17. Haus des Todes
Wie sollte es auch anders sein, er kam ja doch wieder. Zuverlässig wie ein Bumerang. Ich war das Spielzeug, von dem er seine Finger nicht lassen konnte. Die paar hundert Meter vom Krankenhaus bis zu meinem zu Hause zog er mich hinter sich her. Wir hatten Sex. Allein schleppte ich mich zurück, schwankte aber mehr, als geradeaus zu gehen. Dunkle Flecken tanzten.1
Ein paar Tage später schleppte ich mich wieder dorthin. Offiziell, um ihn zu überraschen. Inoffiziell hatte ich andere Beweggründe. Und siehe da: Ein Glas Wasser stand auf dem Tisch, daneben lag eine Einwegspritze. Erwischt.
<< Was hat das zu bedeuten? >> fragte ich, gleichzeitig entsetzt aber auch erleichtert, über dieses dunkle Kapitel endlich offen mit ihm reden zu können.
Jetzt konnte er sich nicht mehr herausreden.
<< Das weißt du schon ganz genau. >>
Bum. Das hatte gesessen. Damit hatte er Recht.
<< Was machst du überhaupt hier? >> fuhr er mich an.
<< Wissen die Ärzte von den Ausflügen, die du so unternimmst? Vielleicht sollte ich mal mit denen darüber reden! >> drohte er auf einmal.
<< Häh? >> 2
Das war nicht logisch. Wie bekam ich nun den Faden des Zusammenhanges wieder in das Nadelöhr der Realität? Haufenweise Fragen schossen mir durch den Kopf, keine davon schien einen Sinn zu ergeben.
<< Komm, ich bring dich zurück >> bot er mir an.
Ich war so verwirrt, dass es mir nicht einmal gelang, zu widersprechen.
Schweigend begleitete er mich zum Krankenhaus. Dort gingen wir zunächst ins Café, bestellten Kaffee. Ein paar Minuten später holte er auf einmal ein weiteres Spritzbesteck aus der oberen Hemdtasche, mit welchem er grinsend vor meinen Augen herumfuchtelte. Was sollte das denn? Warum verhielt er sich so?! Klar hatte ich die Gelegenheit nutzten wollen, um ein Gespräch darüber zu führen, wie es weitergehen sollte. Aber doch nicht in der Öffentlichkeit! Schließlich ist der Konsum von harten Drogen in Deutschland nicht ganz legal. Alles, was damit zusammen hängt, bespricht man unter eher vier Augen. Wir jedoch befanden uns in einem gut besuchten Krankenhaus-Café. Ich flüsterte:
<< Was soll das ? >>
<< Ich weiß gar nicht, was du meinst >> antwortete er scheinheilig.
<< aber …, ich weiß es doch jetzt mittlerweile! >> zischte ich.
Das sollte mal einer verstehen. Dies hier war weder der geeignetste Zeitpunkt, noch die richtige Umgebung. Was für ein Spinner! Was dachte er sich bloß dabei. War er von allen guten Geistern verlassen? Ich überlegte.
<< Was denkst du dir eigentlich dabei ? >> fragte ich laut und vernehmlich.
Er lächelte sich verträumt zu. Der verarschte mich doch...
<< Du Idiot!! >> fuhr ich ihn an.
<< Willst du mich verarschen? >>
Da ich jetzt nicht mehr flüsterte, fühlte sich bei der Gelegenheit irgendein ein alter Spießer genötigt, herumzumeckern.
<< Würden Sie bitte etwas leiser sein? >> nöselte es.
<< ICH SPRECHE SO VIEL UND SO LAUT, WIE ICH WILL >> sagte ich noch ein bisschen lauter und so deutlich, dass auf einmal keiner mehr zu widersprechen wagte.
Statt dessen blickten sie plötzlich alle angestrengt auf ihre Teller. Na bitte. Geht doch. Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten, das bekommt Euch besser,
<< Wir sind hier weder in einer Bibliothek, noch ein einem Kloster! >> fügte ich (wieder in normaler Lautstärke) hinzu.
Aber echt.
Nun tat er so, als habe er die Pflicht, mich zu erziehen:
<< Wie du dich wieder aufführst! >> legte er mit einem theatralischen für-mich-Fremdschämen los.
<< Wie bitte? Ich bin doch nicht die, die sich hier bescheuert benimmt! >> entgegnete ich.
Sein Triumph:
<< Guck, guck! >> er wedelte mit dem Finger in Richtung der anderen Krankenhaus-Café Gäste.
<< Die Leute gucken schon! Du bist ja sooo peinlich. >>
Da guckte definitiv keiner mehr. Außerdem war mir das gerade so was von egal. Und wenn sich uns der ganze Saal aufmerksam zugewandt hätte. Plötzlich war ihm danach, zu gehen. Hektisch zahlte er die Rechnung, habe angeblich noch ganz dringend etwas zu erledigen.
Dann schickte er sich an, mich zur Station zurückzubringen. Es kam es mir so vor, als glaubte er, mich wie eine Willenlose3 abführen zu müssen. Wir hätten uns auch unten am Ausgang4 verabschieden können? Von Vorteil, wenn man es eilig hatte. Wenn er etwas zu mir gesagt wie zB. "hab dich lieb, wird schon wieder werden, lass uns später reden". Kein Problem! Statt dessen musste ich mir von ihm irgendwelche wilden Mutmaßungen über meinen Geisteszustand anhören! Traurig dachte ich an das Gespräch unter vier Augen, welches ich mir erhofft. Ja, so lief der Hase, während der helle Fleck am Po in seinem auf und ab hypnotisch Morsezeichen versandte.
Während meines Krankenhausaufenthaltes stellte ich mir die Frage, wie eigentlich seine Freundin damit zurecht kam, dass ihr Mann mir ständig hinterher stieg. Oder damit, dass er es unterhaltsam fand, Menschen zu quälen, ihnen Todesangst einzujagen? Machte er das auch mit ihr? Und? Spielte sie mit? Jammerte sie? Geilte ihn das auf? Kopulierten sie dann? Ich beschloss, das nicht zu verstehen zu versuchen. Anscheinend war ich ihm als derzeitiges Lieblings-Spielzeug wichtig.
Ich vermutete, dass er mich nicht wirklich töten wollte. Wobei man sich nie darüber im Klaren war, ob es dabei bleiben würde. Vor allem, wenn man keine Luft mehr bekam und nicht wissen konnte, ob man ersticken würde oder nicht. In einem solchen Moment war es durchaus eine interessante Frage, ob man wieder nur Teilnehmer an einem seiner vielen selbstinszenierten Theater oder er einem dieses mal tatsächlich den Hals umdrehen würde. Seine Spielregel: er kontrollierte. Ich war die Laborratte, mit welcher er tun und lassen konnte, was ihm gerade in den Sinn stieg.
Wusste sie, dass er drogenabhängig war? Sein5 ganzes Geld mit beiden Händen zum Fenster heraus warf? Wenn ja, warum unternahm sie nichts? Ich würde in meine Rechnung mit einkalkulieren müssen, dass sie möglicherweise einen ebenso großen Dachschaden hatte wie er. Es mit ihm so lange auszuhalten, machte diesen Umstand wahrscheinlich. Allein dadurch, mit ihm Zeit zu verbringen, sich sein schwachsinniges Geschwafel in einer Tour anhören zu müssen, wurde man bereits bescheuert. So etwas hielt kein Mensch auf Dauer aus. Wenn sie allerdings beide so drauf waren, passten sie vielleicht einfach gut zu einander.
Herr Dr. Kitzler war glücklicherweise immer noch6 verschollen. Eine Vertretung wurde angefordert. Diese bestand aus Herrn Dr. Tuborg von der Abteilung für Geront-Psychiatrie.7 Die Gerontologie. Dort bewahrte man die Alten auf, die keiner mehr brauchte. Per Gesetzesbeschluss für unzurechnungsfähig erklärt und entmündigt wurden sie ohne eine Aussicht auf Entlassung in einem Betonkasten eingesperrt. Soweit sie überhaupt noch gehen konnten, stolperten sie auf der Suche nach einem Ausweg an der Wand entlang im Kreis. Großzügige Verteilung fanden8 die todbringenden chemischen Zwangsjacken, von denen ich ja bereits eine Kostprobe erhalten. Aus dieser Art von Vor-Hölle kam also Tuborg.
Relaxed erwartete er mich auf einem der Stühle im Besucherbereich. Ich war ziemlich nervös: In diesem Gespräch sollte es um meinen Hals gehen. Wir gaben uns die Hand, tauschten Höflichkeitsfloskeln aus. Ihm zugewandt setzte ich mich. Siedenheiß wurde ich mir meines Krankenhaus-Looks9 bewusst. Nun war es zu spät, daran etwas zu ändern.
<< Ja. >> sagte ich und fragte (mich mehr selbst):
<< Womit fange ich an? >>
Mit einem aufmunterndem Lächeln zuckte er die Schultern.
<< Ok... >>
Tief durchatmen. Die Pferde trampelten unruhig im Startraster. Sie wollten raus, endlich Gas geben.
<< Am besten damit, ihnen reinen Wein einzuschenken. >>
<< Wie Sie wollen. Ich bin ganz Ohr. Erzählen sie, dafür bin ich da. >>
Panikattacke. OMG. OMG. Ganz ruhig. Ich musste vertrauen. Dass er dies auch verdienen würde, konnte ich bloß hoffen. Die Möglichkeit einer Wahl bestand nicht. Also: Komm her, du saurer Apfel, du, damit ich dich beißen kann.
Noch einmal tief Luft holend sagte ich:
<< Gut. Bei mir ist in der letzten Zeit einiges schief gelaufen. Sonst wäre ich ja nicht hier. Ganz offensichtlich. Sie wissen nur das, was in den Akten steht. Da gibt es einiges, was der Korrektur bedarf. Darüber und auch über alles andere werde ich Sie nach bestem Gewissen aufzuklären versuchen. Ich hoffe doch sehr, Sie haben ein wenig Zeit mitgebracht. >>
<< Stop! >> sagte er, immer noch lächelnd den Zeigefinger erhebend.
<< Ich muss Ihnen leider gestehen, mit ihrer Akte nicht vertraut zu sein. Das tut mir Leid. >>
Wieder in Begleitung: diese sympathische (leicht jüdische) Geste des Schulterzuckens.
<< Oh? Warum nicht? >>
<< Naja, >> begann er,
<< das mache ich immer so. Es ist mir wichtig, mir zunächst einen eigenen Eindruck von den Menschen verschaffen zu können, mit denen ich es zu tun habe. >>
An dieser Stelle gab es kein Halten mehr. Ich vertraute ihm alle meine derzeitigen Probleme an. Daraufhin sah er überhaupt keine Veranlassung mehr, mich stationär aufzunehmen. Da keine Suizidgefahr bestünde, könne ich nach meiner Genesung ohne weiteres nach Hause entlassen werden. Beim Abschied wünschte er mir viel Glück. Ja..., das würde ich brauchen.
Ein paar Tage später war es soweit. Als ich zu Hause ankam, wartete dort ein Junkie mit akuten Entzugserscheinungen. Er war total aggressiv. Schon auf dem Hausflur nahm er mich am Kragen:
<< Ich schlag Dir den Schädel ein. >>
Achja. Den, der gerade zerbrochen und frisch wieder zusammengeheilt war. Ich sackte in mich zusammen. Da!,10 fiel mit einem dicken "Klonk" auch bei mir der Groschen. Es gab keine Hoffnung, nicht einmal den Funken von einer! Und: er hatte etwas mit dem zu tun, was passiert war. Auch wenn es mir (noch) nicht völlig einsichtig erschien, ahnte ich die Zusammenhänge.11 Seine Waffen,12 alles, wofür es gutes Geld gab, wurden auf dem Schwarzmarkt an Kriminelle verkauft.
In der nächsten Zeit sollte ich wieder in meine Kindheit zurückversetzt werden, Prügeldummi und Frusstableiter spielen. Immer und immer wieder warf er mir vor, ihn zu Grunde gerichtet zu haben. Ich habe mir das damals wirklich zu Herzen genommen! Mich genau so verantwortlich gefühlt, wie er es mir vorwarf, zu sein. Das war wirklich komisch. Wenn jemand mir sagte, dass ich an etwas Schuld trüge - glaubte ich das auch noch. Und was noch viel schlimmer war, richtete ich obendrein auch noch mein Handeln danach aus.13
So ging es jeden Tag: Wir standen friedlich auf. Dann musste ich los, etwas zum Frühstück klauen14. Nach dem Frühstück, sozusagen als Nachtisch, bekam ich eine Tracht Prügel.15 Spätestens, wenn er tatsächlich wach wurde, die geistige Umnachtung der verkomsumierten Medikamente verflog, realisierte er, wie beschissen die Lage tatsächlich war. Um große Verzweiflung zu kompensieren, muss man einfach jemanden misshandeln, oder nicht?!
Die dadurch verursachten körperlichen Beschädigungen wären eigentlich problemlos aushaltbar gewesen. Was mir Schwierigkeiten bereitete, war die Unberechenbarkeit. Ich konnte nie einschätzen, wie schlimm die Verletzungen am Ende ausfallen würden. Obendrein auch noch schwanger, war das, was mir tatsächlich zu schaffen machte, der mit der Situation verbundene Stress. Da ich nie wusste, was als nächstes kommen würde, musste ich permanent aufs Schlimmste gefasst sein. Wären die Misshandlungen nach einem vorhersehbaren Muster abgelaufen, Routine, wäre es leichter gewesen.
Setzte ich mich an den Computer und versuchte zu arbeiten, rastete er aus. Meine Aufmerksamkeit hatte gefälligst bei ihm zu sein. Dass ich mir das Geld, welches mein Vater mir zahlte, verdienen sollte, kam ihm nicht in den Sinn. Natürlich reichte es nicht. Er verlangte, ein Überziehungskredit einrichten zu lassen. Wenn ich das nun nicht getan hätte, wäre ich dafür wieder bestraft worden. Dann hätte er nämlich seinen nächsten Druck nicht finanzieren können.
Ich tat also, wie mir geheißen, beantragte aber vorsichtshalber, mein Konto nicht allzu weit überziehen zu dürfen. Dauernd schickte er mich los, Geld auftreiben. Ich rannte und rannte, rannte, bis die Füße Blasen warfen, die irgendwann aufplatzten, worauf die Blasen Blasen bekamen, die aufplatzten und dann vor sich hin bluteten. Drehte sich mein Bein aus dem Gelenkt, stürzte ich. Dabei schrie ich zwar vor Schmerzen,16 stand aber gleich wieder auf und lief weiter.
Eines Tages fand sogar einer seiner Dealer den Weg zu uns nach Hause. Ich war ganz verblüfft. War das nicht eigentlich meine Wohnung? Würde ich so jemanden zu mir nach Hause einladen? Da stimmte doch etwas nicht! Der Gedanke brannte sich wie ein kleines Leuchtfeuer durch mich hindurch, entzog sich mir aber bald. Man diskutierte. Was lief ab? Er hatte nicht genug Geld. Wollte Drogen. Bot seinen Walkman an. Daran bestand kein Interesse. Bald zeigte er auf mit dem Finger auf mich:
<< Du kannst auch die da haben. >>
Ich hatte dem Ganzen eh schon nicht wirklich beiwohnen wollen, nun aber erstarrte ich. Was hatte er gerade gesagt? War er noch ganz bei Trost?
Der Dealer musterte mich. Er war nicht auf den Kopf gefallen und sagte:
<< Weißt du, was du tust? >>
<< Ja, sicher >> antwortete Jaeck.
<< Ich rutsche schon die ganze Zeit da drüber. Wenn ich das kann, kannst du es auch. Das ist kein Problem. >>
Der musste es aber verdammt nötig haben, dachte ich, dass er sich solch eine Blöße gab, das auch noch vor einem Fremden! Hallo? Ich war seine Freundin! Und er tat so, als sei man eine beliebige Prostituierte, nur um an seinen Stoff zu kommen! Unfassbar.
<< Ich habe aber nicht das Gefühl, dass Sie das möchte. >>
Menschenkenner. Selbstverständlich nicht!
<< Menschen sind kein Spielzeug, weißt du? Man sollte sie auch nicht so behandeln, als wären sie es. >>
Na, von dem konnte er noch einiges lernen. Das war ja gerade nochmal gut gegangen. Trotzdem machte mir die Situation Angst. Was, wenn seine anderen Freunde von der Straße keine so anständigen Menschen waren wie dieser hier? Ich konnte nur hoffen, dass sich bald eine Lösung für die Situation finden würde.
Die Rückkehr des Dr. Kitzler. Eines Tages fand sich ein Schreiben von ihm in meinem Briefkasten. Aus einer der damals üblicherweise noch überall herumstehenden öffentlichen Telefonzellen rief ich bei ihm an. Der Überzeugung, ich solle an seine väterliche Brust, versuchte er nun krampfhaft, mich davon zu überzeugen, in die Klinik zu gehen. An einen dieser Orte, wo mir soviel Übles widerfahren? Und dann auch noch unter die Fittiche von diesem Ober-Arschloch??
Sein Verhalten bislang war kaum vertrauenerweckend gewesen. Dieser Gedanke erschien nicht gerade verlockend. Statt dessen bot ich ihm einen gemeinsamen ambulanten Gesprächstermin an. Für mich war das schon das Äußerste. Es reichte ihm nicht. Er sprang im Dreieck, kreischte herum: Ich müsse jetzt sofort in die Psychiatrie, bei Fuß! Zu ihm, in sein königliches Refugium, in welchem er das Sagen hatte. Das kam nicht in Frage. Die Institution selbst war bereits ein Auslöser von Angst. Nun hatte ich es obendrein noch mit Dr. K zu tun, welcher nicht nur eine Abtreibung verlangte, sondern auch furchtbar gern die Vergabe von Medikamenten anzuordnen pflegte. Dass er sich gerade so aufführte, bestätigte mich in meiner Haltung, seinen Forderungen keinesfalls nachgeben zu dürfen.
<< Gut, so kommen wir nicht weiter >> resümierte er. Schlaues Kerlchen. Genau richtig geraten.
<< Wenn Sie nicht tun, was man ihnen sagt,... >>
War das Krönchen verrutscht? Oh, das tut mir aber leid.
<< Wir können auch anders. Sie müssen sich überlegen, ob Sie das wirklich wollen. >>
Ging dem dabei einer ab, als er das sagte? Er erinnerte mich an Oberarzt Lang. Mit so jemanden konnte man sich gar nicht normal unterhalten. Ich fing an zu lachen.17 Ohne ein weiteres Wort legte ich auf. Meine Güte!18
Als die Misshandlungen erneut Überhand nahmen, blieb selbstverständlich parallel dazu die Tür auch wieder konsequent verschlossen. Nicht einmal dann, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, meine Haut vor ihm zu schützen, hätte ich fliehen können. Trotzdem machte ich mir immer bloß Sorgen um ihn, nie um mich selbst! In nur zwei Fällen habe ich mich gegen ihn verteidigt. Und zwar in genau den Momenten, in denen er mir tatsächlich hatte Angst machen können. Meistens betrachtete ich die Situation jedoch nur aus einer analytischen Perspektive. Die Analysen ergaben: er ist ein trauriger Clown, der das Theater liebt. Für ihn war das alles nur Spiel! Die meisten Verletzungen erschienen mir nicht lebensbedrohlich, so dass ich darauf auch gar nicht reagierte.
Was mir aber tatsächlich Angst gemacht hat, war seine Drohung, mich "von den Männern mit den weißen Kitteln" abholen zu lassen. Das war das Einzige, was echte Angst auslöste. Da er mir insgesamt genau zwei Mal ernsthaft damit drohte, habe ich ihn auch exakt zwei Mal körperlich angegriffen.19
Seine Zweitfrau erfuhr von ihm persönlich über meinen Zustand. Ich habe ihm "Drogen gegeben", ihn damit vorsätzlich betäubt und mir das Kind dann "geraubt", während er angeblich nicht Herr seiner Sinne gewesen war. Er log ihr vor, es sei "nur ein einziges Mal" und das natürlich nur aus Versehen passiert. Sie tauchte regelmäßig bei uns auf, schrieb Herz erweichende Briefe. Er weinte dann. Dafür, dass ich so schlecht, erhielt ich später dementsprechende Strafen. Ich war die Familienkaputtmacherin.
Mein Vater kümmerte sich. Er ahnte nicht, was mit mir passierte, wenn er nicht vor Ort war. Statt dessen freute er sich nach wie vor darüber, dass ich wieder zu sprechen angefangen hatte. Er sah in meinem Gefährten eher so etwas wie einen Heilsbringer, jedoch keine Bedrohung. Aus seiner Sicht stellte ich nur für mich selbst eine reale Bedrohung dar.
Einmal begab ich mich sogar in diese Rehaklinik. Aufgrund unseres chronischen Geldmangels musste ich dorthin laufen.20 Dr. Zweig sollte Recht behalten: das war nichts für mich. Dort herrschte eine genauso kalte und widerlich inhumane Atmosphäre wie den psychiatrischen Kliniken, die ich bisher kennen gelernt. Zombies schlichen in gebeugter Haltung umher.
Eine Sozialarbeiterin interviewte mich:
<< Sie sind für die Reha gar nicht geeignet. Dafür sind sie viel zu aufgeweckt. Wie sind sie denn überhaupt auf die Idee gekommen? >>
<< Naja. Einer der Ärzte, bei denen ich in Behandlung war, hat mir davon erzählt. Er meinte, das sei das Richtige für mich. Sie nicht? >>
<< Nein. >>
<< Da sind Sie sich mit dem anderen Arzt einig, bei dem ich war. Wissen Sie? Jeder erzählt einem etwas anderes. Ich wüsste auch nur zu gern, woran ich bin. Gibt es denn da keinen der sich mit der Materie wirklich auskennt? >>
Sie schüttelte, dabei wissend lächelnd, den Kopf.
<< Tut mir leid. So ist das bei psychiatrischen Diagnosen. Da scheiden sich die Geister in der Regel. Entscheidend ist eigentlich nur, ob jemand der Hilfe bedarf oder nicht. Bei Ihnen würde ich, auch wenn ich nur ein Laie bin, eher sagen, dass nicht. Ganz sicher nicht. Und ich habe eine Menge Erfahrung. >>
Okay, das war wahrscheinlich so, wie sie es sagte. Sollte ich ihr von meinen Problemen erzählen? Hilfe benötigte ich tatsächlich!
<< Ja, ich habe Probleme. Hilfe brauche ich wahrscheinlich auch. >>
<< Können Sie die denn nicht selber lösen? Sie sind doch intelligent! >>
Ja, das mochte schon sein.
<< Kann ich mir das Ganze denn noch einmal überlegen? >> fragte ich sie hoffnungsvoll.
<< Hmm. Nein, das ist nichts für Sie. >>
<< Aber warum denn nicht? >>
<< Außerdem sind sie schwanger. Dafür ist die Wohngruppe gar nicht eingerichtet. >>
<< Ach, das ist aber schade. >>
<< Ja. >>
Sie senkte ihre Stimme:
<< Wollen Sie das Kind denn behalten? >>
Keine Frage! Er21 sah das anders. Kurz nach dem Ablauf der Frist fragte ich ihn, ob er von wirklich mir verlangen würde, eine Abtreibung durchführen zu lassen. Ich wies ihn darauf hin, im Anschluss höchstwahrscheinlich eine (stationäre) Therapie machen zu wollen. Dr. Kitzler habe das ja so großzügig angeboten. Ich sei auf dessen Angebot angeblich nur deshalb nicht eingegangen, weil ich hier bei ihm sein wollte.22 An einer gemeinsamen Zukunft mit mir sei er nun aber offensichtlich nicht mehr interessiert?
Auf einmal sollte ich es dann doch behalten. Ob er mich vielleicht nur nicht verlieren wollte? War es die versteckte Drohung, ihn zu verlassen, die ihn veranlasste, seine Meinung so plötzlich zu ändern? Hätte er das in dem Augenblick nicht gesagt, ich wäre auf Nimmernimmerwiedersehen verschwunden. Irgendwohin. Scheißegal.
Möglicherweise hätte mir dieser Augenblick neue Hoffnung geben können, aber nach allem, was passiert war, glaubte ich nicht mehr daran, dass sich irgendetwas verändern würde. Jeder Moment der Stille kam mir verdächtig vor, jede Sekunde der Erholung nur noch wie die unvermeidliche Ruhe vor dem Sturm. Jedes Glücks schien ich hinterher mit doppelt soviel Pech bezahlen zu müssen. Ich bewegte ich mich wie ein gehetztes Tier: bei jedem Geräusch fuhr ich zusammen, als würden mich Schläge erwarten.
Zu seinen Methoden gehörte, mich nicht schlafen zu lassen. Ich durfte nicht schlafen! Er pfiff sich seine Pillen rein, die aufgrund ihrer hohen Dosierung aber nicht mehr so wirkten, wie sie eigentlich sollten. Im Gegenteil: Nach ein paar Stunden Beinahekoma wachte er schon bald wieder auf, litt unter massiven Schlafstörungen. Wenn ich nicht gleich wach war, bekam er wieder seine Anfälle. Ich durfte doch nicht schlafen, während er Alpträume hatte!
Als ich tagsüber vor lauter Erschöpfung im Sitzen einschlief, kippte er mir Tee ins Ohr. So war ich also immer wach, mehr oder weniger. Dabei machte ich mir kalte Gedanken von einer unerreichbar weit entfernten "wärmeren" Zukunft. Irgendwann hörte ich nur noch den Stimmen der Vögel zu. An irgendwas erinnerte mich das Geräusch. Etwas, das es in meinem Leben vielleicht einmal gegeben hatte.23
Am Tage bekam ich Terror serviert. In Momenten der absoluten Erschöpfung, bei welchem einen nur noch die zwanghaft offen gehaltenen Augen davor bewahren, umzukippen und an Ort und Stelle einzuschlafen, durfte ich nicht zu ihm ins Bett, um gemeinsam auszuruhen.24 Nein, das war sein Privileg. Also schlief ich auf dem Fußboden.
Ein Geräusch weckte mich. Eines, das jeder kennt: ein metallisches Klicken. Ein Hahn wurde gespannt. Als ich hochschreckte und in diese Richtung sah, drückte er ab. Nur, um mich damit zu erschrecken, hatte er seine Pistole so modifiziert, dass es bloß laut knallte, wenn er abdrückte. Den Trick kannte ich ja schon, nur war es jetzt so, dass er mir damit einen Schrecken eingejagt hatte. In mir wuchs neues Leben heran. Es ging nicht mehr nur um mich allein
<< Spinnst du? << fragte ich ihn.25
Üblicherweise verschoss dieses Ding Schrot. Was für ein Terrorist. Ich solle zu ihm kommen, verlangte er. Widerwillig gehorchte ich. Was kam jetzt. Seine Scherze waren nicht komisch. Ich wollte das nicht. Nun drückte er mit diesem Scheißteil, erst auf meine Hand, dann in mein Gesicht ab, bis die Haut an der Stelle verbrannte. Um zu einer Reaktion fähig zu sein, war ich viel zu verdattert.26 Ich konnte es einfach nicht glauben.
Ein ums andere Mal lief es nach demselben Schema ab: Ihn packte der Spieltrieb. Er nahm irgendein Werkzeug, das gerade zur Hand, um damit meinen Körper zu beschädigen. Ich zeigte weder einen Selbstverteidigungsreflex, noch ein Wegziehen des jeweilig malträtierten Körperteils. Die einzige Ausnahme: wenn es sich um meinen Bauch handelte. Den beschützte ich. Dann konnte ich plötzlich ausweichen, fliehen und sogar abwehren.
Schlief er, legte ich mich daneben. Wachte er auf, trat er mich aus dem Bett. Als das mal wieder passiert war, schlief ich an Ort und Stelle gleich weiter. Das Verhalten war ich schon gewohnt, wozu darüber aufregen. Ich war nur mit einem Hemd und der Unterhose bekleidet. Es war Sommer! Wenn einer mit einer Kette auf die Innenseiten der Oberschenkel einschlägt, macht es aber schon einen Unterschied, ob man eine Hose trägt oder nicht.27 Während er mich auspeitschte, zeige ich keine Reaktion, blieb einfach liegen. Da er jedoch nicht damit aufhörte, konnte ich natürlich auch nicht mehr schlafen. Deshalb stand ich irgendwann auf und fragte ihn, ob er sie nicht mehr alle habe.
Dass ich so gar nicht auf alle seine Spielchen reagierte, stachelte ihn zu immer grausameren Taten an. Manchmal bekam ich in meiner Verzweiflung so Anfälle.28 Dabei schlug ich mit meiner Stirn gegen die Wand oder mich selbst mit meinen eigenen Fäusten gegen den Kopf. Manchmal schrie ich auch wie am Spieß, stundenlang, oft mitten in der Nacht.29 Das fand er gut, mich am Boden, am Schreien. So verzweifelt - genau das hatte er gewollt: Endlich eine irgendwie geartete emotionale Reaktion. Jetzt glaubte er sich in seinem Element. Er war mächtig. Kontrollierte.
Ich war nicht sein einziges Opfer. Er suchte sich immer gern auch neue. Einmal, wir auf dem Weg nach Hause waren, nahm er mich auf dem gut mit Fußgängern bestückten Gehweg bei den Schultern, warf mich mit Schwung gegen einen der uns entgegenkommenden Menschen. Ich flog einem sympathisch aussehenden jungen Mann30 in die Arme, der mich auffing und verwirrt ansah, weil er nicht verstand, wo ich dürres Ding auf einmal her gekommen war. Der Plan schien, ihn eines Anrempelns wegen hinterher zur Strafe zu verdreschen.31 Ich begriff das sofort. Komischerweise ist es bei mir so: Ist jemand anderes in Gefahr, kann ich reagieren, sogar kompetent beschützen. Etwas, dass mir bei mir selbst nie gelingt. Irgendwie war ich mir immer schon total gleichgültig. Ich zähle nicht. Mein Leben ist aus meiner Sicht offensichtlich nicht schützenswert. Aber: das des jungen Mannes zählte und der war jetzt in Gefahr. Ich entschuldigte mich rasch und signalisierte mit Gesten, dass er ganz schnell weiter gehen solle. Es funktionierte. Er kam unversehrt davon. Total bekloppt.
Ein Mal (von einem Dorf-Ausflug zurückgekommen) berichtete er mir ganz stolz, dass er sich nun als Held feiern lassen dürfe.
<< Wieso... >> fragte ich.
<< Die dummen Russen >> fing er an zu erzählen.
Russen?
<< Was für Russen? >>
<< Na, die, die immer an der Haltestelle stehen und da hin rotzen, als gehörte ihnen die Welt. >>
<< Rotzen? >> Hatten die Schnupfen? Und was hatte das damit zu tun, dass sie Russen waren? Vielleicht brauchten sie ein Taschentuch!
<< Na, spucken! Die spucken immer, überall hin, auf den Boden, an der Bushaltestelle! >>
Aha. Hmm. Spucken. Naja, ab und zu tat ich das auch mal. Und wieso gehörte ihnen die Welt? Das klang jetzt kaum noch nachvollziehbar. Ah, egal, er würde es mir sicher bald erklären. In solchen Dingen musste ich mit mir selbst geduldig sein. Manchmal brauchte ich nach Gesprächen Stunden, um die Zusammenhänge einigermaßen zu verstehen.
Wusste er, dass ich ihn nicht verstand? Würde ich ihn darauf hinweisen müssen? Ich verspürte keine Lust, mich schon wieder zu blamieren. Erstmal abwarten. Vorsichtig versuchte ich ein:
<< Okay...? >>
<< Na, denen habe ich schön den Marsch geblasen. >>
In meinem Inneren öffneten sich dementsprechende Karteikarten. Marsch: sumpfartiges Land. Marsch: ein Musikstück. Marsch: abgeleitet von Marschieren = gehen. Marsch blasen? Meine Phantasie lief Amok, da half auch kein Taschentuch mehr. Einfach nur zuzuhören, war eine dumme Idee. Ich verstand rein gar nichts mehr.
<< Na. Also. Du musst mir schon erzählen, was genau los war. Sonst verstehe ich dich nicht. >>
<< Denen habe ich es gezeigt >> erzähle er mir glücklich.
Ja, schön, Und was genau hatte er ihnen gezeigt?
<< Was hast Du ihnen gezeigt? >>
Das Gespräch entwickelte sich zu einer nervtötenden Anstrengung.
<< Na, wo es lang geht! >>
Hmpf. Okay, er hatte ihnen also den Weg erklärt. Wie schön. Dann wussten die, die glaubten, dass die Welt ihnen gehörte, nun auch, wo es lang ging.
<< Die hatten voll die Manschetten. Sind gleich stiften gegangen. >>
Aus der Mode gekommene Kleidungsstücke, Schreibutensilien.
<< Die glauben, sie könnten sich alles erlauben. >>
Ah, welch Erleichterung. Diese Redewendung kannte ich. Sie waren selbstbewusst bis hin zu frech. Das klang wie Musik in meinen Ohren, ich mochte selbstbewusst und frech. Sympathisch! Nun war ich gespannt, wie die Geschichte weiter gehen würde. Die, die spuckten, bekamen den Marsch geblasen und gezeigt, wo es lang ging, an der Bushaltestelle, wo ihnen die ganze Welt gehörte, weshalb sie meinten, sie können sich alles erlauben.
<< Und, was haben sie gemacht? Haben sie gespuckt? So richtig? Auf den Boden? >>
Das war doch eigentlich gar nicht so schlimm. Tritt sich fest, sagten wir immer.
<< Ja. >>
<< Und, was hast du gemacht? >>
<< Ich habe sie provoziert. >>
Wie jetzt. So wie er es sagte, klang es wie als sei dies eine Heldentat. Sollte ich etwa Beifall klatschen? Aber gut, das Kunststück selbst hatte ich ja nicht gesehen. Hier war ich auf seine Informationen angewiesen.
<< Wie macht man das denn? >>
<< Ich hab sie angemacht. >>
Angemacht?
<< Ihnen gesagt, sie sollen die Scheiße lassen, sonst gibts aufs Maul. >>
<< Und? >>
<< Dann sind sie auf mich los. Haha. >>
Ich schwieg.
<< Die Weiber haben voll gekreischt. Sind abgehauen. >>
<< Welche Weiber? >>
<< Na die Weiber. Die hatten Weiber dabei. Sind stiften gegangen. Abgehauen. Weggerannt. Hatten Schiss! >>
Wahrscheinlich meinte er mit "Weiber" so etwas wie Freundinnen. Es klang wie, als wären diese besonders feige und nicht sehr treu gewesen. Wenn jemand meine Freunde angriff, rannte ich nicht weg.
<< Dem einen habe ich gleich die Zähne ausgeschlagen. Ist zu Boden gegangen. Als der andere das gesehen hat, hatter Schiss gekriegt. Ist weggerannt. Wie die Weiber. Sind kreischend auf und davon. Dann bin ich zu Azis. Hab ihn gebeten, mir eine Hose zu geben. Meine war voller Blut. So kann man doch nicht rumlaufen. Wie sieht das denn aus. Danach bin ich zu den Bullen, hab ne Anzeige gemacht. Schlau ne? Man muss nur erster sein. Und, kannst du dir das vorstellen? Heute steht es in der Zeitung: Junger Mann vereitelt Raubüberfall. Hahahaha! >>
Eine Weile versank ich in Grübeln, sortierte die Daten. Dann kam mir ein Verdacht:
<< Du? >> fragte ich ihn.
<< Ja? >>
<< Wie alt waren denn die beiden? >>
Nun wollte er mit der Antwort nicht rausrücken.
<< Sag schon! >>
<< Also der eine war 17, der andere 19. >>
Minutenlang murmelte ich wütend vor mich hin.
<< Hör mal... >> nahm ich meinen Mut zusammen, ihm meine Meinung zu sagen.
<< Hast Du wirklich nichts Besseres zu tun, als Kinder zu verprügeln...? >>
Die beiden taten mir Leid. Hatten sie unterschätzt, mit was für einem wahnsinnigen Irren sie es zu tun gehabt hatten.
Ganz stolz berichtete er mir auch immer wieder von einer dicken Schlägerei in einer holländischen Kneipe. Einer der anwesenden Soldaten hatte zu seiner Freundin etwas Unschickliches gesagt, woraufhin er einen Kristallaschenbecher von der Theke genommen und dem anderen damit prompt den Schädel eingeschlagen hatte. Aufgrund der Schwere der Verletzungen wurde die Sache im Nachhinein tatsächlich strafrechtlich verfolgt, aber scheinbar kann man es sich in Deutschland leisten, Straftäter32 frei herumlaufen zu lassen.33
Wieso habe ich mich eigentlich nie gewehrt? Konnte ich es nicht, weil ich schon viel zu sehr daran gewöhnt war, für alles und jeden den Prügelknaben zu spielen? Hilfe holen war nicht drin, es interessierte eh keinen. Das hatte ich ja schon oft genug versucht. Ausweglos. Mich am Boden zu sehen, schien ihn zu befriedigen. Dieser Fakt erweckte den Wissenschaftler in mir. Würde er mich in Ruhe lassen, wenn ich Schwäche demonstrierte? Schauspielern lag mir nicht. Ich machte mir Sorgen! Die Wunden würden wieder verheilen, das taten sie immer. Aber wie sollte es weitergehen? So ging es auf jeden Fall nicht weiter. Ich war ein Haufen Elend. Okay, zumindest nahm ich regelmäßig Nahrung zu mir. Aber Stress ist nicht das ideale Setting für eine werdende Mutter.
Als ich im vierten Monat war, stach er mit einem Messer nach uns. Um das Kind zu beschützen, hielt ich reflexartig den Arm vor den Bauch. Es drang bis auf den Knochen. Da mir ein Kontakt zur Außenwelt untersagt war, wurde die Wunde auch die Tage darauf, in welchen sie stetig vor sich hin blutete, nicht von einem Arzt versorgt. Um nicht alles vollzubluten, wickelte ich ein altes Tuch um den Arm.
Als er irgendwann endlich zu seiner Elfe zurückkehrte, war ich darüber sehr froh. Auch der Schutz des ungeborenen Kindes spielte dabei eine Rolle. Schnell hatte er begriffen, dass mir das als einziges etwas auszumachen schien. Deshalb konzentrierten sich seine Angriffe bald nur noch auf das Bäuchlein. Mitte Juli ging er endlich fort.34
Die Trennung meiner Eltern war blöd gewesen. Nicht nur, weil mir der Vater gefehlt, sondern auch, weil sich mein Elternhaus danach zu einer Bedrohung entwickelt hatte. Allein aus diesem Grund schien, einem Kind Kontakt zu seinem Vater zu ermöglichen, keine Frage. Ich stellte sie mir gar nicht erst! Hätte ich selbst die Trennung nicht als traumatisierend erlebt, wäre ich vielleicht auf die Idee gekommen, einmal darüber nachzudenken, dass nicht jeder Vater zwingend auch gut für ein Kind ist. Nein, von manchen sollte man sich besser fern halten.
Wie selbstverständlich zog ich in seiner Nähe. Da wir ja jetzt voneinander getrennt waren, betrachtete ich es nicht als Fehler. Mister Bumerang würde zwar sicher irgendwann wieder bei mir aufkreuzen, aber für mich waren wir nun ganz offiziell geschiedene Leute. Nach all dem, was passiert war? Ich hatte jetzt nicht mehr bloß für ihn Sorge zu tragen. Da gab es auf einmal noch Jemanden. Ich musste mich schützen! Zunehmend machte ich mir darum Gedanken, erwog, ein Gespräch mit der ortsansässigen Polizei zu führen. Dafür waren die ja schließlich da.
Der Mietvertrag des Osnabrücker Apartments wurde gekündigt. Damit mein Vater die Kaution zurück erhielt, sollte bei der Übergabe alles ordnungsgemäß renoviert sein. Zu diesem Zweck musste ich noch einmal dorthin zurückzukehren. Was für ein Horror! Allein der Geruch auf dem Korridor zwang mich in die Knie. Die Beine versagten mir den Dienst. Die Wände atmeten das dunkle Schwarz des Entsetzens, mit welchem sie in den vergangenen Wochen und Monaten getränkt worden.
Im der Wohnung selbst brachen die Fluten der Panik über mir zusammen. Mein Kopf hämmerte nur noch: Flucht. Flucht. Weg hier, und zwar sofort...! Ich konnte kaum atmen. Dennoch zwang ich mich dazu, zu bleiben, die Arbeit war notwendig. Es war keiner da, der mir noch etwas antun konnte, sprach ich mir selbst beruhigend zu. Weil ich nicht rechtzeitig fertig wurde, war ich dazu gezwungen, dort zu übernachten. Mit meinem inzwischen schon etwas überdimensionierten Bauch legte ich mich auf den Teppich.
An Schlaf war nicht zu denken. Bei einem Sturm kann nur ein stabiles Haus Schutz bieten. Solch einem gefühlten Sturm war ich in dieser Nacht ausgeliefert. Das stabile Haus, welches ich früher einmal gewesen, existierte nicht mehr. Immer wieder sagte ich mir: das, was passiert war, war Vergangenheit. Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Allein die Wände waren stumme Zeugen gewesen des hier stattgefundenen Verbrechens. Der Teppich roch nach der Angst, die ich in ihn hinein geatmet. Das Badezimmer war der schlimmste Ort - was hatte er sich hier, vor den Blicken seiner Angehörigen verborgen, angetan! Er würde zwar, so wie immer, wiederkommen, aber: diese Zukunft gab es nicht mehr.
Ebenso wie diese selbstmörderische Beziehung mit ihm würde es auch die Flucht aus dem Leben zukünftig nicht mehr geben. Selbstmord hätte geheißen, mein Kind im Stich zu lassen. So etwas gab es bei mir nicht. Vielleicht war ich nicht weiter von Bedeutung, das konnte schon sein.35 Aber dieses kleine Wesen in mir war es. Und es hatte zu exisitieren begonnen.
1( dafür, dass es hellichter Tag war, gab es eindeutig zu viele Sterne)
2 (meine intelligenten Geräusche und ich)
3 (als sei ich irgendwie orientierunglos oder so - er hielt mich die ganze Zeit am Oberarm fest)
4 (wo sich auch das Krankenhauscafe befand)
5 (und mein, und wahrscheinlich auch ihr)
6 (vielleicht auf irgendeiner karibischen Insel)
7 (also zu deutsch: dem Haus des Todes)
8 (mit oder ohne Einverständnis der Patienten/ oder der Familie des Patienten)
9 (eine mit einem delikat gemusterten Nachthemd kombinierte Jogginghose)
10 (etwas spät zwar, aber immerhin)
11 (ein Gewalttäter kann nur dann ein Opfer finden, wenn es sein Spiel mitmacht. In dem ich sein Verhalten billigte, wurde auch ich zum Täter)
12 (Magnum, Derringer, Walter, diverse Automatik, diverse Schreckschuss, das Schafschützengewehr sowie ein antiker Vorderlader)
13 (heute weiß ich: Aus dieser Beziehung habe ich sehr viel lernen können. Lernen kann schmerzhaft sein)
14 (weil er ja alles Geld, das mein Vater uns gab, direkt für seine verschissenen Drogen ausgab)
15 (wobei er mich wahlweise auch mit dem nächstbesten spitzen Gegenstand aufzuschlitzen versuchen konnte)
16 (das tat wirklich weh)
17 (komisch, dass mir gerade in solchen Situationen immer danach ist!! Schließlich war das ja alles andere als lustig)
18 (ernsthaft, solche Leute liefen frei herum!)
19 (ich schlug ich ihn jeweils mit einem gut gezielten Faustschlag nieder)
20 (in der Zeit war ich eigentlich immer en Pied - was auch die blutigen Füße erklärte)
21 (der es sich zuvor so sehr gewünscht)
22 (dabei, Halbwahrheiten zu erzählen, kam ich mir wahnsinnig schlau vor)
23 (heute weiß ich, dass es wohl das Leben selbst war, nach dem ich mich sehnte. Ich bin, glaube ich, in relativ kurzer Zeit um Jahre, (eher Jahrzehnte) gealtert. Für mich ist nichts ungewöhnliches mehr an den Geschichten von Leuten, deren Haar über Nacht ergraut... )
24 (er nahm einen großen Teil der Dinger auch, oder sogar vor allem tagsüber und schlief die ganze Zeit)
25 (blöde Frage natürlich tat er das)
26 (vielleicht hat auch das Entsetzen mich gelähmt?)
27 (das wurde vielleicht blau hinterher! Ein Regenbogenspiel in allen Farben, vor allem dunkles Blau und Schwarz-violett, die ganze Fläche zwischen den Beinen)
28 (die zeitlich gar nicht mit seinen Misshandlungen zusammenfielen)
29 (geholfen hat nie einer, auch nicht geklopft, um zu fragen, was los ist. Das Haus war sehr hellhörig, für ein Mehrfamilienhaus. Alle taten kollektiv, als seine sie stocktaub)
30 (er war an die zwei Meter groß und ziemlich muskulös)
31 (He, du hast meine Freundin angegriffen - etc.)
32 (Wiederholungstäter! Von denen bekannt ist, dass sie ihr Verhalten nicht unter Kontrolle haben und immer wieder solche Taten begehen)
33 (ach übrigens: er läuft immernoch frei herum)
34 (im Grunde hatte er nur seine Drogensucht bei mir ausgelebt)
35 (ich schien ja nicht einmal wirklich zu existieren)