wieder haben wollen, danach suchen. Blöd: Der Wagen könnte, wenn ich ihn am Ziel abstellte, einen entscheidenden Hinweis auf meinen Aufenthaltsort bieten. Das hieß, ich würde ihn eh auf halber Strecke stehen lassen müssen und danach weiter reisen, damit man mich nicht seinetwegen aufspüren11 würde.
Warum ließ man mich nicht einfach so sein, wie ich war? Ich war denen doch völlig egal, die dachten kaum an ihrer eigenen Nasenspitze vorbei. Wenn ich ihre Erwartungen nicht erfüllte, nicht gehorchte, quälte und folterte man mich so lange, bis es keinen eigenen Willen mehr gab? Nein, das war noch schlimmer als der Tod. Warum dachte ich eigentlich dauernd an den Tod? Fragte ich mich, während in der Dunkelheit die Kilometer an mir vorbeihuschten. War das früher auch schon so gewesen? Hatte ich mir je ein Ende so sehr herbeigesehnt? Warum war das jetzt so? War dies mein innigster Wunsch? Damit würde ich mich ernsthaft auseinander setzen müssen. Das dauernde Kreisen meiner Gedanken um dieses Thema ging mir gegen den Strich. Was steckte dahinter?
Plötzlich verspürte ich eine große Angst, welche mich zurück schrecken ließ. Aber: Wovor fürchtete ich mich? Hatte ich vielleicht tatsächlich Angst vor dem Tod? Erneut fühlte ich in mich hinein. Nein. Darin sah ich vielmehr einen Problemlösungsweg. Alle redeten mir ein, dass ich nicht richtig sei. Zumindest für meine Familie stellte ich einen minderwertigen, schlechten Mensch dar, welcher nur als Belastung empfunden wurde. Sie versuchte mich ihren Wünschen und Vorstellungen davon, wie ich zu sein hatte, zwangsanzupassen. Das erfüllte mich mit Angst. Es erschien mir gleichbedeutend oder noch schlimmer zu sein als der Tod. Gab es keine andere Lösung? Würde es nicht vielleicht schon ausreichen, nur aus dem Leben derjenigen auszuscheiden, denen ich nicht in den Kram passte?
Stellte ich etwas auf die Beine, gab es niemanden, der sich darüber freute. Keinen, dem ich etwas nützte. Mein Job schien ausschließlich, als Schuldige für alles Schlechte auf der Welt zuständig zu sein. In meiner Rolle als Sündenbock war ich unschlagbar. Kein Wunder, dass ich zeitweilig dazu neigte, dies in einer Form des ultimativen Selbst-Hasses zu übernehmen. Wäre es nicht gut für alle, wenn ich verschwand? Das "Böse" musste doch am Ende immer vernichtet werden! Möglicherweise konnte ich meinen Tod ja einfach vortäuschen! Eine beruhigende Vorstellung. Alles wäre gut. Eine für alle zufriedenstellende Lösung. Wenn es für meine Familie gut wäre, mich los zu sein und genau das für mich eine Chance auf ein unbeschwertes Leben bedeutete, wäre mit diesem Schritt allen geholfen, ohne dass ich mir dafür einen Strick nehmen würde müssen. Mit Erschrecken fragte ich mich, ob das das Einzige war, was ich in meinem Leben noch Gutes tun konnte.
Diese Gedanken waren so verstörend, dass ich mir erst einmal eine halbe von den Pillen in den Mund schob, die der Arzt uns mitgegeben hatte. Mich in dieser Manier mit den Dingen auseinander zu setzen war unheimlich schwer. Ich wollte eine Pause. Blumenwiese und Schmetterlinge. Uah...! Dann fuhr ich weiter. Nun malte ich mir alles sehr genau aus: Dass man mich nach einiger Zeit auch nicht mehr vermissen würde.12 Ihr Verhalten legten sie sicher nicht an den Tag, weil sie mir Schlechtes wünschten! Natürlich wollte ich sie nicht verletzen, aber... blieb mir eine andere Wahl? Sollte es wirklich das einzig Richtige sein, irgendwo in Timbuktu ein neues Leben anzufangen? Den Wagen könnte ich einfach irgendwo zurücklassen. Man würde ihn schon finden.
Ich dachte an alles Mögliche, aber nicht nach! Sonst wäre ich sehr schnell zu den unausweichlichen Schluss gekommen, dass ich mich wie ein anständiges Kind benehmen und zurückfahren müsste, um mich für alles zu entschuldigen. Hatte man etwas genommen, was einem nicht gehört, verhielt man sich so. Aber für mich stand es fest und war klar: Es gab kein Zurück. An einer Tankstelle kurz vor der Grenze tankte ich, fuhr weiter, ohne zu bezahlen. Geld besaß ich keines. Fersengeld gebend fuhr ich über die nächste Grenze. Nun hatte ich die ganze Pille eingenommen, trotz der Weisung des Arztes, Taxilan sei ein starkes Beruhigungsmittel, mit welchem vorsichtig umzugehen angebracht. Es zeigte keine spürbare Wirkung. Sollte ich vielleicht noch eine davon nehmen? Er hatte mir zwei gegeben, nun war nur noch eine da. Wenn die erste schon nichts bewirkte, was sollte ich dann von der zweiten erwarten? Weil ich mir bei meinen sehr seltsamen Gedanken langsam tatsächlich schwachsinnig vorkam, untersagte ich mir bald, weiter nachzudenken.
In Brüssel angekommen, kam ich mir auf einmal sehr verloren vor. Die Stadt war die personifizierte Angst. Eine, unter der sich alle kollektiv duckten. Genau hier war das Recht zur freien Meinungsäußerung und dem Unkrautzüchten im eigenen Garten schon lange abgeschafft. Es war mir, als gäbe es eine Gruppe von Verschwörern, die genau hier, wo alles so schön zubetoniert, zu Tode gepflegt, klinisch rein und ordentlich, Abseits vom Licht der Öffentlichkeit irgendwelche geheimen Pläne ausheckten. Der Vorstellung von Macht und Kontrolle erlegene Priester der Dunkelheit, die ihre Aufgabe darin gefunden zu haben glaubten, Schicksale wie Puppenspieler in ihren Händen zu halten. Methoden wurden maximaler Wirksamkeit nach ausgewählt, Vorstellungen von Ethik und Moral waren bloß noch lästig. 13 An vorderster Front stand der Ausbau der Machtstruktur, der zu dienen sie verpflichtet, nicht aber Erhaltung und der Schutz dessen, worüber man zu herrschen wünschte.14 Oberste Priorität hatte die absolute Kontrolle15 weshalb es die Möglichkeit, aus dem Projekt auszusteigen, nicht gab. Alle mussten mitmachen. Wer trotzdem wagte, einfach abzuhauen und dem für ihn vorgefertigten Schicksal wie ich den Stinkefinger zu zeigen, um sein eigenes Ding zu machen, wurde gnadenlos gejagt und den schlimmsten Formen denkbarer Bestrafung ausgesetzt.
Hier verbanden sich vor allen Dingen Macht und materieller Reichtum, in welchem dieser Parasit sich heimisch fühlte. Entrinnen war nicht möglich, Beistand durch Recht und Gesetz existierten nicht mehr, denn auch dort waren bereits alles von diesem seltsamen Virus infiziert. Als Vorwand diente das übliche: Wir sind die Guten. Diese dunkle Wolke war, trotz hehrer Ziele, der Schöpfung und all ihren natürlichen Gesetzen entgegen gesetzt, Absichten letztlich rein zerstörerischer Natur. Unterwerfung um jeden Preis. Das war ja voll gruselig! Denen sollte ich besser nicht nicht in die Quere kommen. Wow! Da wollte ich vor genau jener Kraft16 fliehen und sah mich plötzlich einer noch viel größeren Ausprägung davon in die Arme getrieben! Owei. Das war aber nicht Sinn, Ziel und Zweck meines Ausflugs gewesen.
Nun meldete sich natürlich auch der Zweifler in mir wieder zu Wort: Woher nahm ich diese Information überhaupt? Und: selbst dann, wenn es vielleicht sogar stimmte,17 was wollte ich mit diesem Wissen denn nun anfangen? Ich war nur eine Null, ach was, weniger als das. Ein Niemand! Wenn auch ein Niemand in einem Auto, der in dieser Umgebung gerade nicht weiter auffiel, dachte ich erleichtert. Trotzdem nutze mir dieses Wissen gerade herzlich wenig.18 Sollte ausgerechnet ich jetzt gegen diese unheimliche Kraft aktiv werden? Und wie zum Teufel sollte ich das anstellen? War sie dafür nicht viel zu groß? Zu mächtig? Und19 einfach viel zu gut organisiert? So allein, hilflos und verstört, wie ich augenblicklich war. Sollte ich etwa aussteigen und versuchen, die Menschen um mich herum darauf aufmerksam zu machen? Hahahaha! Nein.20 Vielmehr ging mir bei der Gelegenheit auf, wie froh und dankbar ich dafür sein konnte, bei meiner Familie aufgewachsen zu sein, mein Leben geführt zu haben, in welchem es wenigstens noch ansatzweise möglich gewesen war, mich gesund zu entwickeln.
Der notorische Zweifler meldete sich wieder zu Wort: Ja, und? Was willst du jetzt machen? Dir einen schönen Platz unter einer Brücke suchen, bei irgendwelchen Berbern Unterschlupf suchen? Das Auto am besten direkt auf dieser Brücke abstellen - so als Wegweiser für diejenigen, die nach dir suchen? Diese Fragestellung reizte meine Neugierde: Gab es überhaupt Berber in diesem aufgeräumten Land? Alles sah sehr leergefegt21 aus. Zumindest gab es Brücken, stellte ich amüsiert fest. Der Wissenschaftler in mir erwachte: Sollte ich aussteigen und nachsehen? Hier tat man so etwas bestimmt nicht: unter Brücken klettern, um nach Spuren von Berbern zu forschen. Alles war viel zu genormt. Was würde ich antworten, wenn mich einer fragte, was ich da machte? Ich betreibe eine Länder übergreifende Studie zu Berbern, die unter Brücken hausen. Haben Sie vielleicht welche gesehen? Nein? Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Bei der Vorstellung fing ich an, leise vor mich hin zu kichern.
Wie immer, wenn ich mir verloren vor kam, dachte ich auch an ihn. Der Zweifler lachte: Und? Mit welchem belgischen Geld und aus welcher belgischen Telefonzelle heraus willst Du (zumal mitten in der Nacht) ihn jetzt anrufen? Und was bitte willst Du dann erzählen? "HILFE! Ich befinde mich hier unter einer Brücke" ...? Und was dann? Dann würde er sagen: "Ja und? Soll ich dich etwa dort abholen kommen?" und dich auslachen. Und - wenn er tatsächlich kommt? Wollt ihr dann Händchen haltend nach Afrika auswandern? Nein... Der hockte wahrscheinlich zu Hause und gluckte auf seiner happy Family herum, saß - mit welcher Frau auch immer - auf seinem Lieblingsplatz, betete das TV-Götzenbild an. Selbst wenn er meine Hand nehmen würde, dann sicher nur, um mich daran wieder in Professor Dr. Glitzer glitzerndes Versuchslabor zu führen.
Das war doch alles Scheiße. Brüssel bei Nacht. Unwirklich und verstörend. Hier gab es nicht einmal die von mir über alles geliebte Dunkelheit. Auch meine Pläne kamen mir langsam aber sicher immer lächerlicher vor. Ich wollte nicht mehr nachdenken. Alle waren sich einig: ich war ein Versager. Ein kranker Versager noch dazu! Auch, wenn ich das nicht einzusehen bereit war: War dieser Abend nicht wieder ein Parade Beispiel meiner Versagerigkeit gewesen? Irgendwo hatten sie ja sogar vielleicht ein bisschen Recht, wie sie über mich dachten. Ich hatte kopflos und unüberlegt gehandelt. Meine Mutter vermisste sicher ihr Auto. Ich würde es ihr zurückbringen müssen. Normalerweise war ich doch ein braves Kind und machte so etwas nicht. So und nicht anders sollte es sein.
Sobald ich ihr ihr Eigentum zurückgebracht, konnte ich meine Zukunftspläne ja immer noch in die Tat umsetzen. Alternativ zum Selbstmord. ... War ich nicht eigentlich noch viel zu jung zum sterben? Musste man dafür, den Tod zu verdienen, nicht erst alt, grau und weise werden? Die Assoziationsketten liefen Amok. Ich ließ meine Gedanken nur noch fließen, mischte mich nicht mehr ein. Flucht, Alter, Tod.
Was bedeutete es eigentlich, "alt" zu sein. War man dann einfach nur hässlich und verbraucht und hatte (so wie ich jetzt) irgendwann einfach keinen Bock mehr? Weil man nicht nur ver-braucht war, sondern auch nicht mehr ge-braucht wurde (... so wie ich)? Weil man nur zur Last fiel, am Ende zu nichts als einem sentimentalen22 Wert mehr nutze, nur noch würdelose Bürde, Peinlichkeit. Das war etwas, was niemand sein wollte. Auch ich nicht. Sich dann für das Sterben zu entscheiden, konnte ich gut nachvollziehen. Auch für einen selbst war das Leben dann kaum noch des Lebens wert. Oder gewann man etwa dadurch, dass man irgendwann verschrumpelte, irgendwas Erstrebenswertes hinzu, so dass manch einer trotz des Verlustes aller ungestümen Lebenskräfte und Säfte trotzdem nicht abzutreten bereit? War das krampfhafte Festhalten am Leben dann nicht nur als eine Art Trotz zu verstehen, verbitterte Sturheit? So nach dem Motto: ich bin deine Strafe, du musst mich ertragen? Ich wollte niemandes Strafe sein.
War es die altersbedingte Brille auf der Nase, die einem den - vielleicht angsterfüllten und heuchlerisch vorgetäuschten - Respekt in der Gesellschaft einbrachte? Oder wurde man tatsächlich so etwas wie ...weise? Wenn ja, woraus bestand Weisheit? Lohnte es sich, dafür zu leben? Konnte man sie anfassen? Machte sie einen glücklich? Würde ich etwas verpassen, wenn ich mich jetzt verabschiedete? Wie viel mehr Wert würde dies in meinem Leben eher unbekannte Element in es einbringen? Würde es sich als heilsam oder eher lästig erweisen? Wie viel sollte es mehr wert sein als Unwissenheit, die einem einen unvoreingenommenen Blick auf das Leben ermöglichte?
Wieder in Köln, wollte ich es wissen. War ich bereit, diesen Schritt wirklich zu machen? In Gedanken quälte ich mich ständig damit herum. Was zählte, waren nicht Gedanken oder Worte, sondern Taten. War ich bereit, dem Tod ins Auge zu sehen? Oder würde ich Angst haben. Jetzt, wo ich den Grund für meine Todessehnsucht kannte, wollte ich Gewissheit. Würde ich leben wollen, hätte ich Scheu, mir etwas anzutun. Ich wollte mir sicher sein können. Entschied ich mich für das Leben, wollte ich nicht dauernd trübselige (und erst Recht keine Selbstmord) Gedanken haben. Ich musste mich prüfen. Wollte ich wirklich sterben, hätte ich nun Gelegenheit dazu. Entweder oder. Wenn dies entschieden war, brauchte ich auch keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Für Probleme würden sich Lösungen finden, die nicht das Gesicht des Todes trügen. So einfach war das. Ich begab mich auf abgelegene Bahngleise.
Damit galt es, alle Negativ-Szenarios meines Lebens herauf zu beschwören, damit ich auch nicht im letzten Moment vergaß, weshalb ich aus dem Leben ausscheiden wollte. Um mich seriös hineinzusteigern, malte ich mir nun voller Absicht das Zusammenleben von Ihm und seiner "Ex" aus. Versuchte, mir bildlich vorzustellen, wie sie es miteinander trieben.23 Ich musste mich davon überzeugen, dass das Leben gegen mich war.
Ängstlich spähte ich die Gleise entlang. Hoffentlich kam nicht so bald ein Zug. Zumindest, solange ich noch nicht fertig war mit überlegen. Ich wollte nicht überstürzt handeln. Aber es kam auch gerade gar keiner, wie praktisch. So blieb mir Zeit, mir meine letzten Momente auszumalen. Die armen Menschen in dem Zug, das würde keinen schönen Anblick abgeben. Und, was noch viel wichtiger war: was, wenn ich wirklich sterben sollte? Plötzlich hatte ich Angst. Aha! Erwischt! Wenn ich mich jetzt fürchtete, war das dann nicht auch ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür, dass eigentlich gar nicht bereit war, zu sterben? Ich setzte mich. Dachte an gar nichts mehr.
Die Nachtluft streichelte zärtlich. Ganz entfernt drang der Straßenlärm des Kölner Nachtlebens zu mir herüber. Diese Stadt lebte, besaß ein schlagendes Herz.
Es ist alles so sinnlos......
Dieser Gedanke tröstete mich plötzlich unheimlich. Er half, diese ganze Geschichte alles in allem nicht mehr so verdammt ernst zu nehmen. Ein paar mal atmete ich tief durch. Der Druck, der auf mir gelastet hatte, ließ nach.
Irgendwann ging ich zurück zum Auto, legte die Schlüssel ins Handschuhfach und schloss dann die Beifahrertür. Alles war gut. So brauchten die werten Herren von der Polizei den Wagen nur noch zu finden, dann bekäme das Mütterchen ihn unversehrt zurück. Und ich brauchte mich nicht mehr mit ihrem Theater herum zu schlagen. Einem, welches mir eine Rolle wies, die ich nicht zu spielen bereit war. Jeder Mensch hat immer einen Zweitschlüssel für sein Auto. So weit war alles in bester Ordnung.
Nach ein paar Schritten kam mir der Gedanke, mich bei ihr zu entschuldigen, aber plötzlich wichtig vor. Und noch einmal eine Plan-Änderung. Unterwegs zu ihr kam es mir so vor, als müsse ich auch zu ihm zurück, und zwar dringend. Gab es Probleme? Oh ja, wie angenehm lockte diese Vorstellung - mein Liebster wollte mich zurück haben. Nein. Davon nahm ich mir jetzt nichts mehr zu Herzen. Zu ihm - das wäre dein Tod, sagte ich mir. Ja, und war ich genau dem nicht knapp von der Schippe gesprungen? Hatte ich nicht gerade eben noch beschlossen, einen anderen, vernünftigeren Weg einzuschlagen? Einen, der nicht in das eigene Verderben führen sollte, wie es der Weg zurück zu ihm aber ganz sicherlich sein würde? Sollte er machen, was er wollte. Sein Problem.
Irgendwann morgens früh zwischen sechs und sieben stand ich vor der Tür. Wider Erwarten probte sie keinen Aufstand, erschien mir nach meinem Ausflug fast ein wenig zu gelassen. Von meinen Gedanken während der großen Reise erzählte ich kaum. Da eine bundesweite Fahndung nach mir lief, rief sie bei der Polizei an und gab Bescheid, dass ich gesund und wohlbehalten wieder aufgetaucht war. Wir begaben uns zu ihrem Auto.24 Dann verlangte sie, dass wir uns auf den Weg in die Psychiatrie machten. Erneut erklärte ich ihr, dass ich da tatsächlich nicht hin wolle. Schließlich war genau das der Grund für meine etwas übereilte Abreise gewesen. Dass ich etwas gegen ihren Plan, mich in die Irrenanstalt zu bringen, haben könnte, ging ihr so weit am Arsch vorbei, dass nicht einmal dieser zuckte. Sie fuhr einfach weiter!!
An der nächsten roten Ampel, an der wir hielten, stieg ich aus. Mich, die Autotüre in der Hand, noch einmal zu ihr umwendend, sagte ich mit einem traurigen Lächeln:
<< Vielen Dank Mama, für deine Hilfe. Ich weiß ja, Du meinst es nur gut, aber... Tschüss. >>
Sie hielt an. Stieg aus. Folgte mir.
<< Warte!!! >>
In Zeitlupe drehte ich mich noch einmal zu ihr um.
<< Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? >>
<< Nein, Mama. >>
<< Wirklich nicht? >>
<< Mama, da gibt es nichts zu überlegen! >>
<< Aber du hast doch solche Probleme und der Doktor hat gesagt, er kann dir helfen! Und dein Vater... er ist auch der Meinung, dass es das Beste für dich ist. >>
Seufz.
<< Ich habe es dir bereits gesagt: Die Probleme, die ich habe, beziehungsweise gehabt habe, hatte ich mit meinem Freund, dem Mann, den ich gerade verlassen habe. Also habe ich jetzt auch keine Probleme mehr!! >>
Es wäre so wichtig gewesen, hätte sie verstanden, was in mir vorging.
<< Es ist doch nur für ein paar Wochen >> sagte sie.
Unverbesserlich. Ich drehte mich um und ging. Sie rannte mir hinterher.
<< Wollen wir nicht noch einen Kaffee zusammen trinken gehen? >>
Ich blieb stehen. Überlegte. Sie würde mir nur wieder auf die Nerven gehen.
<< Unter einer Bedingung. >>
<< Ja? Und welche? >>
<< Keine Gerede mehr von wegen, dass ich in mich in die Geschlossene einweisen lassen soll, ja? >>
<< Keine Gerede. >>
<< Versprochen? >>
<< Versprochen. >>
Ich glaubte ihr nicht. Aber ein Kaffee würde mir vermutlich gut tun. Die Gesellschaft würde ich mir wahrscheinlich weg wünschen, aber vielleicht war es ja doch noch für irgendwas gut. Gemeinsam schweigend fuhren wir in ein nahe gelegenes Lokal, bestellten Kaffee. Unsere Tischnachbarn rauchten Lucky Strike. Fast wäre ich aufgestanden und hätte im Beisein meiner Mutter zu schnorren angefangen. Dann kamen mir allerdings Bedenken. Vielleicht wäre ihr das nicht recht?
<< Mama? >>
<< Ja? >> Hoffnungsvoll sah sie mich an.
<< Hast Du vielleicht einen Heiermann für mich, für Zigaretten? >>
Sie bekam ein Steinface.
Na toll. Hätte ich die anderen Kunden des Cafés belästigt, wäre ich ebenso Peinlichkeit in Person gewesen.
<< Diese Art Hilfe, die ich dir gewähre, die hat auch ihre Grenzen, weißt du? >> wurde ich nun belehrt.
Sie kehrte auch noch die Erzieherin raus?
O nein, bis hierhin und nicht weiter... Stop!
<< Mama, halt am besten jetzt einfach den Mund >>
Fast wäre ich aufgestanden und hätte sie allein in dem Café sitzen gelassen. Zumindest schwieg sie nun für eine Weile.
Ich überlegte, ob ich nicht vielleicht doch an den Nebentisch gehen und das offensichtlich schwule Pärchen um eine ihrer Luckies bitten sollte. Das wäre sicher kein Problem. Die Situation regte mich auf. Bloß, weil meiner Mama das etwas ausmachen könnte, sollte ich keine rauchen? Aber ich wollte die Situation nicht noch weiter strapazieren.
<< Dein Vater und ich, wir machen uns Sorgen. >>
Was kam denn jetzt schon wieder?
<< Ok. Ein Kompromiss. Ich kaufe dir die Fahrkarte für den Zug, damit du nach Hause fahren und dich in die fürsorglichen Hände der Klinik begeben kannst. Freiwillig. Du entscheidest selbst, ob du fahren willst oder nicht. >>
Dachte die etwa, ich würde in diesen Moloch zurückkehren? Sie hatte ja keine Ahnung, was das bedeutete!
<< Mama. >>
Hoffnungsvoll sah sie mich an.
<< Ja? >>
<< Du weisst nicht was das bedeutet. Was die dort mit einem machen. Das ist richtig schrecklich! Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber, das musst du mir jetzt einfach glauben: das ist keine gute Idee. >>
<< Ach was. So schlimm wird es schon nicht sein. Komm. Ich kaufe dir eine Fahrkarte. Ob du hinfährst, oder nicht, entscheidest du, ganz allein. Ok? >>
Es lohnte sich nicht, es ihr zu erklären zu versuchen. Wenn, dann musste sie es einmal selber, am eigenen Leib erleben. Erst dann würde sie mir glauben.
<< Ok. >>
Sie zahlte und wir fuhren zum Bahnhof, kauften eine Fahrkarte, verabschiedeten uns. Kaum war sie weg, tauschte ich die Fahrkarte wieder gegen Bargeld, um mir voller Trotz ein ganzes Päckchen frischen, lecker duftenden Tabak zu kaufen. Zornig dachte ich an die gerade eben frisch erlebte zur Schau Stellung von Fürsorge. Wahrscheinlich zelebrierte sie just in diesem Augenblick wieder ein gegenseitiges Bemitleiden mit diesem Penner von einem Arzt.
Bevor sie jemanden fand, der mich in ihrem Auftrag irgendwo einkassierte, verschwand ich lieber schnell wieder. Die konnten mich mal kreuzweise mit ihren Sorgen. Nun sollte ich sehr viele liebe Menschen auf einmal kennenlernen. Der Erste, der mich im Auto mitnahm, schenkte mir n´Zehner. Ich solle mir davon doch bitte unbedingt etwas zu Essen kaufen. Er bestand darauf, das Geld von ihm anzunehmen.25 Ein andrer gab mir sogar seine Adresse, bot mir eine leer stehende Wohnung an, damit ich nicht nur ein Dach über dem Kopf haben sollte, sondern auch "noch einmal von vorn anfangen" könne.
Über dies alles war ich sehr dankbar, misstraute jedoch insgeheim all diesen freundlich-fürsorglichen Konzepten. Laut argumentierte ich, möglichst weit weg, insbesondere aus Deutschland raus zu wollen.26 Ein junger Mann in einem Audi TT27 schenkte mir eine Parfümprobe, die er während einem seiner Empfänge als Werbegeschenk erhalten. Parfüms finde ich zwar total ekelig, nahm es aber dankend an. Es war in einem lustigen blauen Ottifanten-Flakon aus Plastik. Ich dachte an Jean Paul, der Parfüms über alles liebte. Würden wir uns noch einmal wiedersehen, hätte ich ein Geschenk für ihn.
Kurz vor Moulouse stand ich die ganze Nacht bei starken Minus-Graden. Bald wünschte ich, zaubern zu können. Dann hätte ich ein paar Pkws her gezaubert, die hier vorbei fuhren.28 Buaaah, war das kalt! Zwischendurch musste ich mich einfach mal hinsetzen, weil ich nicht mehr stehen konnte.29 Langsam hatte ich echt genug vom Frieren. Da half auch die jüngst erworbene Packung meines Lieblingstabaks, schwarzem Van Nelle, nichts. Die Stunden vergingen. Wenigstens regnete es nicht.
Endlich! Früh morgens kam ein Auto voller Studenten, das hielt. Der Wagen war bereits ziemlich schwer beladen. Es sah fast so aus, als würde er bald aufsetzen. Ich zitterte so sehr, dass meine Zähne klapperten. Bevor sie mich fragen konnten, wohin ich wollte, sagte ich zu ihnen:
<< Scheißegal, wo ihr hinfahrt, ich komme mit! >>
Da lachten sie und jubelten:
<< Dann mal rein mit dir! >>
Ich quetschte mich zwischen die Gepäckstücke, ignorierte die Angst, dass der Wagen unter diesem zusätzlichen Gewicht zusammen klappen würde.
Es waren junge Typen. Sie wechselten sich beim Fahren ab. Einer von ihnen sah aus wie der Bandleader von Simply Red. Ein weiterer war ein scheinbar sehr gebildeter Student mit guten Französisch-Kenntnissen. Seinetwegen sollten wir die ganze Zeit über Radio hören, während er immerzu alles übersetzte und dann mit großer Sachkenntnis kommentierte. Bei einigen Chansons sang er sogar enthusiastisch mit. Die anderen zuckten hinter seinem Rücken entschuldigend die Achseln und zeigten ihm heimlich grinsend einen Vogel.
Der Dritte im Bunde schielte ein wenig. Er hatte ganz lange Haare. Ihn mochte ich sehr gern, auch wenn er eigentlich so gut wie nie etwas sagte und scheinbar gezielt Blick und Konversation auswich. Seine Aura war licht und rein. Man befand sich auf dem Weg nach Spanien. Obwohl das Auto wirklich schön warm war, zitterte ich völlig durchgefroren noch stundenlang weiter vor mich hin. Es schaukelte gemütlich. Ein paar Mal fielen mir die Augen zu. Gleich begrüßte mich sein Gesicht mit freundlichem Hallo! und sorgte für Alptraum-Stoff.
Die französische Landschaft, in Schnee getaucht, war hinreißend schön. Um Maut Kosten zu sparen, befuhren wir ausschließlich Landstraßen. Ich beschloss, bis Toulouse mitzufahren und mich dann nach Marseille abzusetzen. Von dort aus konnte ich glatt den ganzen Kontinent gegen einen anderen austauschen! Außerdem war es an der Küste bedeutend wärmer, was das Überleben auf der Straße im Winter einfacher machte. In Nîmes lud ich den Trupp noch auf einen Kaffee ein. Sie hatten mir zu Essen angeboten, mich zu ihnen nach Hause eingeladen,30 getröstet und vor allem gewärmt. Um mich für all diese Herzlichkeit ordentlich zu bedanken, schmiss ich jetzt meine letzten Kröten zum Fenster raus. Hier trennten sich unsere Wege.
Für mich ging es weiter nach Marseille. In der Abenddämmerung kam ich dort an. Mein Fahrer mahnte besorgt, nachts auf gar keinen Fall in die Nähe des Hafens zu gehen, dort sei es nicht geheuer. Junge Frauen würden entführt und auf Schiffe verladen, um in der realen Welt nie wieder aufzutauchen. Verarschte der mich? Unauffällig warf ihm einen Blick zu. Hmm. Das klangt nicht lustig. Trotzdem war ich froh, endlich am vorläufigen Ziel angekommen zu sein. Hier an der Küste war es war deutlich wärmer. So ließ es sich aushalten.
Bald entführte mich tatsächlich jemand, und zwar in ein Restaurant. Bei der Gelegenheit verspeiste ich einen halben31 Hamburger. Ich aß ihn mehr aus Höflichkeit, nach der Hälfte aber bekam ich beim besten Willen keinen Bissen mehr davon herunter. Mit dem mobilen Telefon dieses netten jungen Mannes durfte ich bei JP anrufen, welcher sich sehr freute, von mir zu hören. Er mit einem Tanklaster voll spanischem Wein sur le route gen Amsterdam, erzählte er begeistert. Der vorläufige Plan war, auf einem Rastplatz bei Dijon nächtigen. Als ich vorschlug, zu ihm zu stoßen, erklärte er mir, dass es sich dabei um beinahe 600 Kilometer handelten. Er zweifelte erheblich daran, dass es gelänge, diese Entfernung in so kurzer Zeit zurückzulegen.
Der Typ, der mir sein Mobiltelefon geliehen hatte,32 erklärte sich schnell bereit, mit mir hinzufahren. Er wolle sowieso dorthin. Warum hatte er mir vorher nichts von dieser geplanten Reise erzählt? Keinen Zweifel an meinen Zweifeln lassend fragte ich ihn darüber aus. Er bestand darauf, müsse angeblich eh in die Richtung. Vorher wolle er aber noch ein wenig schlafen. Eigens zu diesem Zweck buchte er ein Hotelzimmer, in welches ich ihn unbedingt begleiten solle (zuerst weigerte ich mich). Ich schlief nicht, kam auf sein Bitten hin nicht mit in die Kiste, um "faire l´amoure" mit ihm zu machen. Das hatte er sich schön ausgedacht! Wie schade. Wieder ein Missverständnis, dessentwegen es zu unnötigen Komplikationen käme. Auf so etwas hatte ich keine Lust. Würde er dafür Verständnis haben?
Ein paar Stunden33 später brachte er mich immerhin nach Orange. Währen der Fahrt versuchte er noch, mir zwangsweise ein paar Vanillekekse in den Rachen zu schieben. Die aber waren so ekelik zuckerig, dass ich keinen davon zu verzehren wagte. Die nicht funktionsfähige Pistole hielt ich wie gewohnt griffbereit, um ihn zur Not wenigstens damit erschrecken zu können. Aber er war wirklich einfach nur nett! Als wir am Zielort ankamen und ich, mich überschwänglich bedankend, ausstieg, ließ ich sie neben dem Beifahrersitz liegen. Hab sie einfach vergessen. Egal. Das war ja eh nur ein Haufen Schrott, der noch nicht einmal ein waschechtes Peng zustande brachte.
In Orange stand ich dann noch einmal zwei Stunden. Nach circa zehn Minuten kamen auf einmal irgendwo lustig gekleidete französische Gendarmen her, welche mich aufforderten, mich hinter die Mautstelle zu stellen. Ich bekam erst einen ziemlichen Schreck (fragte mich, wer sie geschickt haben könnte - eigentlich hatte ich ja nichts verbrochen!). Da wurde mir klar, dass ich in meinem Heimatland zu viel blöden Scheiß erlebt hatte. Es schien nicht spurlos an mir vorüber gegangen, so dass ich plötzlich eine Polizistenphobie entwickelt hatte. Aber ihnen schien wirklich nur sehr daran gelegen, mich auf die andere Seite der Mautkasse zu befördern. Dort kam dann irgendwann ein junger, ehrlicher Franzose namens Eric vorbei, der in Richtung Karlsruhe unterwegs war. Er sah sehr nett aus. Vernünftig, gebildet, ruhig. In dem Schaukeln und der Wärme seines Wagens fielen mir bald die Augen zu.
Kaum schlug ich die Augen auf, fiel mein Blick auf das Schild: Dijon. Meine Schutzengel. Wie geplant stieg ich an der Raststätte, auf der ich Jean Paul vermutete, aus. Leider konnte ich seinen Laster nirgends entdecken! Deshalb wartete ich bis zu der Zeit, um die er für gewöhnlich aufzustehen pflegte. Dann rief ich ihn von einer Telefonzelle aus auf seinem Mobiltelefon an:
<< Ey! Jean Paul! Guten Morgen! Wo bist denn du? Ich seh dich nicht! >>
Er quiekte vor Vergnügen und er klärte mir, dass er sich auf der in entgegengesetzter Fahrtrichtung liegenden Autobahnrastätte befinde. Also lief ich hin. Lachend stieg er aus seiner Fahrerkabine und küsste mich auf die traditionelle Art der Franzosen: rechts links, rechts links, auf die Wangen. Feierlich überreichte ich ihm das Ottifanten Pafüm. Nun lud er mich selbstverständlich dazu ein, mit ihm nach Amsterdam zu fahren. Amsterdam? Dort war ich noch nie zuvor gewesen! Warum auch nicht! Da ich nichts Besseres vor hatte: ab, rein in die Kabine. In Null, nichts war ich wieder eingeschlafen. Kein Wunder.
Zuerst fuhren wir zu ihm nach Hause. Dort konnte ich, wie wundervoll, einmal duschen und wurde reichlich beschenkt. Ein Paar frische Socken, neue Unterwäsche und ein Paar warme Lammfelleinlagen für meine Schuhe. Außerdem noch eine ganze Stange Prince Denmark, denn er hatte gerade mit dem Rauchen aufgehört. Er erzählte, sich bald zur Ruhe setzen und nach Kanada auswandern zu wollen. Sein Haus, groß und komfortabel eingerichtet, mitsamt Grundstück verkaufen. In Kanada habe er mit seinem Motorrad schon einmal eine Tour gemacht, schwärmte er.
Ob er hier allein lebte, in diesem riesengroßen Haus? Ja. Seine Frau?! Habe ihn belogen und bestohlen. Er sei damals sehr verliebt gewesen. Das tat mir leid.
<< So eine blöde Tussi >> meinte ich.
Seine allererste große Liebe sei viel zu früh verstorben. Was für eine traurige Geschichte! Kein Wunder, dass er auswandern wollte. Er hatte scheinbar ebenso das Bedürfnis, irgendwo anders neu anzufangen, wie ich.
Einen Moment lang war ich sogar versucht, bei ihm zu bleiben. Aber: auch hier gehörte ich nicht hin. Damit wären nur seine schönen Pläne durcheinander geraten. Außerdem wollten Männer immer alle gleich heiraten...! Ihm Hoffnungen zu machen, um seine Gutmütigkeit auszunutzen, wäre nicht fair. Das kam nicht in Frage. Er hatte schon genug durchgemacht, wovon dieses riesige, dunkle, traurige, leer stehende Haus still ein Zeugnis abzulegen vermochte.
Amsterdam verschlief ich. Als ich endlich aus meiner Totenstarre erwachte, beschwerte sich JP:
<< Du schläft ja die ganze Zeit! Das ist voll langweilig! >>
Diese Tatsache aufrichtig bedauernd entschuldigte ich mich bei ihm:
<< Oh, ... Du, das tut mir Leid. Aber ich habe seit vier Tagen schon nicht mehr geschlafen! Das musst du verstehen. Ich kann einfach nicht mehr. Weißt du was? Dafür rede ich morgen doppelt so viel! Versprochen. >>
Und schlief wieder ein.
Am darauf folgenden Tage redete ich dann so viel, dass er mir irgendwann völlig überfordert den Mund verbot. Wir aßen ein wenig spanischen Käse (sehr lecker) und tranken ein Gläschen spanischen Wein. Den Schinken probierte ich immerhin, verschmähte ihn aber. Tote Tiere schienen meine Sinne derzeit generell abzustoßen.
Wie es der Zufall wollte, führte seine Route uns erneut nach Köln. Es war an der Zeit, mich nun der Auseinandersetzung mit meinem Problem (Verwandtschaft) zu stellen. Sogleich zur Tat schreitend rief ich meinen Vater an. Unterrichtete ihn, dass es mir gut ginge (keiner sich Sorgen zu machen brauchte). Er freute sich aufrichtig darüber und erinnerte mich bei der Gelegenheit, dass der Chefarzt der Psychiatrie in Osnabrück mich am nächsten Tag zu einem Gesprächstermin erwartete.
Dr. Zweig !!! Da hatte ich ja jetzt noch einmal Glück gehabt. Wow, ... diesen Termin hatte ich total vergessen. Dabei war er sogar sehr wichtig: Vor einiger Zeit hatte ich ins Auge gefasst, an einer Rehamaßnahme teilzunehmen. Dr. Glitzer hatte mir davon so lange vorgeschwärmt, bis ich dem Erstkontakt mit seinem Kollegen am Ende zustimmte. Weil privat versichert, wurde mir auch dieses Mal wieder das Privileg zuteil, es mit dem Chef zu tun zu bekommen. Von Dr. Glitzers nahe gelegenen Klinik aus hatte man mich hin chauffiert.
Unter dem Einfluss von Medikamenten stehend nahm ich zwar kaum am Geschehen teil, beobachtete aber trotzdem alles äußerst kritisch. Dr. Zweig hatte mir kurz einmal in die Augen gesehen und sich, ohne sich zu uns zu an den Tisch zu setzen, ohne viel Federlesen sein Telefon geschnappt. Aufgebracht sagte er:
<< Was hast du mir denn da schon wieder geschickt! >>
Verwirrt sah ich auf. Sprach er von mir? Nein. Das konnte nicht sein. Ich stellte keinen Grund dar, deswegen zu schimpfen? Ein wenig ungehalten wunderte ich mich darüber, dass er in meiner (und der meines Begleiters) Gegenwart über Patienten und Fälle sprach, die mit uns nichts zu tun hatten.
<< Dauernd schickst Du mir Leute, mit denen ich hier nichts anfangen kann! >> regte er sich auf.
<< Was soll ich denn jetzt damit machen? Zurückschicken? Na meinetwegen. >>
Dann wandte er sich uns wieder zu.
<< Das hat er letztens schon mal gemacht. >> wandte er sich nun an meine Begleitung.
<< Dauernd bekomme ich Patienten von ihm geschickt, mit der Bitte um Weiterbehandlung, wirklich schwerer Fall und so weiter, und dann ist der gesund! Das geht doch so nicht. Das geht echt nicht >> beschwerte er sich.
Da hatten wir es. Er konnte nicht mich meinen. Ich war ja schwer krank. Zumindest hatte man mir das erzählt. Außerdem fühlte ich mich aufgrund der harten Medikation, unter der ich stand, kaum zurechnungsfähig. Dass es mir nicht gut ging, würde man mir sicher auch von außen ansehen, dachte ich, davon peinlich berührt.
Dann hatte Dr. Zweig sich mir zugewandt, gar nicht mehr ungehalten oder aufgebracht, sondern freundlich. Mich mit seinen klaren, verschmitzten Blick direkt anschauend. Plötzlich war ich im Aufmerksamkeitsfokus. O Gott. Jetzt bloß keine Fehler machen!
<< Und? Was halten Sie davon? >> fragte er.
Wovon sprach er? Ich war verwirrt.
<< Wovon? >> fragte ich vorsichtig.
<< Na von dieser Maßnahme. Was halten Sie denn davon?>>
Angestrengt fixierte ich den Tisch, scharrte mit den Füßen. Tischoberfläche grau. Das half mir jetzt auch nichts. Teppichboden unter meinen Füßen, welcher leise Widerstand leistete. Auch nicht besser. Ich konnte der Situation nicht entfliehen. Musste handeln. Erfolglos versuchte ich mich in einer Blitzanalyse. Was sollte denn das jetzt werden? Unsicher schwieg ich. Schaute aus den Augenwinkeln, den direkten Blickkontakt vermeidend.
<< Antworten Sie bitte für sich selbst. Nicht das reproduzieren, was die Kollegen Ihnen eingeredet haben. >>
Haeh?!?
Das konnte nicht real sein. Ich litt bestimmt unter Wahnvorstellungen. Oh mein Gott, hatten die mit dem, was sie mir einredeten, etwa Recht? Die Situation machte mir Angst. Wie kam ich jetzt am schnellsten hier raus? Dann nahm ich allen Mut zusammen und antwortete, dass ich mich der Argumention seiner Kollegen34 angeschlossen habe.35 Dr. Glitzer meinte, ich sei vollständig auf fremde Hilfe von außen angewiesen. Um meinem Wunsch nach einem Absetzen der Medikamente ein Entgegenkommen zu gewährleisten, fügte ich mich seinen Anordnungen nahezu ohne mich zu widersetzen, auch dann, wenn ich anderer Ansicht war. Ich bin Arzt - Sie werden assimiliert werden - Widerstand ist zwecklos.
Dass das genau so und nicht anders abgelaufen war, durchschaute Herr Dr. Zweig sofort. Er hatte es mir beim Betreten des Sprechzimmers von der Nasenspitze abgelesen und sich (in meinem Beisein) direkt lautstark bei seinem Kollegen darüber beschwert. Dann stellte er mir diese Frage:
<< Wollen Sie das denn überhaupt? Oder eher nicht. >>
Man hatte sich soviel Mühe gegeben, mir meinen eigenen Willen bis hin zum Abwinken abzugewöhnen... und nun kam er ins Spiel und ... hatte der mich gerade eben tatsächlich gefragt was ich wollte??? Vor lauter Überraschung zwinkerte ich ein paar mal. Seit wann wurde nach meiner Meinung gefragt? Es verwirrte mich derart, dass ich eher an ein Missverständnis zu glauben bereit. War das ein Trick? Wenn ja, dann ein ganz besonders mieser. Verunsichert schwieg ich.
<< Sie können sich das ja nochmal überlegen >> hatte er gesagt.
Mit gemischten Gefühlen hatte ich das Sprechzimmer verlassen und war in die andere Klinik zurück verfrachtet worden. Aber - dieser klare, durchdringende Blick und seine unverhoffte Solidarität mit mir, dem kleinen, auf der niedrigsten Stufe innerhalb der Gesellschaft stehenden Patienten - das war mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Aus diesem Grunde hatte ich einen weiteren Termin mit ihm ausgemacht. Leider hatte ich diesen über all die Aufregung glatt aus den Augen verloren.
Meinem Vater hatte fiel die Aufgabe zu, mich rechtzeitig daran zu erinnern. Ein rettender Gedanke. Ob krank oder nicht36 diente dieses Unterfangen einer guten Sache. Deshalb wollte ich diesen Termin jetzt unbedingt wahr nehmen. Jean Paul fuhr im genau richtigen Augenblick nach Köln, so dass ich genau im richtigen Augenblick meinen Vater angerufen und dieser mich im genau richtigen Augenblick daran erinnern konnte. Das war die Gelegenheit! Alle wären glücklich und die Situation würde sich endlich beruhigen.
Bevor wir uns wieder von einander verabschieden würden, wollte Jean Paul noch eine zehnminütige Pause bei einem seiner Bekannten mit mir einlegen. Es gäbe da jemanden, den er mir unbedingt vorstellen wollte. Voller Erstaunen stellte ich fest, dass sein Kumpel auf einem recht verwahrlost wirkenden Bauwagenplatz im Stadtteil Deutz wohnte. Wir wurden von einem Rudel kläffender Hunde begrüßt, es roch nach Fäkalien. Der Typ, zu dem wir in den Wagen kletterten, war zwar nett, stank aber furchtbar. Junge Mädchen liefen um ihn herum. War der etwa Zuhälter?
Als wir wieder gingen, war ich darüber sehr froh. Ich dankte JP für seine Fürsorge, äußerte aber auch meine Abscheu, die ich während unseres Besuchs dort empfunden hatte. Das machte ihn traurig. Er erzählte mir, dass sein Freund an einer MS-Erkrankung litte und zeitweilig sogar deshalb im Rollstuhl sitzen würde. Das machte ihn für mich jedoch weder zu einem vertrauenswürdigeren, noch zu zu einem wohlriechenderen Gesellen. Ich hatte nicht vor, noch einmal zurückzukehren. Wir verabschiedeten uns herzlich. Wehmut erfüllte mein Herz. Jean Paul war ein feiner Kerl. Ich würde ihn vermissen.
Es war bereits später Nachmittag. Ich musste mich auf den Weg machen. Das war vielleicht eine (Tor)Tour! Zuerst nahm mich jemand in seinem Auto mit, der ohne das vorher abzusprechen in eine ganz andere Richtung fuhr. So kam es, dass ich dann mitten in der Valachai landete, dazu gezwungen, irgendwie zurückzufinden. Im Dunkeln.
Irgendwie schaffte ich es zum nächsten Bahnhof, wo ich mich dann37 immerhin in eine richtigere Richtung bewegen konnte.38 Weitere endlos lange Fußmärsche erreichte ich die richtige Autobahn. Dennoch hielt kein Auto mehr an. Innerhalb von drei Stunden verirrten sich nur zwei Pkws an mir vorbei, die mich wahrscheinlich nicht einmal gesehen haben, weil die Stelle, an der ich stand, nicht beleuchtet war.
Ich wartete, und wartete. Nun kam überhaupt keiner mehr. Oje,... die Zeit lief mir davon... der Termin,... der Termin! In meiner Angst, diesen womöglich zu verpassen, verließ ich die Auffahrt, um mich unbemerkt auf dem Seitenstreifen neben der Autobahn her zu schleichen und möglicherweise mit etwas Glück auf dem nächsten Rast/oder Parkplatz einen gutmütigen Menschen zu finden, der mich ein Stück mitnähme. Ich musste irgendwohin, wo mehr los war als an dieser trostlosen, gott-verlassenen Autobahnauffahrt, an der ich nun schon sinnlose sechs Stunden zugebracht.
Leider befand sich an diesem Fahrbahnabschnitt gerade eine der vielen für die A1 typischen39 Baustellen. Nicht einmal einen Standstreifen gab es! Also watete ich unter Aufwendung von einiger Kraft und Konzentration durch das hohe Gras40 im Dunkeln neben der Autobahn her. An einer Nothaltebucht fuhr ein Streifenwagen an mir vorbei, dessen Insassen mich sofort bemerkten. Sofort schalteten sie ihr blaues Licht ein und ließen die Sirene aufheulen. O.o ....
Scheisse... was für ein Glück, dass wir uns auf einer Autobahn befanden!41 Da hält man nicht einfach so an, das wäre viel zu gefährlich. So vernünftig waren sie schon, das versuchten auch sie nicht. Das Beamten-FZ fuhr zwar jodelnd, aber unverrichteter Dinge an mir vorbei. Da ich ihnen nicht noch einmal begegnen wollte, verließ ich die Autobahn, wanderte ein Stück Weg parallel neben ihr her. Kurze Zeit später sah ich, wie der Polizeiwagen - hell beleuchtet - langsam und nach mir Ausschau haltend, erneut vorbei zuckelte.
Leider bog die kleine Straße, auf der ich langging, einige Zeit später nach rechts ab. Um überhaupt weiter voranzukommen, musste ich zurück zur Autobahn. Ganz bestimmt hatte der Streifenwagen seine Suchaktion nach mir auch schon wieder aufgegeben, sprach in mir selbst Mut zu. Also passierte ich die Lärmschutzbrüstung - und - hatte es der Himmel geschickt?, da stand doch glatt ein Auto!
Die Warnblinkanlage leuchtete. Vielleicht musste irgendjemand mal ganz dringend pinkeln oder man hatte eine Landkarte zu lesen. Egal. Was es auch war, es handelte sich um einen Glücksfall. Die würden mich ganz bestimmt mitnehmen bis zum nächsten Park, oder Rastplatz. Sie mussten einfach! Schnell rannte ich hin und war schon in Versuchung, den Beifahrer anzusprechen, der gerade wieder in das Auto eingestiegen, als ich42 erkannte: da drin war alles grün! OMG, Kacke, genau, der Pollenwagen. Zu einer Vollbremsung und Umkehr meinerseits war es nun zu spät.
Man reagierte voll ingrimmiger Freude:
<< A-HA! Sie suchen wir schon die ganze Zeit!!!!! >>.
Mal wieder fiel mir spontan nichts ein, was ich dazu hätte sagen können. Vielleicht... Ups?
<< Wo ist die rote Taschenlampe! Wo ist die rote Taschenlampe! >> brüllte es mir entgegen.
Was? Wovon redete der? Was denn für eine rote Taschenlampe?
<< Wo ist die rote Taschenlampe! >>
<< Aeh, rote Taschenlampe? >>
<< Ja! Die rote Taschenlampe! Wo haben sie die? >> kreisch.
Also das sollte mal einer verstehen. Ich hatte keine Ahnung. Irgendwann fiel mit der (rote) Reflektor ein, den ich zu meiner eigenen Sicherheit an der Hose baumeln hatte.
Voll aus dem Häuschen waren sie... Ich musste natürlich erst einmal einsteigen, wie schön, jawollll... - wieder mal "mit kommen". Zunächst wurden mir in der irrigen Ansicht, ich sei die ganze Strecke auf der Autobahn herum gelatscht, Suizidabsichten unterstellt. Sogleich kontaktierten sie alle Psychiatrien im Umkreis, in deren Kartei ich zu allem Überfluss auch noch auftauchte.43 Aber, immerhin, auch das kam heraus, galt ich nicht als entlaufener Sträfling. Trotzdem tönte der Polizist44 nun schadenfroh:
<< Soooo...! Dann wissen wir ja jetzt auch, wo wir dich hinbringen. >>
Er grinste breit. Ich war entsetzt.
<< Neieiein, hörens, isch kann dat erklähren! >> schnatterte ich aufgeregt.45
<< Ich bin neben der Autobahn hergelaufen, weil dort eine Baustelle war! >> erklärte ich, um die vermeintlichen Suizidabsichten, die man mir unterstellte, zu revidieren.
<< Ich habe einen wichtigen Termin mit einem Psychiater in Osnabrück, den ich unbedingt wahrnehmen möchte. Meine ganze Zukunft hängt davon ab! Und dann hat mich von Köln aus ein Fahrer an der falschen Stelle ausgesetzt, von der ich nicht mehr weggekommen bin, sonst hätte ich mich gar nicht so verhalten. Das war eine Verzweiflungstat! Ich hatte gar nicht die Absicht, die Autobahn zu betreten! >> geriet ich in einen Redefluss, der diesmal tatsächlich als Sprechdurchfall gewertet hätte werden können, so schnell, wie ich diese vielen Worte herausbrachte, um dadurch meinen Hals zu retten.
<< Sie können uns ja ruhig sonst was für Geschichten erzählen. Das kennen wir schon. Das wird ihnen jetzt auch nichts nützen. Wir bringen Sie jetzt erst mal hinter Schloss und Riegel >> äußerte sich der Polizeibeamte geringschätzig.
<< Aber, aber >> setzte ich an.
<< Schnauze! >> bellte er.
<< Anton Emil >> sagte seine Kollegin jetzt in seine Richtung.
Daraufhin schwieg er, wenn auch ihm das nicht zu passen schien.
Ich erzählte alles Mögliche, von dem Telefonat mit meinem Vater bis hin zu der geplanten Rehamaßnahme. Auf der Wache46 wurde ich nach der Aufnahme der Personalien47 von einem Streifenwagen auch noch zum nächsten Rasthof chauffiert. Man hatte den Wahrheitsgehalt meiner Aussagen geprüft und auf diesem Wege feststellen können, dass alles, wovon ich berichtet, der Wahrheit entsprach.
Plötzlich war man sogar bereit, mich tatkräftig zu unterstützen. Welch ein Luxus, kicherte ich in mich hinein, hatte ich doch noch einen (zugegeben, etwas ungewöhnlichen) Chauffeur gefunden. Erstaunlich! Was für eine fürsorgliche Haltung! Kamen Schutzengel neuerdings vom Mars? Auch gut! Ich gehöre48 sowieso nicht zu jenen A.C.A.B. Brüllern. Selber! Wer so was schreibt oder schreit, hat es nicht anders verdient, als wie ein Bastard behandelt zu werden. Polarisierende Parolen nützen niemanden! Nicht jeder Cop ist ein wehrlose Menschen verprügelnder Versager mit Alkoholproblemen. Es gibt in dieser Branche auch Menschen, die tatsächlich nichts weiter tun, als nach bestem Wissen und Gewissen ihren Job zu machen.
Müde, aber pünktlich - kam ich nach einigen überstandenen Abenteuern noch ordnungsgemäß in seinem Sprechzimmer an. Da war er. Unspektakulär ließ er mich ein. Wie immer verzierte ein überaus verschmitztes Lächeln sein Gesicht.
<< Na, und? Was gibt´s >> fragte er mich direkt und geradeaus.
<< Ich bin hier, um noch einmal mit ihnen über die geplante Reha-Maßnahme zu sprechen. >>
<< Ja, ich weiß? >> sagte er.
Gefolgt von einem resoluten:
<< Aber das ist doch nichts für Sie. >>
Ich stürzte in ein Vakuum.
<< Warum?? >> war alles, was mir noch einfiel.
Ja! Warum zum Teufel sagte er jetzt so was zu mir!
<< Sie sind doch intelligent. So etwas, das brauchen Sie nicht. >>
Aha.
<< Aber ihr Kollege hat gemeint, ich hätte sonst gar keine Zukunftsperspektive. Und dass das die perfekte Lösung für mich wäre. Er hat da regelrecht von geschwärmt! Warum sind Sie denn jetzt einer anderen Meinung? >>
Ha! Da reist man quer durch Deutschland für einen so viel versprechenden Termin und bekommt man so was serviert.
<< Waren Sie denn schon einmal in solch einer Einrichtung? Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet? Denn: Wenn ja, würden Sie mich jetzt nicht danach fragen. >>
Mann, jetzt fehlten mir schon wieder die Worte! Aber man hatte doch behauptet, ...
<< Ich soll psychisch krank sein, hat man mir gesagt. >>
Das war jetzt das Argument, dagegen konnte er nichts mehr einwenden. Selbstsicher wartete ich auf seine Antwort, die prompt in Form von:
<< Das ist doch Blödsinn. >> auf der Bildfläche erschien.
Oh? Das zog mir nun vollends den Boden unter den Füßen weg... Ich bekam einen Lach und Hustenanfall.
<< Ja, also das müssten Sie dann aber mal den vielen Leuten erzählen, die da etwas ganz anderes behaupten. >> sagte ich skeptisch, mir gleichzeitig Hoffnungen machend.
Ich konnte denen ja sonstwiewas erzählen, mir hörte eh keiner zu. Aber jemanden wie ihn, den würde man ernst nehmen. Das wäre schön. Zu schön, um wahr zu sein, träumte ich, während ich aus dem Fenster blickte. Wären doch die werten Herrschaften Glitzer und Co nur vor Ort. Dann würden wir hier Geschichte schreiben.
<< Ach, lassen Sie sich mal nichts einreden >> antwortete er leichthin.
<< Schauen Sie sich doch mal an! Ihr Blick ist klar, sie sind wohl orientiert ... Sie wollen gar nicht wissen, womit wir es hier täglich zu tun haben. Sie sind nicht krank. Ganz bestimmt nicht. >>
Ich schwieg.
<< Sind Sie sich da ganz sicher? >> fragte ich ihn.
<< Ja >> antwortete er mit fester Stimme.
Wieder schwieg ich.
<< Ich habe aber Probleme... >> versuchte ich leise weiter vor mich hin zu protestieren.
So leicht würde ich mich nicht geschlagen geben.
<< Nicht ganz unerhebliche, das ist kaum von der Hand zu weisen >>
Da! Da war sie! Die viel beworbene und bei mir so schwerfällige Krankheitseinsicht. Wenn mich Glitzer und Co nun sehen könnten! Ich imaginierte Applaus und Blitzlichtgewitter.
<< Die hat doch jeder Mensch, so mehr oder weniger >> sagte er.
<< Das ist doch kein Weltuntergang. Trauen Sie sich ruhig mal etwas zu. Machen Sie etwas aus sich und ihrem Leben, machen Sie eine Ausbildung! >>
Er lächelte.
<< Sie werden das schon schaffen. >>
Er hätte mir nur noch beruhigend die Hand tätscheln müssen, das Klischee wäre perfekt gewesen.
<< Ich weiß nicht... >>
Ich wusste es wirklich nicht. Daran, dass ich es alleine schaffen würde, diesen emotionalen du-bist-krank und du-musst-in-die-Klapsmühle Knoten in meiner Familie zu lösen, zweifelte ich doch sehr. Außerdem war ich traumatisiert und mir dessen bewusst.
<< Wissen Sie was? Ich gebe ihnen hier ... >> er wühlte herum, kramte etwas aus seinen Papieren heraus, hielt es mir hin.
<< Hier, kommen Sie, ... ich gebe Ihnen mein Karte. Wenn Sie wirklich einmal Hilfe benötigen, dann kontaktieren Sie mich. >>
<< Ich brauche aber eine Therapie.... >> insistierte ich.
<< Ach was >> behauptete er steif und fest.
<< Da sind Sie hier an der falschen Adresse. Das machen Sie besser nicht hier bei uns, nicht stationär. Dafür gibt es Psychologen, die so etwas unkompliziert ambulant durchführen können. Wenn Sie das wirklich wollen, ist das gar kein Problem... >>
<< Okay... ? >>
Tausend Fragezeichen tanzten durch den Raum. Er lächelte weiter selbstbewusst vor sich hin. Mir fiel dazu nichts mehr ein. Von diesen unerwarteten Eindrücken überwältigt, fehlte mir ein geeignetes Konzept für den Umgang mit der neuen Situation. Sie enthielt zu viele mir unbekannte Komponenten. Die Information, nicht bescheuert zu sein, war mir nicht neu, eines daran aber unerwartet: dass es jemanden gab, der meine Ansicht zu teilen schien. Einer, der auf meiner Seite stand?49
Ich konnte es kaum glauben. Gut sortiert und mit einer eindeutigen Zielsetzung war ich hier angekommen, und nun? Das brachte mich ganz durcheinander. Was war das denn für einer? Weigerte sich einfach, mir zu helfen! Darin unterschied er sich jedenfalls nicht von seinen Kollegen. Jedoch handelte er aus ganz anderen Beweggründen. Und daraus ergaben sich davon sehr deutlich unterscheidende Konsequenzen, welche ich in Ruhe durch analysieren musste. Aber dafür benötigte ich Zeit. Und Ruhe. Die ich gerade nicht hatte. Also musste ich das zunächst vertagen.
Ich fühlte mich, wie als sei mir gerade ein bösartiger Tumor entfernt worden. Etwas seltsam zwar, aber fast wie neu geboren. Gleichzeitig machte sich eine leichte Orientierungslosigkeit breit. Da war ich nun endlich zu akzeptieren bereit, was mein momentan unausweichliches Schicksal darstellte... und dann passierte mir so etwas! Erklärte der mich einfach für gesund? Unschlüssig blieb ich vor dem Klinikgebäude stehen. Und was jetzt? Ich befühlte die Visitenkarte in meiner Hosentasche. Trotz allem war er Psychiater, einer von den Bösen! Nein. War er nicht. Dass nicht alle blöd waren, hatte er mir ja gerade eben eindrucksvoll bewiesen. Trotzdem war mir mulmig zumute, eine Adresse wie diese in der Hosentasche mit mir herum zu schlüren. Was, wenn die jemand fand und daraufhin Rückschlüsse über meinen Geisteszustand zog? Ein Risiko. Vielleicht sollte ich sie besser bald entsorgen.
Ja. Er hatte Recht. Ich war nicht krank. War ich nicht! Und wenn ich Unterstützung brauchte oder eine Psychotherapie absolvieren wollte, dann würde ich mich melden können. Das klang nach einem guten Angebot. Würde ich mich jemals aus freien Stücken bei so einem Kurpfuscher melden wollen? Ich hätte diese Visitenkarte hüten sollen wie meinen Augapfel. Das wusste ich aber damals auch noch nicht, weshalb sie in einem Mülleimer zwei Straßen weiter landete. Psychiatrieärzte! So etwas brauchte doch keiner!50
"Ambulante Gesprächstherapie". Jou, die kannte ich. So etwas wie mit Frau Dr. Vogel noch einmal zu erleben, wollte ich mir tunlichst ersparen. Ich war es auch nicht anders gewohnt, als mir selbst zu helfen, wollte nicht mehr über meine Probleme sprechen als unbedingt notwendig. Sie auf direktem Wege zu lösen, war viel besser. Vorher stundenlang Zeit damit zu verschwenden, darüber zu reden, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, war Mumpitz.
Auf gings, zurück nach Köln. Man hatte sich dort im Rudel getroffen und sehr enttäuscht darüber gezeigt, dass ich zuerst diese (für mich wichtige) Reise antreten wollte. Also war ich mit dem Versprechen abgereist, nach der Erledigung meiner Aufgabe sofort wiederzukommen. Das big Besäufnis war schon gelaufen, man hatte sich bereits wieder in alle Windrichtungen zerstreut.
Bei Ethan hielten sich zur Zeit immerhin mein Bruder und Master Anton auf. Ich schlief erst einmal eine Runde auf dem Sofa. Ethan saß derweil ununterbrochen hypnotisiert an seiner Spielkonsole, alle anderen übten sich in Langeweile. Ein Handstandwettbewerb wurde abgehalten. Davon ganz unbeeindruckt würdigte Ethan, unentwegs Knöpfe drückend und auf den Bildschirm starrend, die restlichen Menschen im Raum keines Blickes. Beschwerden darüber nahm er stoisch hin. Flugsimulator. Egoshooter. Konnte es etwas Wichtigeres geben?
Als ich wieder ansprechbar schien, berichtete mein Bruder mir von einer Person aus meinem früheren Bekanntenkreis, die mich unheimlich gerne wiedersehen würde. Unter dem Namen, den er mir nannte, fiel mir auf Anhieb keiner ein. Weiblich? Gut drauf? Krass unterwegs? Stark geschminkte Kratzbürste? So jemand sollte ich kennen? Das war mir neu. Er sagte mir, ich würde diese Person schon erkennen, wenn ich sie erst sähe. Er war sich ganz sicher. Sie arbeite im Ostbunker in Osnabrück, wo bald ein Konzert stattfinden würde. Schon wieder nach OS? Was für ein Hin und Her. Na, Hurra. Okay,... warum nicht einfach gucken fahren.
Diesen Menschen da hinter der Theke sollte ich kennen? Wer sollte das nochmal genau sein? Angestrengt kramte in meinem Gedächtnis, um dort nichts zu finden. Eine halbe Stunde stand ich da und starrte diese Person ununterbrochen an. Das konnte nicht stimmen. Ein Missverständnis. Hmm. War das vielleicht die Falsche? War die gemeinte Person krank und das hier nur die Vertretung? Was hatte mein Bruder gesagt, wie sie heißen sollte? Woher sollte ich sie kennen? Auch sie machte sich nicht die Mühe, mich zu beachten. Beruhte das fehlende Wiedererkennen sogar scheinbar auf Gegenseitigkeit. Bis es mir dann dämmerte: Tentakel! Die, die Asterix und ich damals mitgenommen hatten zu den "Chaostagen" in Dortmund. Was sie an dem Tag verpasst hat: Da Asterix Alkoholiker war, wirkte er nach Außen hin nüchtern, obwohl er einiges getrunken hatte. Er hatte trotzdem darauf bestanden, zu fahren, um dann mit hundert Km/h durch die Innenstadt zu fahren, dabei geblitzt zu werden und direkt danach in eine Polizeikontrolle zu geraten. Er verlor seinen Führerschein, worauf er mir kurzerhand sein Auto schenkte.
Aus diesem Grunde hatte sie mit ihrem Kumpel am darauf folgenden Tage völlig verkatert hatte nach Hause trampen müssen.51 Bis zu jenem schicksalsträchtigen Datum, an welchem ich sie damit, sie nicht mit zu unserem Abenteuer auf der Polizeiwache zu nehmen, sehr verärgert hatte, waren wir befreundet gewesen. In ihrer Welt gab es auch nur das böse Erwachen am Tag danach, bei welchem das Taxi gen Heimat nicht vorhanden - und ich daran Schuld.
Das musste es sein. Das war sie, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Auch wenn sie nicht aussah wie sie. Ich sprach sie an, hatte richtig geraten. Tentakel! 52 Cool. Die erste Amtshandlung: auf dem Boden sitzend rauchten wir zusammen eine Friedenspfeife, vor lauter Freude gar nicht wissend, worüber man als Allererstes ein Gespräch anfangen. Außerdem musste sie schon bald wieder hinter ihre Theke. Man vereinbarte, später gemeinsam zu ihr nach Hause zu pilgern.
Wir planten, erneut nach Köln zu fahren, um dort gemeinsam ins neue Jahr zu feiern. Gesagt, getan. Das Brüderchen und Master Anton waren auch schon vor Ort. Erst besuchten wir eine (noch relativ junge) Freundin, Siffi. Gleich darauf wollten wir meinen Großeltern einen kleinen Besuch abstatten.
Großmutter freute sich sehr. Das tat sie eigentlich immer, ganz egal, was für Schauergeschichten man über mich in der Weltgeschichte herum posaunte. Der Einzige, der sich davon sichtlich beeindrucken ließ, war mein Großvater. Aber der meckerte sowieso immer gern an allem herum.53 Zum Glück war er sonst eher der schweigsame Typ. Am besten versuchte man gar nicht erst, mit ihm ins Gespräch zu kommen.54
Siffi lebte bereits mit ihren süßen 16 Jahren in einer eigenen Wohnung in einem Jugendwohnheim. Dort war zwar ein Betreuer für die Aufsicht angestellt, der sich aber nie blicken ließ. Was hieß, bei ihr war gut Party machen.
1 (ich lief gerade durch den Volksgarten)
2 (???)
3 (darin war sie Jaeck nicht ganz unähnlich)
4 (der Trick hatte ja schon beim letzten Mal gut funktioniert)
5 (was er wohl wirklich meinte, ist, dass es ihm dann besser gehen würde, weil er sich durch überteuerte Abrechnungen mit meiner meiner Privaten ein paar güldene Krötchen dazu verdienen könnte. Tatsächlich hat sein ärztliches "Engagement" in genau dem Augenblick ein Ende gehabt, als ich 1998 zu einer Gesetzlichen wechselte)
6 (Gehen sie nicht über Los...)
7 (dieses Mal tatsächlich eindeutig gelogenen)
8 (welches Drama benötigte)
9 (es war eine Mixtur aus panisch und autoritär)
10 (in dem Augenblick war ich Miss Langfinger! Nein, das hat nichts mit Langstrumpf zu tun!)
11 (und in einen willen, und seelenlosen Zombie verwandeln)
12 (Hierfür zerplante ich einen längeren Zeitraum - schließlich liebt einen die Familie ja trotz aller Querelen, die man in einer solchen haben kann. Als eine liebende Familie würden sie auch trauern - das musste ich realistisch betrachten dazu malte ich mir aus, wie sie vielleicht Jahre später gemeinsam mit einem Besucher meine Photos an der Wand betrachten würden: Das war meine Tochter, sie ist irgendwann gestorben, im Jahr ?? Achja,... ja 1997 oder 98´ ?"... In meiner Vorstellung konnten sie mich (dann, wenn ich nicht mehr da sein sollte) auf einmal akzeptieren. Wenn ich als Wunschträume-Verwirklichungs-Kandidatin, als Knetmasse nicht mehr zur Verfügung stand. Plötzlich konnten sie mir sogar so eine Art Wertschätzung entgegen bringen. Als schlechter Mensch durfte ich schließlich nicht in Erinnerung bleiben. In dieser Vorstellung waren sie sogar dazu bereit, mir meine ganzen Unzulänglichkeiten zu verzeihen: Ja, es war nicht immer alles einfach mit ihr, aber sie hat einen Platz in unserem Herzen bekommen)
13 (uthopisch, da hinderlich, verachtenswert, da ein Zeichen der Schwäche)
14 (was schon einen logischen Widerspruch in sich darstelle)
15 (freien Willen gab es nicht => er war der Feind, den es auszumerzen galt)
16 (Macht und Kontrollwahn innerhalb einer sozialen Struktur)
17 (aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen mit meinem, ja, wie soll man ihn nennen, sechsten oder, völlig egal, meinetwegen auch siebten Sinn, hegte ich keine Zweifel)
18 (außer dabei, mich davor zu schützen, aber auf das Naheliegenste kommt man nicht)
19 (im Gegensatz zu mir)
20 (in Grunde wussten es eh alle. Der Grund weshalb die, die es wussten, auch die Schnauze hielten: die personifizierte Angst)
21 (sprich => tot)
22 (vielleicht nicht einmal das)
23 (es gibt schöneres)
24 (gleich zwei Mal hintereinander, da sie mir, als ich ihr (mehrere Male) gesagt hatte, dass sie ihren Zweitschlüssel mitnehmen müsse, wie üblich nicht zugehört hatte)
25 (was ich zunächst ablehnte, woraufhin er aber so böse wurde, dass ich, bevor er mich deswegen massakrierte, lieber schnell den Papierlappen nahm und mich artig dafür bedankte)
26 (Deutschland konnte mir echt sowas von gestohlen bleiben)
27 (mit welchem er ununterbrochen die linke Spur belegte)
28 (vor allem solche, die auch anhielten und mich mitnahmen)
29 (froh darüber, an die Isomatte in meinem wenigen Gepäck gedacht zu haben)
30 (bei ihnen in der WG waren angeblich noch zwei ganze Zimmer frei, in denen ich zunächst sogar kostenlos hätte leben können)
31 (leider total ekligen)
32 (und mich zwingen wollte, auch noch den Rest dieses widerlichen Burgers zu verspeisen)
33 (und schwierige Gespräche)
34 (=> ich würde eine Rehamaßnahme benötigen, hätte sonst kaum eine andere Perspektive)
35 (drückte damit also im Grunde genommen aus, keine eigene Meinung zu haben. Die hatte ich mir zu dem damaligen Zeitpunkt ja auch konsequent abgewöhnen müssen)
36 (das war ja letztendlich ziemlich egal - solange man die aufgepeitschten Emotionen aller Beteiligten damit befrieden könnte)
37 (böseschwarzgefahrenbin - weilgarkeinGeldhatte)
38 (außerdem nutzte ich die Gelegenheit, mir ausgiebig die Zähne putzen)
39 (die A1 ist wie der Kölner Dom: immer irgendwo kaputt)
40 (und ziemlich viel Müll)
41(noch dazu an einem Stück einspuriger Einbahnstraße)
42 (ein bisschen spät)
43 (diese Bonner Giftmischer)
44 (er war darüber richtig glücklich)
45 (in kölschem Dialekt, in den ich, wenn ich emotional bin, hineinfalle)
46 (dort war es schön warm)
47 (endlich mal wieder das ganz normale Prozedere, welch eine Wohltat, welch ein Luxus: ansprechbare, vernunftsbegabte Beamte!)
48 (auch wenn ich nicht alles, was die Polizei tut, gut heiße)
49 (auch wenn er mir damit im Augenblick keine große Hilfe war)
50 (aber: er hatte Recht: Was weltliche Probleme betraf, war ich ein Entfesselungskünstler. Es gibt zwei Sorten Mensch: die, die sich gerne und hingebungsvoll darin verstrickten - und zwar so lange, bis sie sich selbst für hoffnungslos bewegungsunfähig erklären können, woraufhin sie lautstark um Hilfe flehen, damit andere sich aufopferungsvoll für sie ins Zeug legen - Diese Sorte Mensch ist so sehr daran gewöhnt, dass sich, wenn sie sich nur geschickt genug selbst bemitleiden, andere für sie vor ihren Karren spannen lassen, dass ihre Problemlösestrategien eine Eigenbeteiligung häufig gar nicht erst vorsehen. Dann gibt es noch solche wie mich. Ich gehörte zu jenen, die versuchten, um eine Beteiligung von unzuverlässigen Dritten nach Möglichkeit herum zu kommen)
51 (beim nächsten Telefonat war mir kreischend und zeternd die Freundschaft gekündigt worden:
<< dass Du es wagst, hier noch anzurufen!! >>
... Okay... wagte ich es halt nicht mehr...)
52 (ihren bürgerlichen Namen hatte sie abgelegt. Wenn man in einem Kuhdorf geboren und aufgewachsen, in welchem sogar tagsüber die Bürgersteige hochgeklappt blieben, wollte man in seinem restlichen Leben nichts bürgerliches mehr an sich haben. Man veränderte nicht nur sein Äußeres so, dass einen hinterher keiner mehr wieder erkennen sollte, sondern am besten gleich die komplette Identität. Mit ihren wasserstoffblond gefärbten Haaren, den bis zur Unkenntlichkeit gezupften Augenbrauen und ihren stark geschminkten Augen sah sie aus, als wäre sie jemand anderes)
53 (wenn sich gerade an etwas gut herummeckern ließ)
54 (wer das wagte, der konnte sich auf stundenlange Vorträge über seine jeweiligen Spezialinteressen gefasst machen)