XXVII.

Ich setzte mich in die Küche. Für eine längere Zeit saß ich wie bevorzugt im Stockdunklen, während er mich vom Wohnzimmer aus voll nörgelte, ich solle doch "endlich herkommen". Als Mia sich nach ein paar Stunden wieder meldete, ging ich erneut ins Kinderzimmer, legte sie an. Er schlug ohne Vorwarnung zu. Mein Genick knackte gefährlich, plötzlich tanzten Sterne, die Kleine schrie los wie am Spieß. Nun wurde ich wütend. Keiner schadete meinem Kind. Etwas miterleben zu müssen, dass ihr Angst machte, dachte der denn gar nicht nach? Machte er vor nichts halt? Die nun erfolgende Explosion bewog ihn, sehr schnell das Weite zu suchen. So etwas war er von mir nicht gewohnt. Normalerweise zeigte ich mich wehrlos und duldsam.

 

Endlich war er weg. Es dämmerte bereits. Mia beruhigte sich schnell und schlief bald friedlich. In meiner Verzweiflung rief ich den Psychologen an, mit dem ich inzwischen erfolgreich einen Kontakt hergestellt hatte, da mir klar geworden war: Ich brauchte Unterstützung. Seitens der Psychiater, der Polizei und des Jugendamtes war keine zu erhalten. Bislang war ich davon ausgegangen, meine Probleme alleine lösen zu können. Aber mittlerweile war ich mir da nicht mehr so sicher.

 

Ich hatte meine neue Unterstützung gezielt ausgewählt: er war als Sorgerechts-Gutachter vor Gericht tätig. Meine erste Maßnahme: ihm direkt offen und vertrauensvoll über alles Bericht zu erstatten. Davon, dass man mir gedroht hatte, mir mein Kind wegzunehmen. Er versuchte, mich zu beruhigen. Dass man plante, mir Mia wegzunehmen, konnte er sich gar nicht vorstellen. Sehr angetan davon, dass ich zu ihm in die Praxis gefunden und ihm gegenüber soviel Offenheit und Vertrauen an den Tag legte, hatte er mir zunächst nur diverse Test,- und Fragebögen mitgegeben und empfohlen, diese daheim sorgfältig durchzuarbeiten. Ich tat wie mir geheißen und schickte diese, fein säuberlich ausgefüllt wieder an ihn zurück. Alles im Normereich bis auf eine leichte Neigung zur Depression. Laut Test war mein überaus stark ausgeprägtes Sozialverhalten sehr auffallend. Meine Bereitschaft, anderen Menschen zu helfen und mich dafür einzusetzen, dass es allen gut ging, sprengte jede Skala - was ihn so sehr verwunderte, dass er es thematisierte. Das andere war mein Ehrgeiz, der zwar noch im Bereich des Erfassbaren, aber doch weit über dem Durchschnitt lag. Er hatte mich dazu aufgefordert, mir auch selbst wieder zu vertrauen:

<< Keiner kann Ihnen das Kind wegnehmen, glauben sie mir. >>

 

Warum ich in diesem Augenblick meinen Psychologen anrief? Ich war völlig fertig mit den Nerven, mein ganzer Körper mit blauen Flecken übersät. Höchstwahrscheinlich hatte ich auch wieder eine Gehirnerschütterung.1 Ich brauchte jetzt jemanden, der mir beistand. Jemanden, der mir Mut gab und wusste, was zu tun war. Ihm alles erzählend bat ich ihn, dabei unkontrolliert ins Telefon schluchzend, um Rat.

<< Bleiben Sie ganz ruhig >> sagte er.

Ich beruhigte mich sofort.

<< Sie gehen jetzt zu ihrem Gerichtstermin, machen dort eine detaillierte Aussage und setzen dem damit ein Ende. >>

Oje, ob ich das wirklich schaffen würde?

<< Glauben Sie, dass das eine so gute Idee ist? Wissen Sie, es geht mir sehr schlecht. Ich weiß gar nicht, ob ich das schaffe! >>

<< Sie schaffen das. >>

Ich hatte erhebliche Zweifel.

<< Na gut. Okay. >>

Er war der Chef.

<< Okay. Wir sehen uns dann, ja? >>

<< Ja. >>

 

Eigentlich wäre es klüger gewesen, für den Tag sämtliche Termine zu canceln, zum Arzt zu gehen oder zumindest einfach im Bett zu bleiben. Aber ich richte mich, was sich bis heute oft genug im Nachhinein als Fehler erweist, zu gerne nach dem, was andere mir raten. Seinetwegen fasste ich nun allen meinen Mut zusammen und wappnete mich innerlich dafür, seinen Worten so gut wie es mir eben in der Situation möglich sein würde, Folge zu leisten.

 

Auf dem Rücksitz des Autos meines neuen Verbündeten, eines Rechtsanwalts, fuhr ich mit zum Oberlandesgericht. Ich bat ihn, doch bitte am heutigen Tage für mich zu sprechen, ich sei in einer nicht allzu guten Verfassung. Dass ich eine Gehirnerschütterung hatte, die ganze Nacht über Prügel kassiert hatte, interessierte meinen Anwalt nicht.

<< Keine Angst. >> kam es vom Fahrersitz.

<< Machen Sie sich keine Sorgen. Ist das ihre erste Gerichtsverhandlung? >>

Glaubte er, ich litte bloß unter Lampenfieber?

<< Nein. Ist sie nicht. >>

Hatte der eine Ahnung. Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen, das Geschaukel während der Fahrt verursachte Übelkeit. Ich wollte mich mit ihm über einige wichtige Dinge unterhalten, konnte aber nicht sprechen, weil ich mit Brechreiz und Schwindelgefühlen zu kämpfen hatte.

 

Im Gerichtssaal angekommen, kam es mir fast so vor, als wäre man beim Psychiater. Keine Zeit! Keine Zeit! Ist ja gleich Mittagspause - Blick auf die Uhr - Abfertigungsmaschinerie, in der alles wie am Fließband lief. Es schien, als sei diese Anhörung nur eine Pflichtveranstaltung, die man aufgrund meines Antrages zwar abzuhalten hatte, bei der das Ergebnis aber schon vorher beschlossene Sache war. Jedes weitere Wort, von wem auch immer es gesprochen werden würde, war überflüssig. Man blickte immerzu demonstrativ auf die Uhr, abwechselnd genervt in meine Richtung, als fragte man sich, aus welchem Grund ich es mir heraus nähme, die so kostbare Zeit der hier Anwesenden werten Damen und Herren auf die Art und Weise zu verschwenden. Dieser war Termin Grund genug, sich davon belästigt zu fühlen.

 

Mein Anwalt setzte sich neben mich. Er sah sich interessiert um, zog ein Klemmbrett aus der Tasche, worauf er Namen und Datum notierte. Wie professionell, wie beruhigend. Ich atmete tief durch, versuchte, mich zu entspannen. Ich war nicht allein. Meine allerbeste Freundin, Miss KB, war auch schon vor Ort. Dieses Schauspiel wollte sie sich selbstverständlich auf keinen Fall entgehen lassen. Ob sie sich bereits vorher schon mit den Richtern zu einem Kaffeekränzchen Stell-dich-ein eingefunden hatte? Das würde passen. Ich saß neben meinem Anwalt und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. KB kam großspurig auf mich zu. Von diesem Event offenbar sichtlich belustigt, fragte sie mich:

<< Und? Na? Was machen wir denn heute hier? >>

Sie konnte sich scheinbar immer noch nicht erklären, was ich eigentlich gegen sie hatte.2

 

Ich hielt es nicht für nötig, ihr mit vielen Worten zu erklären, was "wir hier machten", zog bloß meine Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen hoch, um ihr meine vielen blauen Flecken zu zeigen. Sie sah sie, zog die Augenbrauen hoch und bekam Stielaugen. Gut, das sollte als Erklärung dann wohl reichen. Ich krempelte die Ärmel wieder herunter, setzte mich hin.

<< Deswegen sind wir hier >> sagte ich,

<< damit ich dem heute ein Ende setzen kann. >>

Selbstbewusstsein und Entschlossenheit pur. Sie nickte und erwiderte nichts mehr, trollte sich.

 

Die Richter eröffneten die Verhandlung mit der Frage,3 was ich denn nun mit meinem Besuch hier überhaupt zu erreichen gedachte. Eine Eröffnung, die ich unangemessen fand. Hilfesuchend sag ich zur Seite. Mein Anwalt blickte stur geradeaus, tat so, als gäbe es ihn gar nicht. Wieso bekam dieser Arsch jetzt seine Zähne nicht auseinander! Was für eine Schlaftablette. War er nur zum Datum notieren und herumsitzen her gekommen? Und dafür bekam der auch noch Geld?

 

Da hielt es mich nicht mehr auf meinem Platz. Jetzt war ich an der Reihe. Es war an nun an mir, ein Zeichen zu setzen, wie der Psychologe mir gesagt hatte, um diese Sache ein für alle mal zu beenden:

<< Ich bin heute hier, um eine Aussage zu machen >> begann ich theatralisch, mit tragender Stimme.

Genauso fühlte ich mich - wie auf einer wichtigen Mission, die ohne mein Zutun nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Es war nun meine Aufgabe, Ziele zu formulieren, Dinge gerade zu rücken, über Vergangenes aufzuklären. Damit die hohen Herren hier eine Ahnung davon bekamen, weshalb es überhaupt gar keinen Sinn machte, mich aufgrund einer frei erfundenen psychischen Erkrankung unter gesetzliche Vormundschaft zu stellen und damit die tatsächlich schädlichen gesellschaftlichen Elemente auch noch vollkommen ungestraft davon kommen zu lassen.

 

Sie schienen sich köstlich zu amüsieren, was mich sehr verunsicherte. Ich wurde fortwährend unterbrochen, man belächelte mich altklug. Diejenige, die anscheinend hier den Wortführer miemte, fragte, total vom Thema entfernt, nach irgendwelchen unwichtigen Sachen, nach meinem Wohnsitz etc. Dann drängte man mich, doch endlich zum Ende zu kommen. Um überhaupt sprechen zu dürfen, musste ich zunächst insistieren.

 

Nun berichtete ich, seit über einem Jahr Opfer von heftigsten Misshandlungen geworden zu sein. Formulierte außerdem wie geplant das Ziel, an dieser Situation unbedingt etwas ändern zu wollen. Daraufhin fragte man mich kichernd:

<< Und? Wie gedenken Sie das zu tun? >>

Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet gewesen. Warum richtete jemand, der Recht und Gesetz vertrat, demnach Fachmann dafür war, diese an mich? War es meine oder seine Aufgabe, für Ordnung zu sorgen?

<< Wie bitte? >>

Ich war überfordert. Hatte ich richtig gehört oder mir es nur eingebildet.

<< Ich fragte: Wie gedenken Sie es zu tun? >> sagte er erneut, dabei langsam sprechend, als habe er es mit einem besonders begriffsstutzigen Menschen zu tun.

Die Frage selbst erschien mir bereits so absurd, dass ich zunächst zögerte, sie überhaupt ernst zu nehmen.

<< Was meinen Sie damit? >>

<< Was wollen Sie tun? Sie haben gesagt, dass sie an ihrer Situation etwas ändern wollen. Was genau haben Sie vor, in diesem Fall zu unternehmen? >>

Ja, was tat man in solch einem Fall? Ich überlegte angestrengt. Vielleicht musste ich nochmal zur Polizei gehen? Und, was hatten die bislang für mich getan? Es herunter gespielt. Wie man einem Kind eine Tafel Schokolade in die Hand drückte, ihm sagte, das heilt schon wieder, geh weiter spielen. Das war keine Option. Eine gute Frage! Was wollte ich tun, um die Situation in den Griff zu bekommen? Das war alles sehr verwirrend.

<< Na, das können Sie ja dann zu Hause mit ihrer Betreuerin besprechen. Damit wären wir hier fertig. >>

Er sah in die Runde, alle packten ihre Sachen zusammen.

 

Was für ein Reinfall. Ich war über und über mit blauen Flecken übersäht. Trotzdem wurde ich mehr oder weniger offen dafür ausgelacht, dass ich mir eingebildet hatte, an den bestehenden Tatsachen Kraft meines Willens und aus eigenem Antrieb in meinem Leben etwas ändern zu können. Verschwenden Sie hier nicht weiter unsere Zeit, das war die Message. Ende, aus.

 

Zu allem Überfluss hatte Mia schon gleich zu Beginn der Anhörung plötzlich zu weinen begonnen, so dass, damit der Ablauf nicht gestört würde, KB sie aus dem Kinderwagen nahm, um mit ihr vor die Türe zu gehen. Das fand ich okay, schließlich war dieser Termin hier sehr wichtig. Sie würde dem Kindchen schon nichts zuleide tun. Was ich aber nicht wusste, war: Dort, auf dem stark unterkühlten Flur, war sie, nicht mehr unter ihrer dicken und wärmenden Daunendecke verborgen, derweil komplett ausgekühlt. KB hatte zwar einen winterlich-dicken Parka am Leib, kam aber scheinbar nicht auf die Idee, dass es für ein Kind im dünnen Strampler OHNE die dicke Decke des Kinderwagens, unter der sie vorher so schön warm verborgen gelegen hatte, möglicherweise zu kalt sein könnte. Nicht einmal ihr Jäckchen hatte sie ihr angezogen. Das lag noch unten im Kinderwagen. Na super. Gab es eigentlich an diesem Tag noch etwas, was schief laufen konnte?

 

Ich war wütend und total frustriert. Hilfe hatte ich von denen hier am allerwenigsten zu erwarten. Als ich aufgab,4 ging ich hinaus. Es zog erbärmlich hier auf dem Flur, mir selbst fröstelte, kaum, dass ich ihn betrat, direkt vor Kälte, und das sogar trotz meiner warmen Kleidung. Mein Gott, das arme Kind! Die holte sich hier noch den Tod! Wie lange standen die hier schon herum? Das mochten doch bestimmt an die zwanzig Minuten gewesen sein! Schnell steckte ich sie wieder ins warme Kinderwagen-Bett. Für das Verhalten von KB fand ich keine Worte.5

<< Haben sie die Kleine wenigstens mit unter ihre Jacke gesteckt? >>

<< Nein? >>

Aufgebracht schüttelte ich den Kopf.

<< Was denn? >> setzte sie zu einer Unschuldsgeste an.

Angestrengt verkniff ich mir jedes weitere Kommentar. Es hatte keinen Sinn, mit Erbsenhirn Kommunikation zu pflegen.

 

Auf dem Weg zum zum Parkhaus unterhielten sich mein Anwalt und KB, hinter denen ich in einigen Metern Abstand folgte, angeregt. Der konnte ja auf einmal wieder sprechen! Irgendetwas schien furchtbar witzig zu sein. Sie hatten gute Laune, gingen unbeschwert nebeneinander her und miteinander um. Fehlte nur noch, dass sie dabei Händchen hielten. Sie plauderten vermutlich gerade über das schöne Wetter. In einigem Abstand hinter den beiden her trottelnd folgte ich mit hängenden Schultern. Außer seinem Namen und der Tatsache, dass er mich vor Gericht vertrete, hatte mein Rechtsbeistand während der ganzen Verhandlung nicht ein einziges Wort gesagt. Und so gab es am Ende des Tunnels immer noch kein Licht.

1 (so fühlte ich mich jedenfalls, ich war total zermatscht, Krankenhaus-reif)

2 (Kackbratzen haben vermutlich nicht einmal Spatzenhirne. Es sollte als Behinderung anerkannt werden, so zu sein. Wobei eher die Umgebung von Ihnen behindert wird. Fremd-Beeinträchtungs- GdB, das wird klompiziert)

3 (unüberhörbar sehr von oben herab)

4 (Vertreter des deutschen Gesetztes von Recht und Gerechtigkeit überzeugen zu wollen)

5 (auf jeden Fall keine netten)



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