Alles würde gut werden.
Selbst der Umstand, dass jeden Tag anstatt der jungen und dynamischen Person meiner eigenen Wahl eine achzigjährige, verschrumpelte und buckelige alte Gewitterhexe von Hebamme zu mir nach Hause geschickt wurde .. war nicht wirklich ein Problem. Wenn es denn sein musste? Und unter gegebenen Voraussetzungen erschien es mir das Sinnvollste, Kompromisse einzugehen.
Das war auch so ne Nummer!
Ich sollte die Kleine wärmer1 einpacken, die unter ihrer dicken Daunen - Plüschdecke, auf dem Lammsfell... dabei noch unbedingt Schuhe zu tragen hatte und über ihrer Windel, "ganz wichtig" auch noch eine wollene Unterhose...und dabei musste natürlich außerdem noch die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht werden. Innerhalb der Zehn Minuten, in denen die Hebamme vor Ort war, wurde es knallheiss in dem Raum, so dass man es sogar ohne eine über einem drüber liegende Daunendecke nicht mehr darin aushielt. Der Wurzelzwerg bekam durch die Hitze bald ein glühend hochrotes Gesichtchen, womit sie dann aussah wie eine Tomate.
Was war denn mit der alten Dame los? War ihr Bewusstsein vielleicht vor hundert Jahren in einer Entwicklungphase stehen geblieben, in der es im Winter noch keine wohltemperierten Zimmer gegeben hatte? Die Heizung auf mittlere Stufe zu stellen reichte doch vollkommen aus! Klar musste man sich, wenn es draußen kalt war, mit warmer Kleidung schützen. In der Wohnung bei zwanzig Grad Zimmertemperatur im Eskimo Style angezogen unter dicken Decken liegen zu müssen, war übertrieben.
Aber sie war schon so verschrumpelt, dass ich mich nicht dazu äußerste. Das wäre vergebliche Liebesmühe gewesen. Sie hörte schlecht und war außerdem sehr dominant, so dass ich einfach tat, was sie sagte und dann froh war, wenn sie wieder ging. Solange sie im Haus war, hielt ich mich tapfer an ihre Anweisungen und befolgte sie. Das Zwergilein schwitzte dann natürlich wie ein Schwein, schließlich war das, was man ihr da antat ein waschechter Saunagang... Um ihr Wohl bangend betete ich dann nur darum, dass diese etwas übereifrige, alte Frau mit ihren unnützen Ratschlägen bald wieder ging, um mein Kindlein schnell aus ihrem Martyrium befreien zu können. Später erfuhr ich, das durch solch übereifrige Personen häufig ein plötzlicher Kindstod eintreten kann. Gut, dass ich mir eine eigene Meinung angewöhnt hatte! Aber das nur am Rande, ist ja nix passiert. Alles gut.
Da ich mich jedoch vor der alten Frau und ihren Ratschlägen fürchtete, musste ich mich alleine darum kümmern, das Stillproblem in den Griff zu bekommen. Das wiederum gelang ohne den Stress, den ich Krankenhaus gehabt hatte, ziemlich gut. Zusätzlich bekam Mia auch noch das Fläschchen, so dass sie schnell an Gewicht zulegte und ordentlich wuchs. Sie wollte so schnell wie möglich so groß wie möglich werden und entpuppte sich als ein regelrechter Fressack! Mit ihren 58 cm und 4 Kilogramm Geburtsgewicht war sie auch schon nicht gerade klein auf die Welt gekommen.
Der jungen und dynamischen Hebamme vor Ort, die ich im Vorfeld für die Nachsorge rekrutiert hatte, musste ich wehmütig eine Absage erteilen, da man mich ja verpflichtet hatte, mit der als Kontrollente des Jugendamtes ausgewiesenen Gewitterhexe zusammen zu arbeiten. Sie war darüber ebenso traurig wie ich, zeigte aber Verständnis dafür, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte. Schade! Die wäre echt viel besser und vor allem netter gewesen.2
Wie angekündigt sollte eine Mitarbeiterin vom Jugendamt zu Besuch kommen. Vielleicht war das gar nicht so schlecht! Auch wenn ich generell nicht so auf menschliche Kontakte gebürstet schien, hätte ich dann trotzdem jemanden, der mich bei meiner neuen Aufgabe unterstützen konnte. Und mit dem ich über meine Probleme würde reden können. Das war gut. Es konnten ja schließlich nicht ALLE Menschen so Scheiße sein wie diejenigen, mit denen ich es im Rahmen dieser Odyssee bislang zu tun gehabt hatte. Alles würde gut werden.
Von Jack hörte und sah ich nach der Geburt einige Zeit erstmal gar nichts. Aber ich traute diesem für mich nur scheinbaren Frieden nicht. So viel hatte ich bereits mit ihm erlebt, dass ich seine ständigen Kapriolen gut einschätzen konnte. Er würde ganz sicher über kurz oder lang wieder von sich hören lassen.
Damit sollte ich Recht behalten. Irgendwann kam er wieder, gewährte um Einlass. Insofern er auch bald wieder zu gehen gedachte (was ich ihm auch sagte) hatte ich nichts dagegen. Schließlich wollte ich ihm den Kontakt zu seinem Kind ermöglichen, war sogar eigens zu diesem Zwecke sogar hier her gezogen.
Er gab vor, nur "mal schnell nach dem Rechten sehen" zu wollen. Wieder musste ich ihm erklären, dass sich die Dinge zwischen uns geändert hätten. Kurz darauf saß er auf dem Sofa, um dort geschlagene zwei Stunden hocken zu bleiben, ohne ein Wort zu sagen. Dabei murmelte er ab und an unverständlich vor sich hin, stierte ins Leere. Dann, auf einmal, wie plötzlich geplatzt, fing er an, mir wutentbrannt irgendwelche wirren Vorwürfe zu machen.
Das kannte ich ja so schon von ihm... diese Anfälle, bei denen man nie wusste, wie sie ausgehen würden. Ich wartete erst einmal ein bisschen ab, um ihn Zeit zu geben, sich zu beruhigen. Davon nicht ablassend steigerte sich immer nur noch weiter in seinen Wahn hinein. Dabei sprach er in unzusammenhängenden, nur bruchstückhaft hervorgestoßenen Wortfetzchen.
Was bezweckte sein Verhalten?
<< Was ist mit dir los? >>... fragte ich.
Wieder sagte er zwei Minuten lang gar nichts... , schaute mich dabei nur ganz verzweifelt an, als ob er mich darum bitten wollte, für ihn auszusprechen, was ihm im Kopf herum spukte. Weil ich aber bloß abwartend vor ihm saß, fing er dann an, zu weinen. Das ging eine weitere halbe Stunde, in der ich vollkommen ungerührt neben ihm saß. Zu oft schon waren seine Tränen Mittel zum Zweck gewesen, um mich in irgendeiner Form zu beeindrucken. Irgendwann, als er wieder herzzerreißend schluchzte, sprach ich ihn noch einmal an.
<< Kannst du mir Bitte einfach zu erklären, was los ist? >>
<< nuschelnuschelheiraten >>
Ich konnte nicht anders und fing an, irre zu kichern.
<< Weißt du was? GEH einfach. Bitte. >>
Nun antwortete er: << Siehst du??? >>
Ich sah höchstens nur sehr verwundert aus. Sein Gerede ergab für mich keinen Sinn. Hielt er mich tatsächlich für so vollkommen verblödet?
Nun folgte eine Menge Blablabla, man liebe sich doch so und alles sei ja so ausweglos und so weiter, die alte Leier. Ich konnte es einfach nicht mehr hören.
<< Hör mal gut zu mein Lieber: Du hast deine Chance gehabt. Das weißt du auch. Irgendwann muss auch mal gut sein, oder? >>
<< Aber warum? Wie kann das denn sein? >>
Wie konnte was sein?
<< Wir haben uns doch lieb? >> schnüffelte er verrotzt.
<< Ja, das schon... >>
Was sollte ich dazu noch sagen?
<< Na, also. >>
Also was? Als sei damit irgendetwas geklärt. Na toll.
<< Das lag alles nur an den Problemen. >> behauptete er.
<< Was? Wie jetzt. >>
Ich wurde müde, hörte nicht mehr richtig zu.
<< Ich brauche keine Therapie. Das war nur der Stress. Eigentlich bin ich ganz normal. >>
Das glaubte er sich scheinbar auch noch. Und ich würde, wie ich aus Erfahrung nur wusste nicht die sein, die ihn eines Besseren belehrte. Trotzdem: Alter, pack dich doch mal am Kopp!
Ich schwieg.
<< Aber wenn jetzt das Jugendamt bei dir ein uns aus geht. Dann kann ich verstehen, dass du mich nicht mehr sehen willst. >>
Hallo? Wo war denn da der Sinnzusammenhang? Gab es überhaupt einen?
<< Sicher. >> 3
Er nickte.
<< Kannst du dann jetzt bitte gehen? Ich brauche Ruhe. So eine Geburt ist es sehr anstrengend, weißt du? Das dauert eine Weile, bis man sich davon erholt hat. >>
Brav verließ er uns an diesem Abend.
Ein paar Tage später kam er wieder. Machte ein ganz besonderes Angebot: Er wollte eine Therapie machen, um den Rest seines traurigen Daseins mit mir zusammen zu fristen. Also zumindest die Idee mit der Therapie empfand ich als einen relativ guten Vorschlag.4 Wo wir gerade schon mal dabei waren, schlug ich vor, direkt einen Platz im LKH zu organisieren.5 Kaum hatte ich mich voller Tatendrang zum Telefon umgedreht, um meine Verbündeten anzurufen, da war er schon wieder entflohen! So ernst war es ihn dann wohl doch nicht gewesen. Schwätzen und flüchten. Auch das kannten wir schon zur Genüge.
Mit den gerichtlichen Anhörungen hatte ich ja jetzt mittlerweile schon ein bisschen Übung. Man reagierte, hatte mir auch einen Termin zugesagt. KB fuhr mit mir gemeinsam hin. Der Richter empfand den Termin, woraus er auch keinen Hehl machte, als Zumutung. Er sah nicht von seinen Papieren auf, sprach statt mit mir nur mit meiner Begleitung, warf mich, nach dem er mich zwei halbe Sätze hatte sagen lassen6, hinaus. In meiner Angst, noch mehr Blödsinn zu erleben, suchte ich mir einen Rechtsbeistand. Der hatte studiert, sollte sich demnach mit Gesetzen und ihrer Anwendung auskennen. Freundlich, selbstbewusst und verständig sagte der Anwalt mir seine Hilfe zu.
<< Lassen Sie mich mal machen. >>
Auf ein Neues.
Der vor Ort ansässige Kinderarzt übernahm alle Vorsorgeuntersuchungen, zu welchen wir Termingerecht und zuverlässig erschienen. Mia, kugelrund und kerngesund, lieferte keinen Grund zur Beanstandung.
Zusätzlich dazu hatte ich mir bei einem der niedergelassenen Psychiater einen Termin geben lassen. Trotz meiner großen Angst vor Begegnungen mit dieser Art Mensch erschien ich dort.
<< Wie kann ich ihnen helfen? >> eröffnete er mit einem feierlichen Lächeln.
Das war mein Einsatz. Schnell den Spruch aufsagen.
<< Ich möchte gerne eine Psychotherapie machen und brauche dafür eine Verordnung. >>
<< Das ist kein Problem. Die sollen Sie bekommen. >>
Er notierte sich etwas.
<< Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? >>
OMG OMG Nein?
<< Nein. Ich möchte bitte nur das Rezept. Das reicht. Danke. >>
Etwas verwundert hielt er inne, dann wurde wieder das Lächeln aufgesetzt.
<< Na gut. Sie können jederzeit zu mir kommen. >>
Das würde ich sicher nicht, aber das Angebot durfte nicht unkommentiert bleiben.
<< Das wird sicher nicht nötig sein. Danke. >>
Nicht, dass ich mir von einer "Therapie" eine Verbesserung meines Geisteszustandes erhoffte. Nein. Ich wollte eine zweite Meinung einholen. Nicht nur bezüglich meiner Zurechnungsfähigkeit, sondern auch im Bezug auf meine Fähigkeiten, meiner neuen Aufgabe eventuell nicht gewachsen zu sein. Deshalb achtete ich bei der Wahl dieses Psychotherapeuten darauf, dass er einer der zugelassenen Gutachter für Familienfragen war. Er nahm mich als potentielle zukünftige Patientin an.
Eine Wohltätigkeitsorganisation hatte meinen Antrag auf eine Spende für notleidende werdende Mütter positiv beurteilt und einen Geldbetrag zur Verfügung gestellt, für den ich im Gebrauchthandel Mobiliar für mein Kind hatte erstehen können. Also besaß ich nun nicht nur ein Kinderbett, sondern auch einen Maxi Cosi und ein älteres Kinderwagenmodell. Es fehlte an nichts. Meine Großmutter war über das frisch gebackene Enkelkind so außer sich vor Freude, dass alle zwei Tage ein Paket mit neuer, sehr adretter Säuglingsbekleidung eintrudelte. Man kleidete sich neuerdings schick. Mia, immer noch die Ruhe selbst, schrie nicht herum, lies sich von Mama alle Wünsche von der Aura ablesen, nutze ausgiebig die auch des Nachts zuverlässig funktionierende hab-gleich-Hunger telepathisch operierende Weckfunktion. Mein Engelskind, das mich nur innerlich über jedes seiner Bedürfnisse zu informieren brauchte, um sie sofort erfüllt zu bekommen. Es gab nie einen Grund zum schreien oder weinen.
Die Jugendamts Tante würde mit uns zufrieden sein, soviel war sicher. Ich hatte schon zu Beginn der Schwangerschaft mit dem Rauchen aufgehört, meine (hoch-giftige, wenn auch wohlriechende) Engelstromete war wie geplant eingegangen, das zu Hause kindgerecht eingerichtet, Kind und Mutter fröhlich UND gesund.
Alles war gut.
1 (wärmer, wärmer, noch WÄRMER)
2 (abgesehen von hübscher)
3 (... ?)
4 (den besten seit langem!)
5 (vielleicht zuerst nur eine Entgiftung..., danach konnte man ja weiter sehen)
6 (woraufhin ich jedesmal vehement von der Frage unterbrochen wurde, was ich überhaupt wollte)