XVI.

16. Dr. Jekyll und Mr Hyde

 

Wie Dr. Glitzer befohlen1 hatte ich mich damit einverstanden gezeigt, an der geplanten Rehamaßnahme teilzunehmen2. Als mein Vater den Vorschlag machte, Wohnungen zu besichtigen, war ich ziemlich überrascht. Ich entschied ich mich für ein zentral gelegenes Apartment im ersten Stock. Auch für die Einrichtung wurde gesorgt: Es gab ein Bett und einen Tisch sowie auch einen PC, an welchem ich für meinen zukünftigen Unterhalt arbeiten konnte. In der Klinik hatte ich einen Bürokursus belegt. Sollte sich der Eifer und Fleiß nun doch noch auszahlen.

 

Die erste Nacht in meiner neuen Wohnung hätte eigentlich einen Neuanfang markieren sollen, kam mir aber wie ein Auftakt zum Scheitern vor. Traurigkeit erfüllte mich. Statt sich zu freuen3 hatte er sich ohne viel Federlesen in seinem Heimatdorf Stoff besorgt. Stundenlang saß ich im Auto, ohne zu wissen, was er tat oder wann er überhaupt zurückkam.

 

Dann wollte er sich vor meinen Augen einen Schuss setzten. Darüber war ich nicht gerade glücklich:

<< Was machst du denn da? Spinnst du? Hör mal, ich dachte, du hast aufgehört? Du hast es versprochen! >>

<< Was hast du denn? Ach das..., beruhige dich. Das sind nur Anabolika. Lass gut sein. Davon verstehst du nichts. >>

Der wollte mich doch für blöd verkaufen! Ich stieg aus, setzte mich auf eine Bank und fing an zu weinen. Nachdem seine Aktivitäten soweit gediehen, stieg er aus und setzte sich neben mich. Versuchte dann, seinen Kopf auf meinem Schoß zu legen. Ich stieß ihn weg:

<< Was denkst du dir eigentlich dabei? >>

Er war total high.

<< Du musst damit aufhören. >>

Nun belehrte er mich:

<< Das sagst du so einfach! Von heute auf morgen ist ein Entzug einfach nicht machbar, weißt du das denn nicht? >>

Soviel zu den Anabolika.

<< Man muss sich langsam runter dosieren. Glaub mir, ich kenne mich damit aus. >>

Ich glaubte ihm kein Wort.

<< Vertraust du mir nicht? >>

War es tatsächlich so? Ich wusste es wirklich nicht. Mit Drogen kannte ich mich tatsächlich nicht aus. Vielleicht hatte er Recht und ich vertraute ihm nur nicht genug.4

 

Dann geschah der Autounfall. Sein Auto war so etwas wie ein erweiterter Teil seiner Selbst, sein Augenstern. Damit zu protzen seine Lieblingsspielwiese. Ich sollte fahren, er habe Bauchschmerzen. Es hatte geregnet, die Straßen waren nass und rutschig, weshalb ich ein gemächliches Tempo bevorzugte. Immer wieder trieb er mich zu mehr Eile an. Ich gehorchte nur widerwillig.

 

Dann waren wir zu schnell, um noch rechtzeitig hinter dem anderen Auto zum stehen zu kommen. Eigentlich wäre es kein Problem gewesen, nach rechts auszuweichen, als er auf einmal schreiend am Lenkrad zu reißen begann. Dem Fahrer wie eine besengte Sau ins Lenkrad zu fallen, ist besonders in einer Gefahrensituation nicht besonders klug.5 Der Wagen6 wurde verkauft, das daran verdiente Geld direkt in Drogen umgesetzt. "Schuld" daran war selbstverständlich ich.

 

Der Schwangerschaftstest fiel negativ aus. Ich wusste es besser, beschloss, meinem Frauenarzt einen meiner eh schon sehr seltenen Besuche abzustatten. Dieser stellte fest, was ich bereits wusste.

 

Jetzt ging meinem frisch wieder auf gebackenen Lebensgefährten der Arsch komplett auf Grundeis. Er fing wieder damit an, unzusammenhängend-wirres Zeug zu reden. Dabei führte er aus der Perspektive mehrerer Personen heraus mit sich selbst Gespräche, die ein Außenstehende/r nur erahnen konnte. Selbst wenn man sich darum bemühte, verstand man ihn nicht. Das Gefühl, einer von ganz vielen zu sein, die scheinbar alle nicht existierten, hatte etwas skurriles.7

 

Aufgrund meiner Ambitionen, an der Rehamaßnahme teilzunehmen, musste ich zum Psychiater. Nun nur noch gesetzlich versichert, bekam ich einen Neuen zugeteilt, machte einen Termin aus. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wieso man eigentlich mich für die Verrückte hielt. Was war mit ihm? Das hätte doch was: Jemand, der anderen Menschen mit dem nächstbesten Gegenstand den Schädel einschlug, sobald eine provozierende Bemerkung fiel. Da er aber einer von jenen vielen war, die genau so funktionierten, wie man es gern hatte, dachte keiner daran. Davon, ein anständiger, braver Mitbürger zu sein, verstand er etwas. Mein Dr. Jeckyll hatte für jede Gelegenheit ein passendes Gesicht. Da man im Allgemeinen nur das Nette, Aufgeschlossene und Liebenswerte von ihm zu sehen bekam, genoss er einen unzweifelhaften Ruf.8

 

Vor allem mein Vater brachte dies mit ungestümer Begeisterung zum Ausdruck. Sehr lange hatte ich nicht (oder nur sehr wenig) gesprochen, mich von allem zurückgezogen. Nun erlebte er mich wieder einmal als einen Menschen, was er aber nicht auf sich9 sondern auf meinen Partner zurückzuführen versuchte:

<< Wie hast du das denn gemacht? >> fragte er Jaeck.

<< Was denn? >> gab dieser verwirrt zurück.

<< Na!... Sie spricht! … Sie spricht wieder! >>

<< Na,... Öhm, ja, keine Ahnung. >> Smileyyy.

Alter. War ich im falschen Film gelandet oder was! Erst tat man so, als sei ich so etwas wie ein Problemfall, eine Last... und nun freute er sich darüber, so etwas wie einen fähigen Dompteur gefunden zu haben? Darüber schien auch Jaeck sich offensichtlich sehr zu freuen, wie sein einfältiges Grinsen bewies. Es kam nicht darauf an, ein guter Mensch zu sein, sondern nur, wie einer auszusehen. Alles andere war vollkommen gleichgültig.

 

Bei dem, was ich erlebte, handelte es sich nicht etwa um die im klassischen Sinn bekannte "häusliche Gewalt", welche zu einem klassischen Rollenverteilungsbild dazu gehört. Mich ordentlich zu verdreschen, seinen Frust an mir auszulassen, genügt nicht. Sein hoch gestecktes Ziel: meinen Willen zu brechen. Er wollte mich einknicken sehen. Wenn ich von "Missbrauch" spreche, ist damit nicht der normalerweise assoziierte sexuelle Übergriff gemeint.10 Diese beiden gängigen Formen der Gewalt wären noch auf irgendeine Art und Weise einzuschätzen. Pustekuchen! Was in seiner Akte stand, schien zu stimmen: Er war unzurechnungsfähig.

 

Es gab Phasen, in denen war alles gut, dann aber auch welche, in denen er schutzbedürftig und labil.11 In so einem Fall vergriff er sich am Nächstbesten. Das war in der Regel ich. Seine Berechtigung hierfür zog er12 aus der Tatsache, dass ich es als so offensichtlich minderwertiges Wesen nicht anders verdiente. Nicht ich, sondern er war der Leidtragende. Ich seine Last. Dafür, dass er dazu gezwungen war, das alles auszuhalten zu müssen, sollte ich bezahlen. Das war seine Vorstellung von Partnerschaft. Meine sah etwas anders aus: Danach sollte man Jemanden gut behandeln und respektieren. Was mir ans Herz gewachsen ist, beschütze ich. Sorge dafür, dass es diesem an nichts fehlt.

 

In Anbetracht der Gefühle, die wir füreinander empfanden, ging ich davon aus, dass auch er irgendwann noch merken (und sich dafür schämen) würde, was er tat. Mit dem Einzug dieser Erkenntnis erhoffte ich mir von ihm die Einsicht, eine (dringend notwendige) Therapie machen zu müssen. Hätte ich mich so aufgeführt wie er, wäre genau das meine Reaktion gewesen: Schadete ich anderen durch mein Verhalten, würde ich mich deswegen behandeln lassen. Sicherlich hätte er irgendwann den gleichen vernünftigen Gedanken. So konnte man doch nicht leben!

 

Dazu kamen die Hormone. Was Frauen im Rahmen einer normal verlaufenden Schwangerschaft üblicherweise so erleben, weiß ich nicht. Für mich war es die Hölle. Ich war ein einziges Nervenbündel. In diesem wirren Gefühlschaos klammerte ich mich an ihn, wimmerte, flehte, mir Halt zu geben, auf mich aufzupassen. Dabei war eher seine An,- als Abwesenheit einer der Gründe, derentwegen ich den Verstand zu verlieren drohte. Was für eine komische Strategie, sich an genau dem festzuhalten, was einem schadet!13 Die blühende Unvernunft des Gedankens, sich aus einem Teufelskreis zu befreien zu versuchen, indem man ihn umkreist wie der Mond seine Erde.14

 

Zwischendurch ging er fort. Jedes mal wurde ich halb verrückt vor Angst. Es lief nach einem Schema ab: Er ging weg. Zehn-zwanzig Minuten später durchlebte unerklärliche Agonien, die mich unter Schmerzen stöhnen ließen. Mehr, als dass es irgendwie mit ihm zu tun hatte, wusste ich auch nicht. Das Prozedere, welchem er sich mit seinen neuen Freunden unterzog, war gefährlich. Nach einiger Zeit ließ es wieder nach. In der Regel war das dann auch der Moment, in dem er wieder zurück kam.

 

Wieso ging er immer wieder dorthin? Weshalb kam mir dauernd Geld abhanden, selbst dann, wenn ich es versteckte? Ich fürchtete mich vor dem Gefühl, was auftrat, wenn er fortging. Also bat ich ihn immer wieder darum, nicht zu gehen, gab vor, Angst vor dem Alleinsein zu haben. Nein: Ich hatte keine Angst davor, alleine zu sein, sondern eine Höllenangst vor dem, was er sich dort antat. Was genau für eine Gefahr es war, war mir nicht klar.15

 

Dann sollte mir der Neue begegnen. Ich begab mich in seine Paxis. Ohne einleitenden Smalltalk oder Händeschütteln, dabei nicht von seinem Schreibtisch aufblickend eröffnete Dr. Kitzler das Gespräch mit:

<< Naa, hören wir Stimmen? >>

Ich war verwirrt. Wo nahm der denn jetzt statt einer Begrüßung eine solche Frage her? Und: was für Stimmen? Natürlich hörte ich Stimmen, jeden Tag! Im Augenblick hörte ich die seiner Sekretärin, seine und gleich vermutlich auch meine eigene. Trotzdem schüttelte ich verwirrt den Kopf.

<< Nein? >> sagte ich leise, wobei ich ihn am liebsten schon auch danach gefragt hätte, was für Stimmen er meinte.

<< Ja, dann nehmen wir bitte diese Pillen hier,... >> führte er das "Gespräch" weiter.

<< Was sind das für welche? >> fragte ich ihn.

Eine berechtigte Frage. Bei seinem Verhalten sollte er sie jedoch vermutlich eher selbst einnehmen. Nahm er mich überhaupt wahr?

<< Was das ist? Na, das tut uns guuut! >> antwortete er.

 

Da wurde mir klar: Ich musste hier so schnell wie möglich hier raus. Das Päckchen mit dem Pillen, die "uns gut tun" würden, nahm ich an mich, damit es nicht den Anschein machte, ich sei uneinsichtig.16 Dann sah ich zu, dass ich da weg kam. Wenn Reha Pillenfressen bedeutete, war ich doch nicht mehr so der Riesen-Fan davon. Diesem Etwas17 wollte ich keinesfalls mehr wieder begegnen. Ob ich das zukünftig irgendwie vermeiden konnte? Wie das mit der geplanten Rehamaßnahme unter einen Hut zu kriegen sein sollte, wusste ich auch nicht. Eines war klar: Das hier - machte mir Angst.

 

Da ich seit Neustem nicht mehr privat, sondern gesetzlich versichert, war ich eine Abteilung herunter gerutscht und hatte es nicht mehr mit dem dem Dr. Zweig persönlich, sondern mit einem seiner Handlanger zu tun. Dr. Kitzler aber hatte eine ganz andere Auffassung von seinem Beruf. Davon, einen Patienten zu untersuchen, hielt er nichts. Das war reine Zeitverschwendung. Dr. Glitzers Vorlage reichte.

 

Dass sein Vorgesetzter gar nicht an eine Erkrankung glaubte, schien ihm nicht bewusst. Er behandelte mich wie eine der vielen Bescheuerten, die man ruhig zu stellen hatte, indem man am oberen Ende einfach genug K.O.Tropfen ein warf, bis diese untenrum einknickten. Im Grunde war seine Motivation der meines durchgeknallten Lebensgefährten nicht unähnlich. Ihren Allmachtsphantasien schien ich durch meine pure Existenz im Wege zu stehen. Meine Anwesenheit: auf einmal ebenso wenig erwünscht wie die des Kindes, welches in mir heran wuchs.

 

Jaeck schlug hinein, trat hinein:

<< Ich trete es dir heraus >>.

Wenn ich "ihn nicht verlieren" wolle, müsse ich abtreiben. Wir hätten "keine andere Wahl", behauptete er. Wollte er mich wirklich zwingen, mich zwischen Mord an einem ungeborenen Kind oder Ihm zu entscheiden? Das Leben war kein Marmeladenglas, etwas, das man nach Belieben auf und wieder zuschrauben konnte! Er schleppte mich zu einem Beratungsgespräch bei Pro Familia. Sehr schnell fand ich heraus, dass er nur den Du-darfst-Schein für eine Abtreibung zu erhalten plante. Normalerweise versuchten sie dort, einem in (auch in Notsituationen) zu helfen, damit man sein Kind unter Umständen trotzdem zur Welt bringen kann. Den Mitarbeitern tischte er so grässliche Horrorgeschichten über mich auf, dass man mir plötzlich dazu riet, auf keinen Fall ein Kind bekommen zu dürfen. Bis zu dem Augenblick hatte ich noch kein einziges Sterbenswörtchen gesagt. Statt dessen hatte ich nur da gesessen und mit wachsender Bestürzung zugehört. Kein einziges Mal wurde ich nach meiner Meinung gefragt.

 

Wie meine Mutter zuvor verlangte es Jaeck danach, ein Gespräch unter vier Augen zu führen.18 Die entsetzten Blicke und das Getuschel hinterher habe ich nicht vergessen. Statt mich um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten! Denen hätte ich schön reinen Wein einschenken können. Aber nein, Horrormärchen sind ja viel interessanter als die Realität. Ich ließ sie in dem Glauben, das hatte man sich gerade nicht anders verdient.19 Auch hier fanden Gespräche ausschließlich über meinen Kopf hinweg statt. Ich existierte, um Missgeburt zu sein. Mehr stand mir nicht zu.

 

Davon, dass wir es schaffen könnten, fest überzeugt, versuchte ich, ihn zu überreden, einen Entzug zu machen. Ganz nüchtern reduzierte ich alles auf die eine Formel: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Die Rechnung hatte ich aber ohne ihn gemacht: Für ihn galt eher: wo kein Wille ist, ist auch kein Weg. Sein Desinteresse an machte ich ihm nun regelmäßig zum Vorwurf:

<< Du liebst mich gar nicht! Ich bin dir doch völlig egal. >> sagte ich.

<< Ich könnte sterben, du würdest mir nicht eine Träne nachweinen. >>

<< Na, spring doch aus dem Fenster! >>

<< Aus dem Fenster im ersten Stock, haha >>

Einige Zeit später kam ich im Krankenhaus wieder zu mir.

 

Wir hatten einen Streit gehabt, wobei die Wohnung total verwüstet worden war. Daran erinnerte ich mich noch. Danach ist alles dunkel. Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich das Emblem: Marienhospital. Scheiße! … Verdammt.20

Wo bin ich!?! Warum bin ich hier?

Ich sei schon seit ein paar Tagen auf der Intensivstation, habe einen Schädelbruch, bislang im Koma gelegen.

<< Bitte versuchen Sie gar nicht erst, aufzustehen >> rasselte eine Kragnkenschwester routiniert Anweisungen herunter. Angeblich sei ich aus dem Fenster meiner Wohnung auf ein fahrendes Auto gestürzt. Sowohl der Fötus als auch ich21 hatten den Sturz wie durch ein Wunder überlebt.22

 

Bald darauf kam Dr. Kitzler. Seine „tun uns guut“ - Pillen hatte ich bloß mit nach Hause genommen, wo ich sie zwar sorgsam, aber unangetastet in einer Schublade aufbewahrte. Hätte ich mit ihm darüber, ob ich diese brauchte oder nicht, herum zu diskutieren versucht, hätte er mich sicher einer der in der Psychiatrie inflationär eingesetzten Zwangsmaßnahmen unterzogen. Eine Kostprobe dieser Art "Ärzte" hatte ich ja bereits kennengelernt, daran bestand überhaupt kein Bedarf. Und Dr. Kitzler, das war einer von denen.

 

Zufällig bekam ich das Gespräch mit, welches er auf dem Flur der Intensivstation mit den Krankenhausärzten führte: 23

<< Haloperidol? Nein, lieber nicht, die Patientin ist schwanger. >>

Dr. Kitzler rief entsetzt aus:

<< WAS?? Ist denn keine Abtreibung anberaumt? >>

Er tat so, als wüsste er höchstpersönlich dafür zu sorgen, dass genau das passierte. Er hatte hier die Krone auf dem Kopf, nahm sich sogar das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden.

 

Weil er diese Macht aber nur in seiner übergroßen Einbildung besaß, antworteten die Krankenhausärzte:

<< Das muss die Patientin schon selbst entscheiden. Darüber wissen wir nichts. > >

Der Erkenntnis, dass dies hier nicht sein Zuständigkeitsbereich war, musste er sich fügen.

<< Dann eben eine Überweisung ins LKH. >>

<< Ja gut. Aber die Patientin braucht Ruhe, mindestens acht Tage oder auch länger. >> lautete die Antwort.

Wenn ich gekonnt hätte: ich wäre ich auf allen Vieren weg gekrochen.24 Aber ich konnte nicht.

 

Was für eine komische Decke befand sich denn da neben meinem Bett in einer Plastiktüte? Ein freundlicher Pfleger berichtete: nachdem ich mit einem Auto kollidiert, sei ich auf der Straße herumgelaufen, während Anwohner und Ersthelfer am Unfallort mich vor weiterem Schaden zu beschützen versuchten. Irgendjemand habe mir diese Decke umgelegt.25 Von einem Gefühl der innigen Dankbarkeit ergriffen trieb es mir augenblicklich Tränen in die Augen.

 

Tags darauf kam meine Mama mich besuchen, werten Master Anton im Schlepp. Er war schockiert. Meine Mutter hingegen schimpfte wie ein Rohrspatz. Warum Jaeck mich besuchen kam, verstand ich hingegen immer weniger. Hatte er nicht sowohl mich als auch sein ungeborene Kind unbedingt los sein wollen? Beide Knochen des vorderen Schädelbereichs (Stirn) waren gebrochen. Man hatte ein Pflaster draufgeklebt. Mit Greisen, die nur noch von Maschinen am Leben erhalten wurden26 auf einem Zimmer wurde ich plötzlich intensiv mit dem Tod konfrontiert. Mein Gott, das war knapp gewesen.

 

Es war Karneval in Osnabrück: Direkt vor dem Fenster gab es - NeunundneunzigLuftballons und AnderNordseeKüste - den ganzen Tag. Furchtbar. Die Osnabrücker verstehen nichts vom Karneval. Die können nur eins:27 Saufen und Krach machen. Irgendein Stimmungseinheizer brüllte die ganze Zeit irgendwelche Saufparolen durch sein Mikro. Mein Kopf fühlte sich an, wie, als würde er platzen. Ich brauchte Ruhe.

 

Die kleine Wunde an meiner linken Schläfe hätte eigentlich zugewachsen müssen.28 Berührte ich zufällig die Stelle, an der man das Pflaster platziert hatte, schrie ich fast auf vor Schmerz. Es tat ungewöhnlich weh. Seltsamerweise hörte diese Wunde auch nach mehreren Tagen nicht damit auf, zu bluten. Ich bat um einen Spiegel. Das wollte ich mir einmal näher anzusehen. Vermutlich sah ich ziemlich scheiße aus: die Schwestern wollten mir erst gar keinen aushändigen.

 

Tatsächlich - ich glich in erschreckender Weise einem Zombie: Beide Augenhöhlen waren tiefblau-violett verfärbt. Die Haut konnte die Knochen auch nicht mehr länger kaschieren, wobei das Gesicht an manchen Stellen durch starke Schwellungen unnatürliche Formen angenommen hatte. Links auf meiner Stirn klebte das ominöse Pflaster, von altem, eingetrockneten und hellem, feucht glitzernden Blut durchtränkt. Wieso hatten sie es Im Verlauf der Woche nicht einmal ausgewechselt?

 

Ich musste darum bitten. Aus welchem Grund weigerten sich die Krankenschwestern eigentlich, so ein dummes Heftpflaster mal eben auszuwechseln? Wo war das Problem? Nach fünf Stunden konsequenten Fragens kam (erst gegen abend) endlich ein Arzt. Lautstark beschwerte sich sich, herbemüht worden zu sein. Er habe Besseres zu tun, als mit solchen Lappalien seine Zeit zu verschwenden. Mit einem Ruck riss er theatralisch das Pflaster ab. Eine zentimeterlange, spitze Glasscherbe klebte darin. Wahnsinn.

 

Die hatten die Wunde noch nicht einmal ausgewaschen, statt dessen über die Scherben29 einfach nur ein Pflaster geklebt. Alle in dem Raum Versammelten starrten gebannt auf die aufrecht im Pflaster stehende, in der Krankenhausbeleuchtung eindrucksvoll glitzernde Scherbe. Vor lauter Schreck und Faszination sagte keiner ein Wort. Um mich tatsächlich darüber aufzuregen, war ich viel zu schwach. De Fakto empfand ich nur ein Gefühl der Erleichterung, dass das dumme Ding, was mir in den letzten Tagen solche Schmerzen bereitet, endlich aus der Wunde entfernt worden war.30

 

Allein der Geruch von etwas Essbarem rief heftige Übelkeit hervor. Das Einzige, was ich ohne Probleme herunter brachte, waren Tee und (schlückchenweise) Birnensaft. Man ernährte mich intravenös. Bald wurde veranlasst, mich auf eine normale Station zu verlegen. Mitsamt Bett schob man mich in einen Raum, in dem sich ein paar andere Patienten in gedämpftem Tonfall unterhielten. Durch das geschlossene Fenster hörte ich Kirchenglocken läuten. Für mich fühlte es sich so an, als glockte es nicht draußen, sondern in meinem Kopf. Ich hatte solche Schmerzen, dass mich jedes Geräusch erschütterte. Die Hände auf die Ohren gepresst lag ich zusammengekrümmt auf dem Bett.

 

Ihro Gnaden, Dr. Kitzler erschien. Unter Qualen flüsterte ich ihm zu, nicht in der Lage zu sein, mit ihm eine Unterhaltung zu führen. Dann bat ich ihn um Hilfe: ich habe solche Schmerzen, wolle lieber wieder zurück auf die Intensivstation. Zepter und Schärpe dabei veranlasste er die Erfüllung meines Wunsches. Behauptete, mich unter "intensiver Aufsicht" wissen zu müssen, so dass ich "keine Dummheiten" anstellen könne. Sicher doch! Zurück auf der Intensivstation machten sich das Pflegepersonal mit wachsender Begeisterung über mich lustig:

<< Guck Dir die an, die ist nicht ganz dicht, hihihihi >>

Ab jetzt war es so: Wenn ich um eine Flasche Wasser (oder ähnliches) bat31 erntete ich nur eins: Gelächter und höhnische Sprüche.

 

Langsam war ich auch wieder in der Lage, aufzustehen. Nach dem Gang zur Toilette nicht mehr vom Klo hochzukommten, war eine komische Erfahrung. Mein rechtes Bein hatte sich anscheinend beim Sturz ein Stück aus dem Gelenk gedreht. Als ich darauf hinwies, wurde gelacht, dieser Umstand jedoch weder untersucht, noch behandelt. Es kugelte sich immer wieder unverhofft aus. Wenn ich versuchte, aus dem Sitzen hochzukommen, musste ich mich an diesem netten Griff für Invalide hochziehen... Als ich die Ärzte darauf hinwies, verhielt man sich, als gäbe es mich nicht. Viel interessanter schien, diesen KitzelKing aufzuspüren, dafür zu sorgen, dass ich bald in dessen Reich verlegt werden würde. Das alles bekam ich nur ganz am Rande mit.

 

Osnabrück war offenbar geeigneter, eine Drogenabhängigkeit zu entwickeln, so dass Jaeck mich nach wie vor häufig besuchte. Einmal brachte er mir etwas Essbares mit. Da ich keinen Bissen runter bekam, wurde ich die ganze Zeit über künstlich ernährt. Auf meinen Wunsch hatte er mir mein Lieblingsessen mitgebracht.32 Davon aß ich ein paar Bissen, ohne zu erbrechen. Das war ein guter Anfang. Daraufhin versuchte ich es in den nächsten Tagen immer wieder. Soviel, wie ich gerade konnte, ohne dass mir davon schlecht wurde. Meist waren das zwar nur ein-zwei Bissen Brot pro Tag, aber immerhin!

 

Weil man von einem Suizidversuch auszugehen schien, hatte Dr. Kitzler darüber verfügt, dass ich sobald wie möglich zu ihm verlegt werden würde. Noch war es aber nicht so weit. Da er auf Hawaii, Honululu oder weiß-der-Guckguck-irgendwo verschollen, hatte ich das "Glück", an Ort und Stelle verweilen zu dürfen, wenn auch man mich schon darauf bald wieder auf eine normale Station verlegte. In dem Zimmer mit den drei erkälteten Omis war es zwar schweinekalt, aber immer noch besser als in der Psychiatrie.

 

Eines Abends rief mich über das Krankenhaustelefon seine Elfe an:

<< Das hast du extra gemacht, du Nutte,33 nächstes mal springst Du aber richtig... ! >>

Ich fing an zu weinen, hörte nicht mehr auf. Heulte laut und lang anhaltend wie der sprichwörtliche Schlosshund. Irgend so eine besorgte Frau34 saß plötzlich bei mir und laberte mich zunächst auch noch salbungsvoll voll. Konnte die denn nicht einfach weggehen!? Später gab sie es auf. Erst saß sie noch aktiv beunruhigt, später schon wesentlich abgeschlaffter, dann nur noch mit mit einem todmüden Um-Feierabend-Bettel-Blick da. Ich hatte ihr gleich gesagt, dass ihr Dasein nicht dabei half, mit meiner Trauer fertig zu werden. Man schien sich Sorgen zu machen, weil ich so sehr weinte.

 

Als ich mich Tag darauf auf einen der Stühle auf dem Flur setzte, erschrak ich. Ich hatte überhaupt kein normales Sitzfleisch mehr und mir an dem Stuhl die Arschknochen gestoßen. Bis auf meinen kleinen Bauch war nichts mehr von mir übrig. Irgendwann hatte man damit aufgehört, mir künstlich Nährstofflösungen zu verabreichen, da ich mich redlich bemühte, zu einem normalen Essverhalten zurück zu finden. Ein bis zwei Bissen Brot am Tag, mehr schaffte ich über eine lange Zeit nicht, ohne davon erbechen zu müssen.

 

Da die Nase zu laufen anfing35 brach plötzlich Panik unter den behandelnden Ärzten aus. Man vermutete, es würde "Hirnwasser auslaufen". Ich wurde untersucht. Nein, Hirnwasser sei es zum Glück nicht, aber eine Erkältung. Dies wäre aber mindestens ebenso gefährlich, erklärte man mir. Da beide Stirnknochen durchgebrochen, gäbe es eine direkte Verbindung von den Nebenhöhlen zum Gehirn. Ein Schnupfen könnte eine Hirnhautentzündung bedeuten. Zur Profilaxe wurden dicke fette Antibiotikatabletten verordnet, alles ganz Babygerecht. Was für eine Diät! Jetzt gab es zu dem Bissen Brot Antibiotika zum Nachtisch.

 

Vielleicht hätte man mich nicht in ein Zimmer legen sollen, in dem alle erkältet waren? Nachdem eine der Omis entlassen worden war, erhielt ich einen Fensterplatz. Dort erst merkte ich, wieso in dem Zimmer alle krank waren und es immer so kalt. So kalt, dass ich bereits am ersten Tag um eine zusätzliche Bettdecke gebeten hatte. Der Fensterplatz offenbarte (wenn auch etwas verspätet) die Ursache des Problems: Das Fenster war kaputt! Ich meldete diesen Vorfall sofort, berichtete im Schwesternzimmer, dass das Oberlicht sich nicht schließen ließe. Im Winter eine blöde Sache. Die Antwort, welche mich sehr verdattert zurück ließ, lautete schlicht:

<< Das wissen wir. >>

Achso. Ja. Genau. Marienhospital.

 

Als Jaeck mich das nächste mal besuchen kam, fragte ich ihn, warum seine Pupillen so geweitet seien.36 Er tat so, als wüsste er nicht, wovon ich sprach. Dann fing er auf einmal ganz demonstrativ damit an, zu streiten, sein Hauptgesprächspartner dabei wie gewohnt: er selbst. Ich beobachtete das alles völlig ungerührt. Gleich war es nicht mehr weit bis zu einem seiner legendären Weinkrämpfe? Und...? Ja! Da kam er.

 

Nun wäre ich wieder an der Reihe gewesen, ihn zu trösten. Statt dessen aber schaute ich diesem Schauspiel nur noch fasziniert und neugierig zu. Weil ich nicht auf sein zur Schau gestelltes Theater einging, zerquetschte er vor lauter Wut seine (ursprünglich einmal sehr teure) Brille. Dass diese kaputt war, warf er mir jetzt vor:

<< Schau, was du schon wieder gemacht hast! >>

Dabei fuchtelte er mit dem kaputten Brillengestell vor mir herum. Das fand ich lustig! Ich unterdrückte ein Kichern und fragte:

<< Im Ernst jetzt? Was habe ich denn damit zu tun? >>

 

Wie nennt man das, wenn man für alles die Schuld auf sich nimmt,... Gesprächsjudo? Siegen durch Nachgeben? Für mich fühlte es sich an wie... sich absichtlich rückwärts die Treppe runterfallen zu lassen. Hi, ich bin Schuld, und wie heißt Du? Und weil ich dich so lieb hab - nehme ich alles auf mich. Hurrah! Schau, was für eine Überraschung - Ich beweise dir meine Liebe, in dem ich Schuld bin. Schwupp, weg - Selbstvernichtung ist mein Lebenszweck. Judo, ja? Solche Purzelbäume waren nicht ganz mein Style. Auch "Liebe" hat ihre Grenzen.37

 

1 (und Dr. Zweig abgelehnt)

2 (ganz im Sinne der Familie)

3 (oder einfach ganz ehrlich zu einer "Pille danach" zu raten)

4 (Vertrauen ist gut, Aber: nicht kontrollieren ist scheiße)

5 (lässt man mich an Steuer, sollte mich auch fahren lassen!)

6 (dieser hatte schließlich jetzt einen Kratzer an der Stoßstange)

7 (Selbstverständlich ging es von vorne los. Wer hätte etwas anderes erwartet?)

8 (zumindest unter all jenen, die Mr Hyde noch nicht kennen gelernt hatten)

9 (auch nicht auf mich)

10 (so etwas mutet ja auch eher wie eine Verrichtung einer Notdurft bei manchen Männern an. Männer, die nicht gelernt haben, sich einer Frau auf eine anständige Art und Weise zu nähern)

11(und zu allem fähig)

12 (wie alle anderen Beteiligten ja üblicherweise auch)

13 (wenn ich mich in der Welt so umsehe, scheine ich nicht die Einzige zu sein)

14 (fast so wie in dem Witz vom Betrunkenen, der sich an einer Litfaßsäule entlang tastet und dabei den Ausgang sucht)

15 (eins und eins zusammen zu zählen, kann ziemlich schwierig sein, wenn man so dämlich ist wie ich)

16 (was - wie ich bereits gelernt hatten - ansonsten den Kampfgeist dieser Zunft erwecken würde)

17 (das den Titel Arzt meiner Meinung nach gar nicht verdiente)

18 (wahrscheinlich, um in meiner Abwesenheit ganz besonders grässlich über mich herzuziehen)

19 (wenn sie sich freiwillig derart vom ihm über den Tisch ziehen ließen, ohne seine Geschichten nur ein einziges Mal zu hinterfragen!)

20 (Marienhospital = >Tod-sein-schon-beschlossene-Sache)

21 (sowie die Fahrerin des Wagens)

22 (Schutzengel in Vollzeit!)

23 (die Türe stand einen Spalt offen)

24 (meinetwegen auch im Nachthemd, scheiß drauf)

25 (ich weiß bis heute nicht, wer, aber diese Decke bewahre ich aus Dankbarkeit immer noch auf)

26 (aber eigentlich mit diesem schon längst abgeschlossen hatten)

27 (das aber richtig gut)

28 (abgesehen von einer potentiellen Blutgerinnung und ein bisschen weniger Schmerzen)

29 (die absolut un-übersehbar)

30 (Jaeck hat mir etwas später mit einem Rasiermesser und einer Nadel weitere Glassplitter aus meinem Stirn herausoperiert)

31 (oder mich über die katastrophalen Zustände in diesem Krankenhaus beschwerte)

32 (Clodwigplatzer Standart Fastfood = türkische Pizza mit Salat)

33 (pass bloß auf das ich Dich nicht aufschlitze-mäßiger Tonfall)

34 (vielleicht eine Krankenhaus interne Sozialarbeiterin??)

35 (wie bei den anderen Patientinnen auf meinem Zimmer auch)

36 (in der grellen Krankenhausbeleuchtung fiel das auf)

37 (sollte sie zumindest)

 



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