XXVI.

Sehr bald schon kam der gewünschte Kontakt zwischen mir und der vom Jugendamt beauftragten Miss Tussnelda zustande. Ich beschloss, dieses als eine der erfreulicheren Entwicklungen zu betrachten. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Chef so ein hirnamputierter Vollhonk sein musste, der erst darüber nachdachte, was er gerade gesagt hatte, nachdem er es ausgesprochen hatte.1 Als sie dann vor der Tür stand, ließ ich sie gern ein. Und: sie bekam natürlich auch einen Kaffee serviert. Die Sonne hatte in meinem Leben wieder zu scheinen begonnen, wonach sie zwangsläufig zu den Guten gehören würde.

 

Der erste Kontakt verlief gut. Da es nichts zu beanstanden gab, wurde auch nichts beanstandet. Mia ging es offensichtlich ganz prima. Frau Dr. D´s Behauptungen2 und Bedenken erwiesen sich in keinster Weise als gerechtfertigt. Trotzdem waren sie der Anlass dafür, nun vermehrt auf das Kindeswohl Acht zu geben. Tatsächlich stellten die Termine mit der Jugendamtsbeauftragten reine Kaffeevernichtungs-Orgien dar, bei welchen zwar auch die Nase des Kindes begutachtet wurde - an der es aber nie etwas auszusetzen gegeben hat.

 

Von nun an erschien sie regelmäßig, sich bei uns ihre Portion Kaffee einzuverleiben. Damit, dass das angekündigte Drama nicht wie erwartet stattfand, war sie völlig unterfordert. Als jemand, der es in der Regel ausschließlich mit krassesten Notfällen zu tun hat, wird sie sich ziemlich gelangweilt haben. Ein ausgebildeter, kompetenter Lebensretter, der zu einem Notfall gerufen wird3 kommt sich ohne Drama bestimmt vollkommen überflüssig vor.4 Vielleicht hätte ich mir, um sie zu beschäftigen, ein paar Probleme ausdenken sollen.

 

An dieser Stelle angelangt, glaubte ich, gemeinsam einen ersten Schritt weiter in Richtung Zusammenarbeit machen zu können.5 Ein Kennenlernen braucht Zeit. Nun würde ich mich ihr anvertrauen, so der Plan. Sie war so freundlich, galant, weltgewandt - einfach die pure Kompetenz in Person. Sicherlich würde sie mir aufmerksam zuhören, eventuell sogar einen geeigneten Rat für mich zu finden wissen. In meiner Phantasie mutierten wir zu einem starken Team, welches Händchen haltend einem Rammbock gleich die Gollum - Problematik6 zunächst zu Kleinholz verarbeiten und anschließend elegant entsorgen würde. Eigentlich sollte es7 nur darum gehen, den überflüssig gewordenen Müll raus zu tragen.

 

Die Tatsache, einen ihn in meinem Leben nicht gebrauchen zu können und deshalb möglichst bald auszusortieren - hatte ich ja bereits erkannt.8 Nur so richtig losgeworden war ich ihn noch nicht. Dazu benötigte ich konstruktive Unterstützung. Hilfe, um die ich zwar gebeten, aber die ich von Niemandem gewährt bekommen hatte. Diesem Rätsel - des geschickten wie und wann - galt es gemeinsam auf die Schliche zu kommen, um es mit vereinten Kräften zu lösen. Nannte man diesen Beruf nicht Familienhilfe? So eine konnte ich gerade echt gut gebrauchen.

 

Ich litt unter dem gestörten Verhältnis zu dem gestörten Kindesvater. Deshalb beschloss ich, ihr erst einmal davon9 Bericht zu erstatten. Er war gewalttätig, psychisch krank und nicht zurechnungsfähig. Unsere Beziehung hatte nie richtig funktioniert und würde es wohl auch in Zukunft nicht. Trotzdem war er der Kindesvater und es deshalb sicher unumgänglich, auch zukünftig irgendeine Art von Umgang zu pflegen. Hierfür würde ich Unterstützung brauchen. Das schaffte ich einfach nicht allein.

 

Darüber zu sprechen, war aufwühlend. Der zeitliche Rahmen, den das Thema in unserem Gespräch einnahm, belief sich auf circa zehn Minuten, bei welchen anteilig zwei Minuten ein paar leise Tränen meine Worte begleiteten, welche ich auch gar nicht erst zu unterdrücken versuchte.

<< Das kann doch nicht sein, dass er mich immerzu schlagen darf! Das ist doch... Ja! Er misshandelt mich! >> wimmerte ich anklagend.

Ich vertraute ihr. Wenn wir in Zukunft erfolgreich zusammen arbeiten wollten, würde ich mit offenen Karten spielen müssen. In Sachen Gollum war sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen.

<< Wie würden Sie damit an meiner Stelle umgehen? >>

Sie wandte den Blick ab, demonstrativ der Frage ausweichend, zuckte mit ihren Schultern. Ob ihr das Thema unangenehm war? Siedendheiß fiel mir das Wichtigste ein, dessen Erwähnung mir entfallen war, da ich diesen Fakt für selbstverständlich hielt.

<< Hören Sie. Da wäre noch eine Sache. Sie dürfen auf keinen Fall darüber reden. Er darf von dem, was ich ihnen so freimütig erzählt habe, nicht das leiseste Fitzelchen erfahren! Sonst geht es hier rund, verstehen sie? Er würde komplett ausrasten, mich dafür bestrafen, sich Gott weiss was ausdenken, um sich zu rächen. Das darf nicht passieren, verstehen Sie? Sie würden es nicht glauben, was ich mit dem schon erlebt habe. Davon kann ich Ihnen bei Gelegenheit mal berichten, wenn wir dafür mehr Zeit haben, ok? Jetzt muss es für Sie reichen, zu wissen, dass er absolut unzurechnungsfähig ist. Das steht auch in seiner Akte. Also: zumindest für den Zeitraum, den wir benötigen werden, um das Problem gemeinsam zu lösen, muss ich Sie um absolute und vollste Verschwiegenheit bitten. Ok? Ja? >>

Ich lächelte sie verschwörerisch an. Das Liebste wäre mir gewesen, sie hätte mir darauf die Hand gegeben. Er war gefährlich. Wenn er erführe, wovon ich hier in aller Seelenruhe plauderte, na dann gute Nacht. Ich war nicht der Pumuckel und konnte mich, wenn Meister Eder einmal sauer wurde, mal eben unsichtbar machen.

<< Da muss ich Sie leider jetzt enttäuschen >> antwortete sie, plötzlich unruhig werdend und den Blickkontakt gänzlich meidend.

<< Wir können ja beim nächsten Mal weiterreden. Ich muss jetzt los. Kann ich Sie alleine lassen? >> fertigte sie mich kurzerhand ab.

<< Ja, warum denn nicht? >>

Wo war das Problem? Das tat sie doch sonst auch immer, fragte ich mich verwirrt.

<< Ok. Ich verlasse mich darauf. >>

Diese von ihr gewählten Worte wischen vom regulären Verabschiedungsritus ab.

<< Ist alles in Ordnung? >> fragte ich sie.

<< Mit mir? Ja, aber natürlich. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wir sind immer für Sie da. Wenn irgendetwas sein sollte, melden Sie sich, ja? Versprochen? >> `

Aber was sollte denn sein?

<< Okay??? >>

Vielleicht klärte mich hier mal jemand auf.

<< Na toll. Gut, dann bis bald. >>

<< Ok, bis bald. >>

Wer weiß, warum sie so unkonzentriert und abwesend wirkte. Vielleicht war sie in Gedanken auch schon bereits bei ihrem nächsten Termin. Wer wusste das schon so genau. Nicht immer hatte alles, was andere taten oder sagten, in direkter Weise mit mir zu tun.

 

Dieser Tag war insgesamt bereits sehr anstrengend gewesen. Aus diesem Grund war ich sehr froh, keine weiteren Termine mehr zu haben. Ich musste Nacht für Nacht zwei bis drei Mal aufstehen, mich um des Kindes Wohl kümmern. Außerdem hatten die Strapazen der Schwangerschaft und Geburt meinen Körper sehr mitgenommen, wovon ich mich noch nicht ganz erholt hatte. Deshalb ging ich immer zeitig zu Bett.

 

Gleich am selben Abend kamen sie10 wieder, ohne Termin, unangemeldet. Tussneldas direkter Vorgesetzter, Herr Vakuum-im-Kopf, Miss KB11 und noch einige andere Personen (deren Gesichter ich gar nicht kannte) standen plötzlich vor der Tür wie eine verirrte Fußballmannschaft. Ultimativ sofort müsse ein Krisensitzungs-Gipfel abgehalten werden.

 

Ich war total überrascht. Erstens kam das unangekündigt, wie aus heiterem Himmel und zweitens - gab es auch überhaupt keine Veranlassung. Die Frage, die sich hier logischerweise ergab: Warum???

<< Was machen Sie denn alle hier? Und vor allem: Warum? >>

<< Es hat sich eine Notsituation ergeben. Wir müssen handeln. >>

<< Aeh, was? >>

Was redete er da? Ich war schon halb am schlafen und gar nicht mehr aufnahmefähig.

<< Hören Sie. Ich bin müde. Für so etwas habe ich gerade gar keine Zeit. Können Sie nicht ganz normal einen Termin machen wie jeder andere auch? Was soll denn das? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? >>

<< Wir haben heute einen Bericht ihrer Familienhilfe erhalten, der ein Kriseninterventionsgespräch erforderlich macht. >>

<< Aber das... >>

Was??

<< Haeh? >>

<< Ja!! Frau Tussnelda war nach dem heutigen Termin, den sie bei ihnen hatte, völlig außer sich vor Sorge, da sie sich labil gezeigt haben. >>

Ich war perplex. Watt? Wie? Labil? Mein erster Gedanke: Das war eine Fehlinformation. Es musste eine Verwechslung vorliegen. Sie meinte nicht mich, das konnte nicht sein. Ich dachte angestrengt nach.

<< Das kann doch gar nicht sein!? >>

<< Doch. >>

<< Nein. Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Wo ist Frau Tussnelda, ist sie hier? Ich möchte bitte gerne mit ihr sprechen. Das kann ganz schnell aufgeklärt werden. >>

<< Hören Sie, es ist Freitag Abend. Frau T hat Feierabend, sie ist zu Hause und kommt auch sicher nicht jetzt hier vorbei. >>

Aber er war doch auch hier, trotz Feierabend?

Verarsche, immer nur verarsche.

<< Dann rufen Sie sie an! >>

<< Sie verstehen mich nicht. Frau Tussnelda hat Feierabend. Sie ist nicht zu erreichen. >>

<< So eine Scheiße! >> entfleuchte es mir.

<< Ja. Könnten wir nun bitte reinkommen? Es ist wirklich sehr dringend. >>

<< Na, bitte. Meinetwegen. Wenn es sich nicht anders regeln lässt. >>

Ächz.

 

Langsam wurde mir klar, was abgelaufen sein musste, trotzdem konnte ich es aber nach wie vor nicht glauben. Weil ich, als ich ihr von meinen tatsächlichen Problemen ansatzweise berichtet hatte, ein paar Tränen geweint hatte? Dass ich Gefühle zeigte, die jeder andere Mensch sie auch zeigen würde angesichts einer solchen Situation? So dankte man mir also meine Offenheit. Kaum war ich zu einer Zusammenarbeit bereit und zog jemand anderes ins Vertrauen, um um Rat zu fragen - reagierte man so darauf: "Labil", alles klar. Genau. Dass ein paar Tränen über mein Gesicht flossen, war plötzlich ein Zeichen für meinen eklatanten Mangel an Zurechnungsfähigkeit. Einerseits sagte man mir nach, dass ich zu wenig Gefühle zeige. Ließ ich sie dann einmal zu, war das ebenso falsch. Es hatte nicht einmal große emotionale Dramatik gegeben, die man ohne viel Mühen eventuell als "Labilität" hätte um-interpretieren können - Das hätte ich ja noch verstanden, aber: so war es nicht gewesen! Ich hatte bloß ganz sachlich berichtet, und dann, als mir die Tränen kamen, mich dafür obendrein noch entschuldigt. Im Schluchzen inne gehalten und die restlichen Gefühle unterdrückt, um mich weiterhin mit ihr unterhalten zu können. Labil? Unter Tränen über seinen verstorben Hund zu berichten wird kaum jemand als "labil" bezeichnen. War selbst jemand, der Zwiebeln schälte, plötzlich krank, weil ihm die Tränen liefen?

 

Und wie hatte sie reagiert? Sie hatte sich überhaupt keine Sorgen gemacht. Wäre ich tatsächlich labil gewesen, hätte sie mich überhaupt nicht alleine lassen dürfen. Statt dessen hatte sie mich zehn Minuten später, ganz normal, so wie sonst auch, mir selbst überlassen. Warum ging sie? Weil sie sich keine Sorgen um mich machte, wusste, dass sie sich keine zu machen brauchte! So besorgniserregend konnte es wohl kaum gewesen sein. Warum hatte sie den Spackos denn nicht auch gleich auch alles erzählt? Da die nun den Mega Stress schoben, musste ich sie wohl oder übel ihren Kriegsrat bei mir zu Hause abhalten lassen, und das, obwohl ich zum Umfallen müde und für solche Aktivitäten gar nicht mehr geeignet war.

 

Was für eine illustre Runde. Um meine Süße bei ihrem wohlverdienten Schönheitsschlaf nicht zu stören, scharte ich die vielen ungebetenen Besucher um den Tisch in meinem Wohnzimmer, wo sie wüten und debattieren mochten, soviel sie wollten, ohne dabei den heiligen Dingen in meinem Leben zu nah zu kommen. Überfordert und mit rotgeränderten Augen saß ich in der Ecke und betete im Stillen, doch bitte endlich meine Ruhe haben zu dürfen, doch bitte endlich meine Ruhe haben zu dürfen, doch bitte endlich meine Ruhe haben zu dürfen. Ich wollte nur noch eins: schlafen. Ich war so fertig, dass ich so gut wie gar nichts von dem, was dort gesprochen und debattiert wurde, mitbekam. Statt dessen schlief ich mit offenen Augen.12

 

Irgendetwas auszubaldowern war ihnen ein außerordentliches Bedürfnis. Schließlich hatte man sich hierzu eigens in solch aufopfernder Weise ganz offiziell Panik-schiebend bei mir eingefunden. Was genau sie unter sich ausmachten, raffte ich nicht mehr - dafür war ich viel zu erschöpft. Nachdem sie zwei Stunden meiner so dringend benötigten Erholungszeit damit verbracht hatten, ihr Wichtigtuertheater abzuziehen, schafften sie es endlich, wieder zu gehen.

 

Was hatten diese Behinderten beschlossen? Ein psychologisches Gutachten? Ich sollte hier mal wieder das Problem sein? Was auch immer - mir war alles scheissegal. Hauptsache, sie hörten damit auf, mir meine Zeit und Schlaf zu stehlen. Es war klar, dass ich diese Horde wildgewordener Bekloppter sowieso nicht von irgendetwas abhalten konnte. Ihren Wahnvorstellungen darüber, für wie bekloppt sie mich hielten, blieben sie überaus treu. Die machten doch eh, was sie wollten. Egal, was ich tat oder sagte, sie sahen nur das, was sie sehen wollten.

 

Wieder hatte ich das Gefühl, dass das Drehbuch der Realität, in dem alle mitzuspielen sich befleissigten, den Menschen wichtiger schien als alles andere. Sie hätten ja nur mal genau hinzusehen brauchen, um zu erkennen, dass ich zu Tode erschöpft war. Und das winzige Menschlein, um welches man sich hier so sorgte, gleich nebenan wonneproppig den Schlaf der Gerechten schlief. Man hätte auch, wie jeder normale Mensch, vorher telefonisch einen Termin mit mir absprechen können, der vielleicht nicht ganz so spät am Abend stattfand und mich auf alles vorbereitet - so dass ich vielleicht zu dem Gespräch noch eine Menge beizutragen gehabt hätte.13 Zu guter Letzt war keiner der Anwesenden auch nur ein einziges Mal auf die Idee gekommen, nachzufragen, was zu dem vorschnellen Urteil von Fräulein Tusnelda geführt hatte. Ich hatte an dem Gespräch gar nicht teilgenommen. Wieso waren sie überhaupt damit zu mir gekommen? Alles fand ohne mein Zutun und selbstverständlich - ohne mein Einverständnis statt.

 

Meine an den Tag gelegte Gutmütigkeit wurde gnadenlos dazu ausgenutzt, gegen mich und über meinen Kopf hinweg in einer Art und Weise zu intrigieren, die ich im Nachhinein als verantwortungslos und absolut unprofessionell empfand. Nicht ich litt an einer Psychose und unter Wahnvorstellungen, sondern meine Gesellschaft tat es.

 

Es gab weder einen Plan von dem, wo das zukünftig hinführen sollte, noch ein gangbares Konzept, wie mit solchen Situationen umzugehen sei. Die Kraft und Erfahrung, mich dagegen in irgendeiner Form konsequent zur Wehr zu setzen, brachte ich nicht auf. Das stetige Scheitern in anderen, vergleichbaren Situationen hatten außerdem mein früheres Selbstbewusstsein und Vertrauen abhanden kommen lassen. Ich war so verunsichert, dass ich gar nicht erst den Versuch unternahm, sie eines Besseren zu belehren. Schließlich hatten meine Erfahrungen mich gelehrt: Mit solchen Menschen zu diskutieren zu versuchen, hatte keinen Sinn. Wenn sie sich so in eine Idee verrannt hatten, sowieso nicht. Nachdem ich anfänglich noch zaghaft versucht hatte, mich an der "Unterhaltung" zu beteiligen, saß ich bald nur noch passiv und stumm daneben.

 

Um so dankbarer war ich dafür, als sie endlich wieder weg waren. Ich fiel sofort,14 in mein Bett, um sofort einzuschlafen. Das war lange überfällig, die Uhrzeit bewegte sich gen Mitternacht. Eine Stunde später musste ich auch schon wieder aufstehen: man hatte einfach einen großen Appetit. Diesmal dürfte allerdings schon einige Zeit mit so richtigem, waschechten Kindergebrüll vergangen sein: ich war nicht, so wie sonst üblich, gemeinsam mit Mia aufgewacht, hatte den üblichen-stillen Weckruf stumpf verschlafen. Aber was solls: Brüllen ist gut für die Lunge. Normale Kinder brüllten ja auch ab und zu herum. Kein Grund zur Sorge.

 

Doch über das Verhalten von unseren Herren und Damen Jugendschützern ärgerte ich mich. Die taten das Gegenteil von dem, wozu sie ihr Amt eigentlich verpflichtete: nämlich Eltern in ihrem Elterndasein zu unterstützen! Eine lächerliche Bande von Nichtskönnern und läppschen sich-darin-zur-Schau-Stellern von definitiv nicht vorhandener Kompetenz. Ich hatte zwar nicht studiert, maßte mir aber nach dieser Theatervorstellung an, darüber ein Urteil fällen zu dürfen: Dies war menschlicher Abfall. Auf solchen konnte unsere Gesellschaft wirklich getrost verzichten. Ich zumindest. Diesen Job, den die sich auszuüben einbildeten, hätte ich auch ohne Studium besser und kompetenter erledigen können als die. Im Gegensatz zu ihnen wies ich nämlich eine ganz besondere Fähigkeit auf: ich konnte hinschauen.

 

In dieser Nacht vergaß ich sogar, die Herdplatte wieder auszumachen, die ich zum Erwärmen ihrer Babyflaschen-Ration auf eine niedrige Stufe eingestellt hatte. Diesen Fauxpas entdeckte ich erst, als ich in dieser Nacht in aller Herrgottsfrühe zum zweiten Mal aufstand, um mich um mein Kind zu kümmern. Am Morgen klappte das gemeinsame Wach-werden wenigstens auch wieder so wie gewohnt. Zumindest der häusliche Frieden war wiederhergestellt. Wenigstens etwas. Meine positive Grundstimmung kehrte zu mir zurück.

 

Aber mit den werten Herren und Damen Jugendschützern hatte ich nach wie vor noch ein Hühnchen zu rupfen. Ja, waren die denn komplett bescheuert? Was dachten diese Leute sich eigentlich dabei, uns das Leben so schwer zu machen! Sich das Recht herauszunehmen, mich zu jeder Zeit für verfügbar zu halten und ohne Rücksicht auf Verluste durch ihre Eingriffe in meinen wohl strukturierten Alltag so sehr durcheinander zu bringen, dass dabei alles aus dem Gleichgewicht kam! Das war Kindeswohlgefährdung! Mein Kind hatte sich minutenlang die Kehle aus dem Hals gebrüllt, weil ich zu müde gewesen war, um dessen Bedürfnisse wahrzunehmen! Hatten die überhaupt eine Ahnung, wie anstrengend die Zeit für eine frisch gebackene junge Mutter direkt nach der Geburt sein konnte? Idioten-Volk! Hatten die dafür jahrelang studiert? Sollte man dadurch als Mensch nicht kompetenter werden, vielleicht sogar intelligenter? Dann hatten die Lehren der Universität in diesem Fall das Ziel eindeutig verfehlt.

 

Was war denn das gestern Abend schon wieder für ein Versuch gewesen? Ein Drama aufzuführen, wo es gar keines gab? Weiteren Besuchen von Fräulein Tussnelda stand ich, wen wunderts, auf einmal kritisch gegenüber. Als ich ihr unkooperatives und beinahe schon vorsätzlich intrigantes Verhalten zur Sprache bringen wollte, zeigte sich uneinsichtig. Sie war keine Hilfe. Sie war eine Belastung. Deshalb fasste ich mir ein Herz, um dem kollektiven Schmierentheater ein Ende zu bereiten.

<< Diese ständigen Besuche von Ihnen sind doch gar nicht notwendig. >>

<< Ich habe den Auftrag, mich um das Wohl ihrer Tochter zu sorgen. >>

<< Ja, schon, das dürfen Sie ja auch. Kommen Sie ruhig weiter vorbei, schauen Sie nach dem Wohl des Kindes. Aber deshalb jedesmal stundenlang miteinander Kaffee zu trinken muss doch wohl nicht sein. Außerdem wissen Sie ja, dass es der Kleinen an nichts fehlt. Wäre dann nicht ein Termin pro Woche ausreichend? Oder alle 14 Tage? Alles andere wird mir zu viel. Ich habe schließlich auch noch andere Termine, um die ich mich kümmern muss. Der Kinderarzt, die Hebamme, der Psychotherapeut, und so weiter. Wie soll ich das denn schaffen. Ich muss mich doch zwischendurch auch mal ausruhen. >>

Nie wieder würde ich einen neuen Versuch starten, eine gemeinsame Vertrauensbasis herzustellen. Auf die gewöhnliche Kaffeezeremonie legte ich nun keinen Wert mehr. Das bestand nur aus heile Welt spielen und Small Talk. Meine/unsere Welt war heile und mich dafür verstellen, dass sie es war, brauchte ich nicht. Ganz offensichtlich ging es dem Kind immerzu nur gut, um nicht zu sagen - sehr gut, und keiner hatte zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Grund oder Hinweis bekommen, dass es sich damit anders verhielte. Die nervten einfach nur und waren aus meiner Sicht überflüssiger, wie es flüssiger gar nicht sein konnte.

 

Es reichte ihr nicht, rücksichtsvoll nur einmal kurz nach dem Rechten zu sehen, was ich auch nicht als problematisch empfunden hätte. Nein, sie MUSSTE ja immer gleich über eine ganze Stunde bleiben und auf ihrem fetten Arsch Kaffee schlürfend in meiner Wohnung herum hocken, um sich angeregt zu unterhalten. Worüber sollte ich denn mit ihr sprechen? Wenn man sich eh nicht vertrauen konnte? Und ich sollte dann jedesmal freudestrahlend ihre Unterhalterin geben? Nö, oder? Ich wollte mich, statt um diese arbeitslosen Ritter der Tafelrunde, viel mehr um mein Kind kümmern. Der immer-freudlich-grinsende Gesichtsausdruck der "Familienhilfe" war mir bald sehr zuwider.

 

Da ich auch noch diverse andere Termine hatte und diese mindestens ebenso wichtig,15 musste ich in den folgenden Wochen zwei Mal Treffen mit ihr verschieben. Jedes Mal rief ich sie rechtzeitig vorher an und bot ihr einen Ersatztermin an. Leider verpasste ich auch zwei Mal einen Termin mit der Hebamme, weil ich wiederholt Sturmklingelangriffen von Gollum ausgesetzt gewesen war, weshalb ich kurzerhand die Klingel ausgestellt hatte. Er hatte gar nicht mehr damit aufhören wollen, ununterbrochen den Klingelknopf zu betätigen.16 Weil man mit einer ausgeschalteten Klingel nicht so gut klingeln kann, war sie erfolglos zu meiner Haustüre und dann wieder zu sich nach Hause gepilgert.17 Sie rief mich an, weigerte sich, weiter zu mir zu kommen.18 Eine durchaus verständliche Reaktion. Leider ließ sich ihr heiliger Zorn, den ich durch dieses unflätige Verhalten entfacht hatte, nicht besänftigen.

 

Mir tat das Leid. Sie war zwar nicht unbedingt die ideale Wahl einer Hebamme gewesen, aber hatte sich trotz allem immer sehr korrekt und höflich verhalten. Außerdem blieb sie im Gegensatz zu Frl. T auch meist tatsächlich nur zehn Minuten und ging, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass bei uns und mit der Kleinen alles in bester Ordnung war, direkt wieder. Leider ließ sie sich auch durch meine Beteuerungen, demnächst besser auf unsere Termine acht zu geben, nicht von ihren Abschiedsbedürfnissen abbringen. Wirklich traurig gemacht hat mich das allerdings nicht. Da ich nur sehr ungern mit jemandem im Bösen auseinander gehe, bedauerte ich bloß, dass es mir nicht gelang, sie in ihren Zorn zu besänftigen. Aber alles in allem war es auch auch nicht weiter schlimm, denn sie hatte uns eh nie etwas genutzt - spielte derweil nur Kontroll-Ente für diesen Verein von Riesenidioten.

 

 

Als ich Gollum wieder einmal einen Besuch bei uns gestattete, laberte dieser, wie immer in seinem unerschütterlichen Glauben an unsere weiterhin fortbestehende "Beziehung" vor sich hin:

<< Ich habe Angst >> begann er aus heiterem Himmel.

<< Was wird in der Zukunft aus uns werden? >>

Uns???

Ich kicherte los, versuchte aber direkt, wieder ernst zu werden, damit er nicht bemerkte, wie ich dazu stand. Wo hatte er denn das "Uns" auf der Karte stehen?

<< Uns? >>

Verwirrt sah er mich aus seinen rotgeränderten Augen an.19 Dann schwieg er eine Weile. Ich hatte nicht vor, seine tiefschürfenden Gedankengänge zu unterbrechen. Mal sehen, was dabei heraus kam.

<< Ich weiß gar nicht, was immer über mich kommt. Es ist da was... >>

er zeigte Richtung Oberstübchen

<< auf einmal krieg ich da so ein Gefühl... und dann: muss ich los. >>

<< Wie, los? Was meinst du damit?? >>

Wovon redete er?

<< Raus. >>

Haeh?

<< Haeh? >>

<< Raus, weg! >>

Ich verstand immer noch nichts.

<< Aha. >>

Mir doch egal, sollte er Dünnes labern.

<< Die Drogen sind Schuld. Die bringen mich dazu, mich so zu verhalten. Ich kann nichts dafür. >>

Ach, ... soo... ! Nahm er das Zeug denn immer noch?

<< Nimmst du das Zeug denn immer noch? >>

<< Man kann nicht so einfach damit aufhören, was denkst du dir überhaupt! >>

Ich hatte da so meine Zweifel, konnte jedoch, so lange ich selbst nicht in einer vergleichbaren Lage gewesen war, wohl kaum widersprechen. Was hatte mir einer der Fahrer auf einer meiner zahlreichen Wegstrecken erzählt? Wenn man ein einziges Mal Kokain genommen hätte, wäre man sofort davon abhängig. Keine Chance. Derselbe Mensch hatte mir dann angekündigt, dass ich meine damals noch ungeborene Tochter zukünftig irgendwann hassen würde, weil mich ihr Vater so schlecht behandelt hatte. Also in Punkt zwei hatte er schon einmal Unrecht bewiesen. Ich hasste weder den Kindesvater noch seine Tochter. Wie es um Punkt eins jedoch stehen würde, dazu konnte ich nichts sagen. Die Wirkung von Kokain war mir nicht bekannt.

 

Als Jack mir dieses Geständnis machte, schien er nüchtern und orientiert, klar und besonnen. Das waren schon mal gute Voraussetzungen. Andererseits war ich über seinen Besuch einigermaßen betrübt, weil am darauf folgenden Tag eine erneute gerichtliche Anhörung20 anstand, zu der ich frisch, ausgeruht und mit klarem Kopf erscheinen wollte. Diese Angelegenheit würde meine volle Konzentration verlangen. Ich hatte also gerade gar keinen Sinn für derartige Gespräche. Da er aber plötzlich so ernsthaft war, lies ich ihn zunächst erst einmal ausreden. Schließlich wollte ich der höheren Einsicht eines Suchtkranken, der bereit war, sich damit aktiv auseinander zu setzen, nicht im Wege stehen.

 

Er zählte viele Dinge auf, die er falsch gemacht hatte, präsentierte mir einen neuen Schuldigen: die Sucht. Außerdem wollte er nun gern bei mir bleiben. Oje. Damit war ich völlig überfordert. Außerdem kannte ich das ja schon: Spätestens um 22-23 Uhr musste er raus, hatte Druck, ging zu seinen komischen Freunden.

<< Und was willst du tun, wenn es wieder "über dich" kommt? >> fragte ich ihn belustigt und gleichzeitig ernsthaft zweifelnd.

<< Na, ist doch ganz einfach! >>

Vor lauter Schreck, dass es für Drogensucht eine "einfache" Lösung geben sollte, hielt mein Hirn mit seiner Tätigkeit inne.

<< Wie ? >> ploppte es nur noch aus meinem Mund, der nun in Form eines "O" eine Weile offen stand.

<< Du musst mich aufhalten! >>

Watt? Nee. Das musste er mir jetzt erklären.

<< Okay... Aber wie stellst du dir das vor? >>

Er erklärte es mir.

 

Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, an einem anderen Tag solche schwierigen Aufgaben zu übernehmen. Warum denn gerade heute! Das war schlechtes Timing, ein ganz außerordentlich schlechtes Timing.

 

Sehr schnell war es dann soweit. Er wollte gehen. Es war ca. 22 Uhr, mein Einsatz nahte. Trotzdem mein Bäuchlein war immer noch sehr sehr empfindlich war,21 sich die Gebärmutter kaum zurück gebildet hatte, ich mich als zerbrechlich und verletzlich wahrnahm, stellte ich mich ihm wie befohlen in den Weg.

<< Was machst du denn da?? >> proklamierte er, roh und ungehalten.

Ich wiederholte seine Worte:

<< Es müsste mich nur einer aufhalten..., das mache ich jetzt. So, wie du es mir gesagt hast. Oder nicht? >>

<< Lass mich durch. >>

Ich wurde unsicher. Wenn ich ihn aufhalten sollte, dann musste er aber doch auch auf mich hören. Was, wenn nicht?

 

Leider fing der genau zu diesem Zeitpunkt statt dessen lieber wieder damit an, mich mit seinen Fäusten zu tracktieren. Weil ich in der Ecke stand, konnte ich den Schlägen nicht ausweichen. Mich ernsthaft wehren zu können, war ich zu schwach.

 

Bautz, war die Mauer in meinem Kopf, die ich um mich erbaut hatte, um meinen Alltag geregelt zu kriegen, umgestoßen. Alles kam wieder hoch. Alles war wieder da.

 

Das durfte nicht sein. Es gab ein neues Leben, in dem alles gut war! Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. Wie damals, als ich mit einem noch nicht ganz verheilten Schädelbruch von ihm an die Wand gedrückt worden war mit den Worten: Ich schlag dir den Schädel ein, fiel der Groschen nun erneut mit einem lauten Klick: Solange ich mit ihm zu tun hatte, würde ich immer Probleme haben. Die Gravitation des Bösen - wenn auch nur Resultat der geistigen Umnachtung meiner Mitmenschen - erfasste einen nur, wenn man ihr zu nahe kam. Ich musste aus seinem direkten Umfeld raus. Er sollte verschwinden: Raus aus meinem Haus, aus meinem Leben! Diese Art von Spiel sollte er mit jemandem spielen, der damit glücklich wurde, aber nicht mit mir. Erst recht nicht mit dem schützenswerten Engel in meinem Schlepptau!

 

Als er endlich von mir abließ, schien er gar nicht mehr das Bedürfnis zu haben, irgendwohin zu gehen. Wichtig war ihm nur noch, mich darüber aufzuklären, dass ich an der eskalierten Situation "selbst Schuld" hätte. So wie immer. Ich sank an der Wand nieder zu Boden. Da lag ich nun. Regungslos lag ich zusammengerollt wie eine Kellerassel - auf den weißen Fliesen.

 

Irgendwann kam er wieder an. Fing an, an mir herum zu zerren.

<< Es tut mir leid. Hörst du? Ich hab dich lieb. >>

Als ich mich trotzdem nicht rührte, legte er sich zu mir, schlang von hinten seine Arme um mich. Was sollte das denn jetzt werden? Erst brutal zusammenschlagen, dann kuscheln? Ich wäre die ganze Nacht dort liegen geblieben, aber nicht so. Nein. Das war vorbei. Es würde keine Umarmungen oder sonstige Dinge mehr zwischen ihm und mir geben! Ich rappelte mich auf. Ging ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer. Völlig neben der Spur blieb ich wie eine Statue in der Tür stehen. Dass er mir folgte, bekam ich kaum mit. Auch nicht, dass er eine ganze Zeit lang neben mir stand und mit mir sprach.

 

Ich war wie in Trance, stand regungslos. Wenn ich eine Situation nicht ertrage, oder vielleicht einfach nur völlig ausgebrannt bin, passiert mir das. Dann erstarre ich, reagiere nicht mehr. Manchmal kippe ich auch einfach um. Er hasste mich dafür. Dafür musste man mich strafen. Aber es passierte trotzdem immer wieder. Wenn ich Angst hatte oder zu große Erschöpfung oder Schmerz kompensieren musste, mit etwas überfordert war, erstarrte ich. So auch diesmal. An Error occurred.

 

Bald kam er mit einem langen dicken Stock, den er gefunden hatte und mit dem er auf mich einschlug.22 Der Schmerz rief meine Gedanken wieder in die Realität zurück. Ich lief ein paar Schritte vor ihm her, Distanz zwischen uns bringend und bat ihn eindringlich um Vernunft. Situationsanalyse: ich musste die Kontrolle wieder erlangen. Ein irres Grinsen im Gesicht kam er, den Knüppel demonstrativ vor sich hin und her schwingend, weiter auf mich zu. Die Nachbarn!!! Hier gab es Nachbarn, die einem täglich auf dem Hausflur begegneten, einen sogar freundlich grüßten. Ich begann, lauthals um Hilfe zu rufen. Wohnte im untersten Stockwerk (da bei den Vorgarten-Fetischisten 23) nicht auch ein Polizist? Der beim Grenzschutz arbeitete? Was war das eigentlich für eine Abteilung, Grenzschutz? Na, egal, Hauptsache Polizist. Ich schrie ein paar Mal laut um Hilfe. So. Das hatten jetzt alle der sechs Parteien im Haus gehört. Gleich kam bestimmt einer und klopfte. Dann wäre ich ihn los. Diesmal würde die Polizei kommen, mich beschützen.

 

Sofort legte er seine Waffe weg, lachte und fragte mich ironisch:

<< Naa, soll ich jetzt gehen??? >> ...

Nachdem er sich in dieser Schlacht so siegreich geschlagen hatte, kam er sich anscheinend sehr männlich vor. Nun setzte er sich, mit sich zufrieden, großspurig auf´s Bett. Provozierend sah er in meine Richtung:

<< Und? Willst du mich immer noch haben? Ich bin gerne dazu bereit, dich dann und wann zu verprügeln! Wie wäre es mit zweimal die Woche? So, Montags und Mittwochs vielleicht. >>

Seine Stimme war plötzlich eine ganz andere. Sonst quäkte er immer etwas. Diese hier klang dunkel und volltönend.

 

Erst, als ich diesen Vortrag hörte, kam ich auf den Gedanken, dass er wahrscheinlich so etwas wie besessen sein musste. Derjenige, der jetzt gerade zum Vorschein kam, war vermutlich auch derjenige, der diese Gewaltexzesse inszenierte und - genoss. Wenn er seinen Körper übernahm, weiteten sich die Pupillen von Jacks Augen so arg, dass man die Iris nicht mehr erkennen konnte. Von einem Moment auf den nächsten wurden seine Augen plötzlich komplett schwarz, dann kam der Anfall/Gewaltausbruch.

 

Ein Fluchtreflex übernahm das Kommando. Ich lief ein paar Schritte Richtung Haustüre, bis mir einfiel, dass ich nicht nur in diesem Haus wohnte, sondern auch meine Tochter nebenan friedlich schlief und ich wohl kaum einfach gehen konnte, solange er hier war. Also kehrte ich um, lief wieder Richtung Wohnzimmer. Kurz fixierte ich die Vorhänge, dachte daran, sie aufzuziehen, damit die Nachbarn im Haus gegenüber Zeugen seiner Hobbies werden würden. Aber: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand um diese Uhrzeit nichts Besseres zu tun hatte, als in die Fenster der Wohnung des Nachbarn hinein zu sehen? Und wie hoch war die, dass es ihn dazu animierte, mir in der Situation hilfreich zur Seite zu stehen? Vielleicht würde man sich nur ne Tüte Chips zum Schauspiel dazu holen, statt die Polizei. Eigentlich war die Dunkelheit immer der beste Schutz vor seinen Übergriffen gewesen: Nachtblindheit.24 Andererseits könnten die Nachbarn bei Licht genau sehen, was abging.

 

Er unterbrach meinen Gedankengang :

<< Hast du Angst?... Na, komm her.. >>

Ich zuckte zusammen und verkrampfte mich. Den Gedanken, die Vorhänge aufzuziehen oder selbst die Polizei zu rufen, verwarf ich gleich wieder. Es würde im Endeffekt nur dazu führen, dass er noch wütender werden würde, sobald er es durchschaute. Das Risiko durfte ich nicht eingehen. Immer wieder hatte ich miterleben müssen, wie dieser Mensch vor lauter Wut Telefonkabel kurzerhand mit bloßen Händen auseinander riss. Mit hängendem Kopf sank ich auf die Knie. Er stand auf, kam auf mich zu. Die Vorstellung, dass ich Angst vor ihm haben könnte, schien er sehr zu genießen. Es freute ihn so sehr, dass er sogar davon ab ließ, mir erneut Verletzungen zuzufügen... Eine halbe Ewigkeit blieb ich dort sitzen, hörte sogar irgendwann damit auf, zu zittern.

 

Bald musste ich ins Kinderzimmer, pflegte dort mechanisch meine Kleine, fütterte und bettete sie wieder. In diesem Raum herrschte eine wohltuende Ruhe. Eine Zeit lang blieb ich dort im halb-Dunkeln vor der Heizung sitzen, genoss einfach dieses Gefühl, warm und geborgen zu sein. Irgendwann kam er, plötzlich lieb und besorgt:

<< Ach, hier bist Du! Ich hab mir schon Sorgen gemacht,... ja, wo bleibst denn Du denn so lange? >>

<< Geh bitte raus. Und mach das Licht aus, ja? >>

Trotzig blieb er in der Tür stehen.

<< Ich habe nicht die Absicht, das Zimmer wieder zu verlassen. >> klärte ich ihn auf.

<< Komm. >>

<< Nein. Geh raus. >>

Daraufhin ging er zum Kinderbettchen und schüttelte die Kleine, welche gerade erst eingeschlafen war. Müde hob ich den Kopf:

<< Lass sie schlafen. >>

<< Aber warum denn, ist doch gerade so nett! >>

<< Sie ist noch zu klein, um längere Perioden wach zu bleiben. Lass sie in Ruhe, sie muss schlafen. Bitte. >>

Sein Verhalten war nicht richtig.

Unschlüssig blieb er weitere fünf Minuten im nun hell erleuchteten Kinderzimmer stehen, wütend auf mich herabsehend. Ich stieß derweil still Stoßgebete aus: ob er jetzt ganz schnell verschwinden und verständnisvoll noch das Licht hinter sich löschen würde?

 

Das passte ihm alles nicht in den Kram. Sein Spielzeug (ich) ging ihm fremd, entzog sich seinem Zugriff? Also - so ging das ja nicht! Das war nicht nach seinen Regeln, und die legte ER fest. Wieder rüttelte er meine Kleine. Ich konnte es kaum glauben! Im ersten Augenblick verfiel ich in die panische Vorstellung, jetzt wolle er sogar ihr etwas antun! Hatte ich ihm denn nicht ausdrücklich gesagt, dass er sie in Ruhe schlafen lassen sollte? Scheiße! Da war wieder, diese irre Blick! Der den Spieltrieb zum Ausdruck brachte - der ihn zu jemanden werden lies, der andere Menschen bloß als Objekte wahrnehmen ließ - Dinge, mit denen es sich lohnte, amüsante Experimente anzustellen. Einer, der nichts Gutes verhieß. Würde er nicht einmal vor einem Neugeborenen, so winzigen kleinen und unschuldigen Wesen, einem gerade 14 Tage altem Kind, halt machen?

 

Nein. Das konnte nicht sein. Bestimmt ging meine Phantasie mit mir durch. Aber dass er sie absichtlich zu seinem Vergnügen wach hielt, konnte ich ihm nicht erlauben. Also sprang ich auf, nahm ihn beim Arm und verließ mit ihm gemeinsam, das Licht hinter mir löschend, den Raum.

 

1 (dachte er überhaupt jemals nach, unabhängig von der Tatsache, ob er gerade sprach oder nicht sprach? Das würde mich wirklich mal interessieren)

2 (sie hatte zunächst die Aussage in den Raum gestellt, ich sei auf die Geburt meines Kindes angeblich nicht vorbereitet. Vermutlich hatte sie sich dem Jugendamt, welches sie so übereifrig kontaktiert, gegenüber irgendeine Story aus den Fingern saugen müssen und deshalb zu Protokoll gegeben, in meiner Wohnung befände sich kein Kind-gerechtes Mobiliar. Meiner daraufhin erfolgten Einladung zwecks Besichtigung der bereits kindgerecht eingerichteten Wohnung folgte sie jedoch nicht)

3 (den Rettungsring schon auf halb Acht)

4 (wie z.B. als Gladiator/Kampfmaschine ausgebildet und dann in eine Arena geschickt zu werden, um dort einen plüschigen Streichelzoo vorzufinden: man würde vor lauter Misstrauen hinter jeder Ecke einen dort versteckten, gefährlich lauernden Feind imaginieren)

5 (zugegeben: Ich bin auch nicht so sehr der Kaffeekränzchen-Fan)

6 (und deren Rattenschwanz)

7 (metaphorisch gesprochen)

8 (das auch schon zu Anfang unserer Beziehung)

9 (wenn auch nur ansatzweise und ganz vorsichtig)

10 (dabei sogar recht spät)

11 (Warum gerade die!)

12 (wobei das offen halten ebensolcher mir schon die größten Schwierigkeiten bereitete)

13 (und das hätte ich gehabt)

14 (so, wie ich war: mit Klamotten und ohne die Zähne zu putzen)

15 (eigentlich hatten die, die ich mit ihr verbrachte, mittlerweile überhaupt keine Relevanz mehr für uns)

16 (1. sehr laut und 2. ziemlich nervtötend)

17 (was eine alte Frau, die kaum noch gehen kann und die diese Reise sehr angestrengt haben wird, maßlos beleidigt haben wird)

18 (trotz einer aufrichtigen Entschuldigung meinerseits)

19 (als nähme erst jetzt zur Kenntnis, dass ich real existierte)

20 (ich hatte wegen der Betreuungsangelegenheit eine Beschwerde eingelegt)

21 (es waren kaum zwei Wochen seit meiner Entlassung nach der Entbindung im KH vergangen)

22 (am nächsten Tag sah man noch sehr deutlich die langezogenen blauen Male, Spuren von diesem Werkzeug)

23 (die ihren Rasen mit Nagelschere und Zentimetermaß trimmten und übrigens auch ein Kind hatten, das ich oft Nachts lang-anhaltend greinen hörte)

24 (einer der Gründe, weshalb ich die Dunkelheit so liebe. Sie bedeutet Sicherheit)



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