Endlich hatte ich einmal passende und richtige Worte gefunden, und dann das. So eine Banause.
Plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, ihn zu erwürgen. Stieß ihn mit dem Ellenbogen. Langsam kam er wieder zu sich.
<< Ey. Idiot. >> begrüßte ich ihn.
<< Was? >> nuschelte er.
<< Weißt du, gerade hatte ich einen Moment lang echt den Wunsch, dich umzubringen. Fällt dir dazu etwas ein? >>
Mir ja schon! Sein Verhalten brachte mich zur Weißglut. Unendlich genervt und wollte ich nur noch eins: dass es aufhörte.
<< Was, umbringen? >>
<< Ach, vergiss es >>
Da fiel er mir wieder ein: der Kram, der immer noch vor Nachbars Fensterbank lag. Den musste ich noch schnell wiederholen. Ich lief ich die Treppe runter. Der sollte erst einmal wieder wach werden, bevor wir uns weiter unterhalten würden. Oder - vielleicht wäre es auch besser, wenn er einfach wieder ginge. Warum hatte ich schon wieder so ein ungutes Gefühl? Die Treppe hochgehend, wurde das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben, immer stärker. Zur Tür reinkommend, wusste ich auf einmal schlagartig, was es zu bedeuten hatte: Er stand auf dem Flur hinter der Kommode mit dem Telefon, die Augen ängstlich auf mich gerichtet. Außerdem theatralisch das musternd, was ich in der Hand hielt.
In meiner kurzen Abwesenheit hatte er seine Freundin angerufen, ihr, so wie sonst auch, irgendwelche Dramen aufgetischt. Sie wiederum beschloss vernünftigerweise, die Polizei einzuschalten, die natürlich auch sofort kam. Was ihr Job war.1 Und schon wieder Comedy: Kaum klingelte es an der Tür (ich öffnete) rannte er wie von Furien gehetzt die Treppe runter und rief:
<< Die will sich umbringen - und mich gleich noch dazu! Das ist eine Schizophrene! Passen Sie auf! >>
Dass es kein Problem gab, sahen auch die lieben Herrn Beamten sofort. Ich wollte die Situation nutzen, um mit den Ordnungshütern mal ein lang ersehntes Gespräch über diesen Herrn zu führen. Also erzählte Ich ihnen nicht, nur, dass mit mir soweit alles in bester Ordnung sei, sondern berichtete nebenbei von den Missetaten des gerade Entfleuchten. Das interessierte die beiden Beamten herzlich wenig. Auch für dessen großes, illegales Waffendepot sowie dessen Drogenkonsum konnte man sich nicht begeistern. Von solchen Lappalien wollten sich den Feierabend vermiesen lassen? Ich nahm das so hin. Das war ich ja von denen eh nicht anders gewohnt.
Jack muss damals sehr enttäuscht darüber gewesen sein, dass ich mich tatsächlich nicht umbringen wollte. NIchts ließ er unversucht, darauf hinzuarbeiten. So aussichtslos, wie er sich meine Zukunft ausmalte und so absolut minderwertig, wie ich in aus der Sicht anderer Menschen war, schien dies ein für ihn logischer Schritt. Warum tat ich bloß so, als sei ich ein normaler Mensch mit normalen Bedürfnissen? Als diejenige, die ich für ihn war, hatte ich solche nicht zu haben. Dazu hatte ich kein Recht. Die Rolle, die sein Drehbuch Drehbuch vorschrieb, war die des psychisch Kranken. Solche hatten gefälligst Selbstmord zu begehen. Wieder tat ich nicht das, was von mir erwartet wurde, sondern das Gegenteil: Ich wehrte mich gegen Misshandlungen, zeigte mich vernünftig, wollte sogar (sterbenslangweilige) ernsthafte Gespräche führen. Das ging ja auch so nicht. Da musste man etwas gegen tun. Die Polizei holen zum Beispiel.
Immer hatte man versucht mir beizubringen, dass Vernunft Gehorsam hieß und Intelligenz nur der Grad der von außen mess,- und sichtbaren Fähigkeit zur Nachahmung. Meine Gesellschaft setzte mich unter Druck, weil ich es nicht richtig auf die Reihe bekam, genau diese Verhaltensweisen auf Kommando vorzuführen. Ohne sie hatte ich eine gesellschaftliche Anerkennung nicht verdient. Auch ihn verlangte es nach genau dieser Art von Bezahlung - in Form von unbedingten, blind- und bedingungslosem Gehorsam. Und auch er war der Ansicht: hinterfragte ich, statt zu tun, was auch immer er von mir verlangte, musste dies bestraft werden. Wäre es denn richtig gewesen, mir einen Strick zu nehmen? Fragte ich mich später. Eine andere als diese, mir auf den Leib geschriebene Rolle ließ er nicht zu. Ich stellte mir vor, was wäre, wenn ich tätsächlich am nächsten Morgen von der Decke baumelte. Dann hätte ich es aus seiner Sicht vermutlich redlich verdient, geliebt zu werden, setzte ich das Szenario fiktiv fort.
Da hatte er die Rechnung aber ohne mich gemacht, dachte ich, leise grinsend. Ich war ein Vollzeitversager, ein Nichtsnutz, der nichts auf die Reihe bekam. Mein Leben war eine Aneinanderreihung von Fehltritten. Nicht einmal einen vernünftigen Selbstmord bekam ich hin! Ich zuckte die Schultern. Damit konnte ich leben.
1 (das können die nämlich auch!)