XXII.

Entsprechend meinem diesbezüglich geäußerten Wunsch wurde ich in die Klinik verbracht, welche ich zuvor bereits von innen betrachten dürfen. Immerhin waren mir die Abläufe, Räumlichkeiten und das Personal vertraut. Im neunten Monat Schwanger in die forensische Abteilung.

 

So wütend, wie ich war, wäre ich normalerweise komplett ausgerastet. In solchen Momenten schalte ich um auf Autopilot, trete innerlich abseits, schalte mich quasi ab. Was dann meinen Körper und mein Verhalten steuert, hat etwas von einem Roboter. Ich würde fast sagen, es ist eine Fehlfunktion - weil in manchen Fällen eine Gegenwehr durchaus ratsam und angebracht sein kann und eine Umschalten auf Roboter-artigen Gehorsam nicht immer so ganz das Richtige ist. In diesem Fall ging es mir genauso: Ich sprach nicht mehr, folgte nur noch mechanisch den Aufforderungen, ohne am Geschehen teilzunehmen. Tritt der Autopilot in Funktion, bezahle ich dafür hinterher mit wochenlang anhaltenden Migräne Attacken.

 

Die Station war im selben Gebäude wie die normale Geschlossene. Hier schien es nur noch ein bisschen heftiger zuzugehen: Es gab einen Kinderschänder, der sich von dem stationseigenen Münztelefon aus bereits den nächsten Thailand Urlaub buchte, um danach so laut zu onanieren, dass die ganze Station wackelte. Einer der Patienten stand morgens mit einem Messer bewaffnet mit dem Spruch:

<< Komm, lass uns dem ein Ende machen... >> auf den Lippen vor mir. Ein anderer wiederum erzählte mir von seinen Gewalttaten, seiner Waffensammlung. Ein Ex-Herion-Abhängiger ernannte sich zu meinem Beschützer. Ich traute dem Braten nicht. Wenn es hier tatsächlich zu einer Gefahrensituation käme, brauchte es mehr als diesen Hänfling,1 um heile wieder heraus zu kommen. Am besten sollte ich mich ausschließlich in der Nähe des Pflegepersonals aufhalten.

 

Erneut dort, wo ich auf keinen Fall jemals wieder hin gewollt. Das konnte, nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Wie konnte jemand davon ausgehen, dass ich hier her gehörte? Ich weigerte mich, das einzusehen. Völlig egal, was - alles würde ich tun: meine Fehler einsehen, inklusive der erfundenen, Freundschaft mit Kackbratze schließen, meinetwegen! Scheissegal! Ich rief meine neue Freundin an. Mal sehen, ob diese sich wirklich als eine solche erwies. Unter anderen Umständen wäre sie wahrscheinlich die absolut Allerletzte gewesen, mit der ich etwas zu tun hätte haben wollen. Aus logischer Sicht schien mir dieser Schritt aber der sinnvollste. Sie nahm den Hörer ab. Ich ließ mir keine Zeit für eine Begrüßung:

<< Los! Hol mich hier raus >>

<< Haha! Tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit für dich. >>

<< Allerhöchstens morgen früh. >>

Das wäre dann schon einen Tag zu viel.

<< Nee. Ich kann erst in zwei Tagen, und dann auch nur für ne Stunde. >>

Sie meinte wohl, sie müsste nur Zeit zum vollzulabern mitbringen. Hatte mein ernsthaftes Ansinnen, mich hier rauszuholen zu müssen, und zwar SOFORT, nicht begriffen.

Ich schüttelte den Kopf. Das war keine Option. Von dieser Seite war keine Unterstützung zu erwarten. Ich legte auf.

Der nächste logische Schritt: Jack. Ich wählte. Er ging ran.

<< Hol mich hier raus. DU hast mich hier reingebracht, DU wirst mich jetzt hier wieder rausholen! >>

Ich hörte ihn fast durch den Telefonhörer grinsen:

<< Nein. Duu bleibst da d r i n n n !! >>

Bei der Äußerung schien ihm voll einer abzugehen.

<< Das habe ich nicht vor. >>

Er lachte.

 

Bar jeder Vernunft hatte man mich eingesperrt. Aus diesem Grund nahm ich mir das Recht heraus, ebenso fern ab ebensolcher selbst zu entscheiden, ob ich zu bleiben gedachte oder auch nicht. Nach einer in Angst und Verstörung verbrachten durchzechten Nacht, die ich auf dem Sofa vor dem Schwesternzimmer verbracht hatte,2 stahl ich mich während eines bewachten Spaziergangs davon. Meinen ursprünglichen Plan, mich in einer Mülltonne zu verstecken, brauchte ich gar nicht in die Tat umzusetzen. Die fortgeschrittene Schwangerschaft half mir, ein paar hilfsbereite Mitbürger zu finden mit deren Unterstützung es mir gelang, mich aus der Gefahrenzone heraus zu bewegen. Damit man mich nicht mehr erkannte. schminkte ich mich, schnitt und färbte mir die Haare, wechselte meine Kleidung, ließ ungemütlich viel Schmuck an meinen Körper.

 

Um herauszufinden, wie man inzwischen so auf meine Abwesenheit regierte, rief ich von einem Münzapparat in Osnabrück aus Jack an. Erst fing er an dramatisch zu heulen. Das Verhalten wurde damit fortgeführt, erst mich und im Anschluss daran sich selbst zu bemitleiden.

<< Komm zurück! Bitte. BITTE! >>

Der konnte mich mal kreuzweise. Nein, nicht nur er, ALLE konnten sie mich.

<< Nein. >>

<< Ich tue alles. Alles, wenn du nur zu mir zurückkommst! >>

Dieses Geschwätz wollte ich mir nicht noch länger anhören. Unterbrach die Verbindung. Gleichzeitig spürte ich, wie ich permanent die Umgebung scannte, sie nach potentiellen Gefahren absuchte, welche beispielsweise in Form eines Polizeiautos um die Ecke zu biegen vermochten. Benahm ich mich aufgrund meiner Panik nicht vielleicht schon zu auffällig? Um unsichtbar zu werden, musste ich gelassen sein. Gute Laune und Unbeschwertheit waren bessere Begleiter als Angst oder Wut. Erst einmal musste ich irgendwo unterzukommen versuchten. Nach Hause ging ja nicht mehr.

 

Mit Hilfe der Mitfahrzentrale buchte ich eine Fahrt in meine Heimatstadt, Köln. Dort kannte ich die meisten örtlichen Gegebenheiten und genügend Leute, die keine Fragen stellen würden. Der Fahrer und ich gabenn uns die Hand. Ich war die einzige Mitfahrerin. Als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm, fing er sehr schnell an zu sprechen. Anscheinend gab es etwas, dass er sich von der Seele reden musste. Es ging um seine gerade abrupt beendete berufliche Tätigkeit. Ein ehemaliger Krankenpfleger! Aus einer Irrenanstalt! Unter den Auswirkungen eines Schocks stehend, erzählte er mir, wie an seinem Arbeitsplatz mit den Menschen umgegangen wurde, die das Pech hatten, dort einzusitzen. Was für ein merkwürdiger Zufall, dachte ich misstrauisch. Ganz erstarrt schwieg ich, hörte mir das alles nur an, ohne von meiner Situation etwas zu verraten.

 

Er redete und redete. Die Zustände, welche er live hatte miterleben müssen, schienen ihn sehr zu beschäftigen. Scheinbar brauchte er einfach nur jemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Überflüssigerweise gab er mir auch noch den Ratschlag, mich mit solchen Leuten auf gar keinen Fall !!! Niemals !!! einzulassen:

<< Die sind knallhart, pass blos auf! >> sagte er voller Angst.

<< Ich hab da mal eine Frage >> fing ich vorsichtig an, mich an dem Gespräch zu beteiligen.

<< Ja? >> Er sah zu mir rüber.

<< Würden Sie das Ganze denn auch öffentlich aussagen? >>

<< NEIN!!! >> Er schrie fast.

<< Aber... Warum denn nicht? Man muss doch etwas dagegen tun? >>

<< Nein. Neinneinneinnein. Die willst du nicht zum Feind haben. Das ist eine feste Struktur, eine Art Mafia, weißt du? Mit denen legt man sich nicht an. Ich hatte einen Freund, einen Kollegen, der hat das getan,... beziehungsweise versucht. >>

Er erschauderte.

<< Ich mag gar nicht daran denken! >>

Ihm kamen fast die Tränen.

<< Ok... >> sagte ich

<< Schade. >>

<< Nein. Ich habe genug gesehen. Mehr als genug. Das reicht. >>

 

Was für ein seltsamer Zufall uns gerade jetzt zusammen geführt hatte. Ich wunderte mich,... das, was ich erlebte ... war alles so - wie, als sei ich in einem Film? Passierte denn so etwas nicht immer nur anderen? Und im Krimi? Auf irgendeiner Leinwand??? Ganz weit entfernt? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Ich wollte es nicht begreifen. So etwas, hier, in meiner Heimat! Einige der Beteiligten waren sogar mir bekannte Menschen! Dass das so passieren konnte? Und doch geschah es. Das war die Realität. Kopfschüttelnd betrat ich das mir unbekannte Terrain dieser anormalen Reise.

 

Was sollte ich denn tun? Mein Kind kurz vor der Niederkunft ... Ich, zur Fahndung ausgeschrieben... Mein letztes Geld hatte mir eine räuberische Mitpatientin entwendet, als ich vor Erschöpfung über Nacht kurz auf dem Sofa im Eingangsbereich eingenickt war. Also war ich obendrein auch noch pleite, was die Sache nicht unbedingt besser machte. In meiner Heimatstadt angekommen, ging die Paranoia bei mir erst richtig los. Gab es hier nicht überall Kameras? Schließlich war eine Fahndung draußen. Saß ich bereits in der Falle? Oh-ouh... Und: War die Bahnhofpolizei wirklich so gewalttätig, wie man mir schon des Öfteren berichtet hatte? Würde ich die "Treppe herunter gefallen" werden, so wie meine Freunde, die aufgrund ihres ungewöhnlichen Äußeren eigens dafür, diesem Hobby nachkommen zu können, von den Beamten mit aufs Revier genommen wurden?3 Das wahrscheinlich eher nicht, mein Kugelbauch war unübersehbar. Also, ganz ruhig. Erst einmal weg von den Kameras. Wo genau wollte ich eigentlich jetzt hin? Die erste Nacht fiel recht ungemütlich aus. Siffi war nicht zu Hause, der Hausflur vor ihrer Wohnung herbstlich kalt. Ich wartete, fror, setzte mich mit dem Rücken an eine Heizung gelehnt, ertrug die Schmerzen.

 

Am liebsten wäre es mir gewesen, das alles sei nicht geschehen. Ich brauchte schließlich Hilfe von Ärzten und Hebammen. Mein erstes Kind! Wie lief so eine Geburt ab? Eigentlich sollte das je nicht so schwer sein. Ein bisschen Blut und Wasser schwitzen, Rabäh, und gut. Aber was, wenn es etwas schief laufen würde und ich niemanden zu Hilfe rufen konnte? Das ging nicht. Zu gefährlich. Ich konnte jetzt nicht einfach weglaufen. Was würde aus meinem gemütlichen zu Hause werden? Was aus meinem Baby, wenn ich ständig nur auf der Flucht sein würde?

 

Nun erfasste mich eine Wut - auf die Schuldigen. An erster Stelle stand der Jammerkopp. Jack. Er hatte es alles durcheinander gebracht, er musste es auch wieder gerade biegen. Hatte er mir am Telefon nicht zugesagt, dass er alles tun würde, wenn ich nur wieder zurück käme? War das kein Hoffnungsschimmer? Konnte er nicht ein einziges Mal in seinem Leben einfach die Wahrheit sagen, um damit alles wieder ins Lot zu bringen? Eigentlich musste er bloß diese Kackbratzen-Hackfresse4 kontaktieren und ihr reinen Wein einschenken. Dann würden die endlich begreifen, dass ich die Wahrheit gesagt hatte und kein Grund dafür bestand, mich und das Kind gegen unseren Willen irgendwo festzuhalten. Also rief ich ihn an. Er sollte mir es versprechen: Er musste KB anrufen, um ihr gegenüber deutlich zu machen, dass er mich verleumdet hatte, zugeben, für alles verantwortlich zu sein. Damit die wiederum dafür sorgte, dass man den so voreilig erlassenen Beschluss dieser schwachmatischen Ärztin wieder aufhob. Ich wollte nach Hause. Mich ausruhen.

 

Wie zu erwarten versprach er mir alles. Laut Plan würden er abends am Bahnsteig auf mich warten. Dann in meine Wohnung. Am nächsten Tag solle KB konsultiert, zu einem Gespräch mit Jack geladen werden, während er meinem Aufenthaltsort (noch) nicht preis gäbe. Das Nötigste mit ihr besprochen, müsste sie die Ärzte kontaktieren und aufklären. War alle Gefahr gebannt, hatten sich sämtliche Fehlinformationen, die über mich im Umlauf waren, in Luft aufgelöst, würde ich wieder auf der Bildfläche erscheinen. Meine spinnerten Ideen: ein Lichtblick in der Dunkelheit. An diesem letzten Funken Hoffnung klammerte ich mich fest.

 

Damit sich niemand Sorgen um mich zu machen verpflichtet fühlte, rief ich von einem Münztelefon im Bahnhof aus den Bratzenzirkus an.

<< Hallo, ich bins. >>

<< Wo bist du? >>

<<In Sicherheit. >>

<< Wo? >>

<< Das werde ich nicht sagen. Ich rufe nur an, um Bescheid zu geben, dass es mir gut geht und keiner sich irgendwelche Sorgen zu machen braucht, ok? >>

<< Sag mir, wo du bist. >>

<< Nein. Das tu ich ganz bestimmt nicht. >>

<< Ach, komm schon. Lass doch diese Spielchen. >>

Wovon redete sie? Spielchen? Mich panisch nach Überwachungskameras umsehend legte ich auf.

 

Alles war gut. In ein - zwei Tagen hätte sich die Situation aufgeklärt. Im Zug stellte ich mir vor, die Sonne schiene, Blätter rauschten im Wind. Ich schlief ein. Die Sonne schien aus den zahlreichen Einschusslöchern in meinem Arsch. Ich wachte davon auf, dass meine Intuition mir dringlichst riet, eine Station vor dem Ziel auszusteigen, aber ich war so müde.... Viel zu müde... Und schon fuhr der Zug auch schon wieder weiter. Notbremse? Bloß nicht. Hauptbahnhof Osnabrück, schalte es kurze Zeit später aus dem Lautsprechern. Sollte ich vielleicht auf der anderen Seite vom Zug aussteigen, überlegte ich. Mit Kackbratze als ihrer Anführerin lauerten mir ein paar diensteifrige Beamte am Bahnsteig auf. Wollte mich wieder einkassieren. Ich hatte es doch geahnt! Verdammt. In Panik drehte ich mich herum und lief weg, sprang über die Gleise5 wie eine Gemse, um auf die gegenüberliegende Straße zu gelangen.6

 

Meine Verfolger waren zu zweit und mindestens ebenso sportlich wie ich. Ich zog das CS Gas aus meiner Tasche und sprühte damit auf die Person ein, die mich als erste eingeholte. Sie ging zu Boden. Die Flasche war leer. Die andere Person, ein kräftig gebauter Polizist, nahm mich gefangen, hielt mich fest im Polizeigriff. Er sprach in sein Walki Talki, forderte Verstärkung an. Ziehende Wellen liefen durch meinen Körper. Ich bekam Wehen, versuchte, mich wieder zu beruhigen.

<< Bitte, nicht so fest. >>

Gnadenlos zog er an meinem Arm, den er Schraubstock-artig festhielt.

<< Bitte >> keuchte ich herum,

<< lassen Sie mich los. >>

Er merkte es.

<< Aber wenn ich Sie loslasse, laufen Sie weg! >> startete er verzweifelt eine Diskussion.

<< Nein. Ich versprechs. Ich laufe nicht weg. >>

<< Das kann jeder behaupten. >>

<< Sie müssen mich ja gar nicht loslassen. Sie können mich ruhig festhalten. Aber anders. >>

<< Wie denn? >> fragte er misstrauisch.

<< Na, an der Hand nehmen. Wissen sie, so wie zwei Verliebte. >>

Damit war er einverstanden. Es hat bestimmt ziemlich lächerlich ausgesehen, wie wir Händchen haltend zu seinen Kollegen gingen, aber immerhin ließ der Druck etwas nach. Sonst wäre das Kind gekommen. Das hätte vielleicht eine Aufregung gegeben.

 

Das Reizgas hatte der Beamtin übel zugesetzt. Wie ich später erfuhr, war sie im Krankenhaus. Das tat mir sehr Leid. Sie ging nur ihrer Arbeit nach und hatte mir nichts Böses gewollt. Sehr viel später habe ich mich aus diesem Grund noch einmal bei der Polizeiwache gemeldet, darum bittend, ihr meine Entschuldigung auszurichten. Nur damit mir (vor allem: meinem Kind) nichts passierte, nahm ich mittlerweile sogar in Kauf, jemanden tätlich anzugreifen, zu verletzen! Die Anzeige wegen Körperverletzung wurde zurück gezogen.

 

ZUrück auf die Geschlossene. Diesmal sogar in Handschellen. Kackpflaume saß neben mir. Diesmal laberte sie keine Scheiße, sondern schwieg. Erneut versuchte ich es.

<< Hören Sie. Ich MUSS endlich mit jemanden über diese Sache reden. >>

<< Du. Dafür bin ich viel zu müde. Das kann warten. >>

Nun verantwortete sie ihrerseits, mir ihre Hand vertraulich auf´s Knie zu legen. Pow. Negativ Jackpott.

 

Klar. Ich konnte wieder weglaufen. Ich war ein Survival Experte. Wenn ich das wollte: keiner würde mich daran hindern können. Meine Rechnung wies allerdings eine fehlerhafte Komponente auf: Ich war nicht mehr allein. Auch, wenn der kleine Mensch in mir noch gar nicht zu sehen war, existierte er schon. Lange dachte ich darüber nach, was ich tun sollte. Wenn ich noch einmal weg liefe, würde ich keine andere Wahl haben, als ins Ausland zu gehen. Das war möglich. Aber was dann? Würde ich das Glück haben, Menschen zu finden, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen? Hatte ich nichts zu Essen oder fand eine Nacht lang keinen trockenen Platz zu schlafen, war das allein meine Angelegenheit gewesen. Was, wenn nicht? Dann hätte auch mein Kind darunter zu leiden. Mich darauf verlassen zu müssen, dass mir jemand half, reichte nicht. Ich brauchte Sicherheit. Nicht für mich, aber für mein Kind. Das war eine wichtige, eine richtige, gute Entscheidung, auch wenn ich zunächst nicht wusste, wohin sie mich führen sollte. Aber es immer noch galt mein Gesetz: wo ein Wille ist, ist ein Weg.

 

Zunächst musste ich die Situation analysieren: War Angst in diesem Augenblick der ideale Berater? Durfte ich dem Fluchtreflex, den ich logischerweise empfand, nachgeben? Wenn ich mich verhielt wie der Schwerverbrecher, zu dem man mich gemacht hatte, würde ich ihnen damit weiterhin in die Hände spielen. Ich war nicht krank, nicht unkontrolliert und auch nicht hemmungslos, nicht gefährlich und aggressiv. Was, wenn es keine Möglichkeit gab, einen aufklärenden Dialog zustande zu bekommen? Weder mit den Ärzten noch mit meiner *ZENSIERT* Freundin konnte ich mehr rechnen. Nicht einmal mit meiner Familie. Wie sollte ich aus eigenem Antrieb da raus kommen? Außer mir selbst schien sich keiner wirklich für mich zu interessieren. Ich musste etwas unternehmen. Abwechslungshalber vielleicht mal etwas Vernünftiges?

 

Wiederholt war mir ein Unrecht angetan worden. Deshalb sollte ich mich und mein Kind ein Leben lang verstecken müssen? Eine so ungewisse Zukunft für mein Kind empfand war für mich inakzeptabel. Ich überlegte und überlegte und überlegte. Ein harter, erbitterter Kampf mit mir selbst. Auch wenn ich kein Wort sprach: die Krankenschwestern sahen es mir an. Da ich mal vor Zorn zitterte und mir in anderen Momenten unbemerkt Tränen vom Gesicht tropften, schwankten sie zwischen Angst und Mitgefühl.

 

Mich selbst auf der Seite des Bösen wahrzunehmen, fiel mir unheimlich schwer. So weit konnte man einen derartig friedliebenden Menschen wie mich also bringen, wenn man ihn in eine Notlage brachte, die zu Verzweiflungstaten führte. Auch jetzt war ich bereit, mich im Zweifelsfall zu verteidigen, anzugreifen, um mich selbst zu schützen. Im Notfall auch, sogar einem anderem Menschen dadurch Schaden zuzufügen. Wie weit würde ich gehen? Es musste einen anderen Weg geben. Es musste einfach. Mit einem zitternden Seufzer entschied ich, es zu versuchen.

 

Als meine Überlegungen nach ein paar Tagen endlich abgeschlossen waren, ging ich zielstrebig zum Schwesternzimmer. Dort bat ich eine Schreibmaschine zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ich wollte ein Schreiben ans Gericht aufsetzen, welches in gedruckter Form einen viel offizielleren Charakter aufweisen würde. Man besprach sich kurz. Ohne groß darum herum zu reden führte eine liebe Schwester mich in einem Raum, in dessen Mitte auf einem Tisch eine Schreibmaschine stand, lies mich mit ihr allein. Ich setzte einen förmlichen Brief an das hiesige Amtsgericht auf: Zu Unrecht eingesperrt würde ich gern von meinem Recht Gebrauch machen, dagegen Widerspruch einzulegen, bat um eine richterliche Anhörung. Darum, dass mir endlich einmal jemand zuhörte. Zu meinem Glück bewahrte meine fortgeschrittene Schwangerschaft mich dieses Mal davor, dass man mich mit K.O. Tropfen zu Tode spritzte, so dass ich ich im Gegensatz zu meinem letzten Aufenthalt an diesem Ort Herr meiner Sinne war. Im Gegensatz zu meiner letzten Zwangseinweisung war ich nun in der Lage, mich zu artikulieren.

 

Bis überhaupt eine Reaktion kam, dauerte es eine halbe Ewigkeit.7 Der Anhörungstermin war die darauf folgende Woche terminiert worden. Käme ich dann frei, hätte ich mich für insgesamt drei Wochen in der geschlossenen Abteilung aufgehalten.

 

Bald war ich unter den Angestellten (Pflegepersonal) recht beliebt, saß meistens wie ein Maskottchen mit im Schwesternzimmer. Manchmal ließ man mich dort sogar kurzzeitig allein. Einmal hatte ich bei einer solchen Gelegenheit sehnsüchtig aus dem Fenster gesehen, vor welchem eine große Arbeitsplatte montiert war. Irgendwann wanderte mein Blick nach unten auf die dort verstreuten Unterlagen, zunächst aber gar nicht wahrnehmend, was dort geschrieben stand. Mein Blick fand seinen Weg erneut dorthin. War das nicht mein Name? Neugierig betrachtete ich das Gekrakel: Daneben war ein Pfeil, der wiederum auf ein Datum wies. Dahinter folgte eine Ortsangabe: Quakenbrück. Haeh? Aha? Komisch.

Die Schwester kam zurück.

<< Hallo? Ich hätte da mal eine Frage >> leitete ich das Gespräch ein.

<< Du kannst mich alles fragen. Wir sind hier eine große Familie, nicht wahr? >> kam es überraschend freundlich zurück.

<< Ja, schön! Wenn das mal alle so sehen würden! >> reagierte ich auf so viel auf einen Klumpen zusammen geballte Sympathie, wie sie sie mir hier demonstrativ entgegeschleuderte.

<< Aber das sehen doch hier alle so! >> ereiferte sie sich, als sei es vollständig indiskutabel, dass jemand das anders sehen könne.

<< Na, wollen Sie das Prof. Dr. Glitzer erzählen? Oder soll ich ihn fragen? Ich glaube ich kenne schon seine Antwort. Aber Sie können es ja gern auch selbst einmal versuchen. >>

Bam. Der hatte gesessen. Sie verzog das Gesicht: Ich hatte Recht.

<< Na der zählt doch nicht. >> sagte sie.

Damit hatte sie Recht.

<< Aus meiner Sicht aber schon, irgendwie... finde ich. >> formulierte ich vorsichtig.

<< Jaaa, >> erwiderte sie gedehnt,

<< aber irgendwie auch nicht. >>

Sie lächelte gekonnt und überzeugend. Meine Traurigkeit konnte sie damit aber nicht vom Tisch wischen. Am liebsten wäre ich schon wieder aus der Haut gefahren. Aber sie konnte nichts dafür. Es war so ungerecht! Warum sollten bloß die ein Recht haben, uns Patienten zu beurteilen, die uns hier am wenigsten zu Gesicht bekamen? Einen gar nicht kannten?

<< Hören Sie. >> sagte ich ernst.

<< Gewiss, gewiss, ich bin nicht der Arzt, aber ich kann Ihnen mein Wort geben: Ich spreche hier für alle Kollegen. Wir mögen Sie. Da gibt es nichts dran zu rütteln. >>

Ja, Mann. Halt doch mal die Schnauze, das will doch keiner wissen. Uups. Wo hatte ich denn meine Liebenswürdigkeit hin verpackt und statt dessen die Kratzbürste wiedergefunden? Das war der Situation jetzt nicht gerade angemessen. Verwirrt verspürte ich das Bedürfnis, auf mein Zimmer zu gehen, um meine Gedanken zu ordnen.

<< Stop! >>

Abwehrend hob sie die Hand.

<< Wo drückt denn der Schuh? >>

<< Ich hab da einen Zettel gesehen. >>

<< Wo. Was? Zettel? >>

<< Na da, auf der Arbeitsplatte. Ist vielleicht nicht so wichtig und hat gar nichts zu bedeuten, aber: da stand mein Name drauf, zusammen mit einem Pfeil, der auf ein Datum in naher Zukunft weist, und "Quakenbrück". Was genau hat das zu bedeuten? >>

<< Gar nichts. Das hat rein gar nichts zu bedeuten. >> antwortete sie einen Tick zu fröhlich und zu schnell.

<< Sind sie sicher? >>

<< Jaa. Ganz bestimmt haben sie sich verlesen. Da stand gar nicht ihr Name. >> sagte sie.

<< Na, doch. Es war eindeutig mein Name. >>

<< Nein, war es nicht. >> sagte sie und schob mich aus dem Schwesternzimmer. Ende des Nesthäkchen Status. Ab sofort hatte ich in meinem Zimmer zu verbleiben, welches, meinem Zustand sei Dank, in ein Einzelzimmer verwandelt worden war.

 

Hätte man zuvor alles ganz normal mit mir besprochen, wäre die Situation für mich nicht ganz so beängstigend gewesen. Dann hätte außerdem auch die Möglichkeit gehabt, vorausschauend zu planen. Zum Beispiel zum einen den gerichtlichen Anhörungstermin vor Ort wieder abzusagen und zum anderen, bei dem am Zielort zuständigen Amtsgericht einen neuen Termin anzufordern. Zumal das Zustandekommen eines solchen ja augenscheinlich ganz schön lange zu dauern schien. Aber es wurde wieder alles im Geheimen ausbaldowert, so, als wäre es ein Problem, mit mir da einfach offen, ehrlich und vernünftig drüber zu sprechen.

 

Der Grund für die Verlegung, so habe ich später herausgefunden, war meine fortschreitende Schwangerschaft. Man versprach sich davon, dass ich das Kind in der Psychiatrie würde gebären können. Die Klinik, in die ich verlegt werden sollte, verfügte über eine ganz Entbindungsstation, welche sich mit der Bescheuertenabteilung im selben Gebäude befand. Warum auch immer man mir unbedingt die Information vorenthalten wollte, dass ich dorthin verlegt werden sollte...

 

Bald sollte ich es herausfinden.Meine Psychiatrie-erfahrenen Mitpatienten wussten über Quakenbrück nur zu genau Bescheid. Über die Erfahrungen, die man in den verschiedenen Kliniken gesammelt hatte, wurde sich ausgetauscht. Bonn, war eine von den ganz harten, über die übelste Geschichten erzählt wurden. Die Gewalt, der inflationäre Einsatz von hochdosierten Medikamenten ohne Rücksicht auf Verluste, Freiheitsberaubung, Hellsicht-Gutachten8 u.ä. Dafür war diese Klinik mehr als nur bekannt. Als ich den Namen nannte, den ich auf dem Zettel gelesen hatte, verstummten plötzlich alle Gespräche im Raum, man sog erschrocken die Luft ein, hielt sich die Hand vor den Hund und riss die Augen weit auf, um dann schnell den entsetzten Blick abzuwenden. Während man der Folterkammer in Bonn noch mit Selbstbewusstsein zu begegnen vermochte:

<< Jou die sind für ihre Härte bekannt. Da haste was mitgemacht ne?? >> Schulterklopfen, Kopfnickenschien der Name Quakenbrück, kaum dass ich ihn genannt, für Angst und Schrecken zu sorgen. Auf einmal wagte keiner mehr mit mir zu sprechen, einige verließen den Raum. Ich hörte Getuschel, welches verstummte, als ich ich zu verstehen versuchte, worüber gesprochen wurde. Der Versuch meiner Mitstreiter, ihre Angst zu verbergen, wirkte nicht gerade beruhigend.

<< Ey! Was ist los? Was habt ihr denn auf einmal? >> fragte ich.

Alles schwieg. Meinem Blick ausweichend, verließen weitere Personen den Raum.

<< Seid ihr doof oder was? Halloo...! >>

Einer von meinen Mitpatienten sah mich eindringlich an, überlegte. Dann zog er mich auf die Seite.

<< Was ist denn auf einmal los mit Euch? >> fragte ich.

<< Du, vergiss die anderen. Die haben nur Schiss. >>

<< Aber warum denn? >>

<< Na, dieser Ort, den du genannt hast. >>

<< Ja? Was ist damit? >>

<< Sagen wir mal so: das ist kein gutes Omen. >>

<< Aha. >>

Na super. Sollte ich jetzt die Omen zu deuten anfangen oder was? Konnte der nicht einfach deutsch mit mir sprechen?

 

Ich versuchte, dagegen auf zu begehren.

<< Warum soll ich verlegt werden? >>

<< Na, weil das sicherer ist. >>

Sicherer? Warum.

<< Sicherer? Warum? >>

<< Wir haben hier keine Entbindungsstation. Das wissen Sie doch. >>

Ja, das wusste ich. Ich ging beinahe täglich mit einer Schwester in Begleitung zu dem einen Kilometer weiter gelegenen Krankenhaus, welches über eine Entbindungsstation verfügte.

<< Ja, und? Das war doch bislang auch kein Problem. >>

<< Wir sind dafür nicht eingerichtet. Das müssen Sie einsehen. >>

Was sollte ich einsehen. Dass man über mich, statt mit mir Entscheidungen traf. Das war, was ich einzusehen hatte.

<< Wieso haben Sie eigentlich nicht ein einziges Mal die Idee gehabt, das mit mir zu besprechen, bevor diese Entscheidung getroffen wurde? Wissen Sie, mit mir kann man über alles reden. Ich bin großartig im Zusammenarbeiten, wenn man mir Dinge verständlich macht, alles erklärt, mich miteinbezieht. Hingegen macht mir alles, was nicht offen diskutiert wird und hinter meinem Rücken stattfindet, über meinen Kopf hinweg entschieden wird, sehr viel Angst. Damit komme ich überhaupt nicht zurecht. Wenn Sie wollen, dass ich mich normal benehme, dann sollten Sie auch mal damit anfangen, mich wie einen normalen Menschen zu behandeln! >>

Das war die längste zusammenhängende Äußerung, die ich Ärztin gegenüber je gemacht habe, stellte ich verwundert fest. Normalerweise saß ich nur verstockt da und sagte kein Wort.

 

Ich erinnere mich noch gut an ihr steinernes Lächeln. Wenn etwas in dieser Abteilung der Psychiatrie echt gruselig gewesen war, dann diese Ärztin. Nicht der permanent laut onanierende Kinderficker-Opa, nicht der arme Kerl, der mich mit einem Messer bedroht hatte. Gegen Frau Dr. Killerpilz kamen mir selbst diese Kandidaten wie Waisenknaben vor. Sie gehörte zu den Vertretern, bei denen es mir weh tat, wenn ich in die Augen zu sehen versuchte. Weil die Angst mich zu sehr lähmte, kam mir in ihrer Anwesenheit die Fähigkeit zur Artikulation abhanden. Ich wusste nie, ob ich die "Untersuchung", die stattfand, überhaupt überleben würde.

Sie lächelte permanent.9 Wenn sich jemand besonders krankhaft verhielt, zeigte sie eine emotionale Reaktion: dann fing sie an zu grinsen, wobei ihre Augen vor Erregung unnatürlich hervorquollen.

Dabei, das mitansehen zu müssen, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

1 (der wahrscheinlich nur eines wirklich gut konnte: die Beine in die Hand und Reißaus nehmen)

2 (in welcher noch mir mein Portmonee gestohlen wurde)

3 (dann hieß es immer Widerstand gegen die Staatsgewalt)

4 (und diese wiederum die Ärzte)

5 (es kam gerade kein Zug)

6 (In die unterirdischen Katakomben des verlassenen Klöckner Geländes würde mir kaum einer zu folgen wagen)

7 (eigentlich legte das Gericht eine Rekordzeit von nur einer Woche hin...)

8 (Gutachten von Ärzten, die den zu begutachtenden Patienten nie im Leben zu Gesicht bekommen haben)

9 (ein wenig wie Joker aus Batman, nur noch viel gruseliger)



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