Da das Kinderkrankenhaus recht weit entfernt lag, war ich leider nicht mehr in der Lage, rund um die Uhr bei Mia sein. Das Gästezimmer für ihre Kinder begleitende Eltern konnte ich mir nicht leisten und neben ihr auf dem Fußboden zu schlafen wurde nicht gestattet. Immer jemanden finden, der mich chauffierte, war gar nicht so leicht. Ich fuhr zu ihr, so oft ich konnte und blieb so lange wie möglich. Ihre Energie wurde dunkel.1 Was tat man ihr an! So lange Zeiträume räumlich von mir getrennt zu sein, schadete ihr, wie ich deutlich wahrnahm, mehr als alles andere. Warum war Mia im Krankenhaus? Wegen eines Schnupfens? Das war doch kein Grund für einen stationären Aufenthalt! Das Krankenhauspersonal sah das offenbar genauso.
Als ich dort ankam, saß die Kleine2 bloß mit einem dünnen Hemdchen bekleidet vor dem weit geöffneten Fenster im Zug der eiskalten Winterluft. Was sollte das denn? Waren die dumm??? Mit einem Patienten, der aufgrund einer einer Erkältung eingeliefert worden war, sprang man doch so nicht um!3 Später stand ihr Bettchen sogar4 eine Zeit lang auf dem Flur. Damit befand es sich im permanenten Durchzug. Mir wurde klar: Man machte sich überhaupt keine Sorgen um den Gesundheitszustand meines Kindes. Im Gegenteil.
Weil sich erwartungsgemäß ihre Erkältung daraufhin deutlich verschlimmerte, kamen jetzt dauerhaftes Nasenbluten und ein heftiger Husten dazu. Niemand wusste, wie man das Kind aufgrund seiner Flaschenmilch-Unverträglichkeit überhaupt noch ernähren sollte. Man verabreichte ihr nur noch ausschließlich Tee und Heilnahrung5, weshalb sie völlig ausgehungert war und ununterbrochen schrie, bis sie irgendwann vor Erschöpfung einschlief. Es zerbrach mir das Herz. Meine Brust gab mittlerweile kaum noch einen Tropfen her. Ich redete mit den Angestellten, ob man ihr denn keine normale Säuglingsmilch geben könne, sie habe doch schließlich Hunger? Diese aber hielten sich stur an ihre Anweisungen: Da sie sie nicht vertrug, sollte sie keine Säuglingsmilch mehr bekommen. Ich durfte ihr auch keine geben. Was für ein Irrsinn! Sollte mein Kind etwa verhungern? Mit jedem zusätzlichen Tag im Krankenhaus wirkte Mia schwächer. Was sollte ich bloß tun!
Irgendwann war ich soweit, traf die Entscheidung, sie dort herauszuholen. Das ging nicht so weiter. Kurz bevor ich mich auf den Weg machen wollte, rief ich im Kinderkrankenhaus an. Auch unter anderem, um meine Entscheidung darüber bekannt zu geben, meine Tochter wieder zu mir nach Hause zu holen.
<< Um welches Kind handelt es sich bitte? Sagen Sie mir noch einmal den Namen? >>
Ich gab den Namen bekannt.
<< Mia? Wir haben hier keine Mia. >>
<< Das kann aber nicht sein. Sie täuschen sich. Meine Tochter war in den letzten zwei Wochen stationär bei Ihnen, wenn auch meines Erachtens kein Grund dafür zu bestehen schien. Sie haben da bestimmt was übersehen. Schauen Sie bitte noch einmal nach. >>
<< Nein. Keine Mia. >>
<< Das kann nicht sein. >>
<< Doch, so ist es. >>
<< Aber ich habe sie doch gestern noch besucht! >>
<< Warten Sie. >>
Da wurde mir die Auskunft erteilt, dass sie entlassen worden, nicht mehr da sei. Das Hospital dürfe mir angeblich keine Auskunft darüber geben, wo sie sei.
Auf die Art erfuhr ich, dass das Gutachten fertig war und bereits vor Gericht vorlag, welches wiederum ohne mein Wissen die Entscheidung getroffen hatte, mir das Sorgerecht zu entziehen und dem Jugendamt zu übertragen. Die hatten nicht lange gefackelt und das Kind6 in einem Kinderheim untergebracht. Wow. Auf die Idee, mich darüber zu informieren, war keiner gekommen. Das musste ich erst einmal verdauen. Zorn ergriff mich, wurde übermächtig. Ich lag erst mal zehn oder zwanzig Minuten lang heftig schnaufend auf dem Rücken. Ja, waren die denn total bescheuert?7
Was hatte Pokerface behauptet? Ich solle mit meiner Tochter in eine Anstalt für psychisch Kranke gehen? Ok. Kein Problem, das würde ich, ganz klar. Hatte daran denn irgendjemand irgendwelche Zweifel gehabt? Darüber hatte ich doch mit Miss Tusnelda gesprochen! Diese mir daraufhin versichert, dass alles "in Ordnung kommen" würde. Das verstand man also darunter? Unfassbar.
Meine Tochter im Kinderheim? Zeit für einen sofortigen Umzug in eines dieser Wohnheime. Ich rief meine beste Freundin KB an. Sie bedauerte jedoch, mich darüber informieren zu müssen, dass in dem einen der beiden Heime derzeit kein Platz für uns wäre und das andere noch gar nicht eröffnet. Bis es so weit sei, müsse mein Kind im Kinderheim verbleiben. Ich dürfe Mia alle zwei Tage für zwei Stunden besuchen. Vor meinem inneren Auge sah ich sie gleichgültig mit den Schultern zucken. Ultimativ sofort fing ich wieder an zu schnaufen. Gleich würde ich erneut hilflos wie ein Käfer, der nicht mehr aufstehen kann, auf dem Rücken liegen. Und ich hatte gedacht, es könne nicht mehr schlimmer kommen.
Bald fielen mir Dr. Zweigs ernst gemeinte Worte:
<< Wenn Sie einmal wirklich Hilfe brauchten, dann rufen Sie mich an. >> wieder ein.
Ich wählte die Nummer der Irrenanstalt, ließ mich mit dem Chef verbinden.
<< Lieber Herr Dr. Zweig. Hallo. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Ich war eigentlich nur zwei Mal bei Ihnen, das Ganze ist nun auch schon eine ganze Weile her, daher weiß ich gar nicht, ob Sie sich noch an mir erinnern. >>
<< Doch, ich weiß, wer Sie sind. Ich kann mich noch gut an Sie erinnern >> sagte er freundlich.
<< Oh, wie schön. Erinnern Sie sich auch noch daran, was Sie damals zu mir gesagt haben? >>
<< Nicht mehr genau, helfen Sie mir. >>
<< Sie haben zu mir gesagt, dass ich, falls ich wirklich mal Hilfe brauchte, mich bei Ihnen melden solle. Das ist jetzt der Fall. Ich brauche wirklich ihre Hilfe. >>
<< Haha! Ok. Na, also: wo drückt der Schuh. Erzählen Sie. >>
Auf der Stelle hielt er sein Versprechen. Zuerst äußerte er zwar Bedenken: Man sei in seiner Klinik auf solche Fälle (Mutter mit Kind) nicht eingerichtet. Aber als ich dann anfing, ihn auf Knien anzuflehen, sagte er:
<< Na, ich werde mal sehen, was ich tun kann. >>
Dann sorgte er dafür, dass auf einer Station in seiner Klinik ein Zimmer für uns eingerichtet wurde. Damit avancierte er zum absoluten Held des Tages. Dass ich mich einmal freiwillig selbst in die Psychiatrie begeben würde... Aber für mein Kind war ich zu allem bereit. Nun brauchte ich diese frohe Botschaft nur noch dem Jugendamt mitzuteilen und alles wäre gut. Dann verbrachte ich eben ein paar Tage in der Psychiatrie, na und? Scheiß drauf! Diese Vorstellung jagte mir zwar Angst ein, aber eines wusste ich nur zu genau: Auf Dr. Zweig konnte ich vertrauen. Er würde behütend sein Hände über uns halten. Wir konnten so lange bei ihm bleiben, bis dieser Platz im Wohnheim zur Verfügung stehen und wir dahin umziehen können würden. Da wir bei ihm unter professioneller Aufsicht stehen würden, sprach nichts gegen diesen Plan.
Nun kontaktierte ich Mr. Amputiert, unseren hiesigen Jugendamtsleiter. Sofort machte er mir einen Strich durch die Rechnung: Diese Angelegenheit müsse zunächst bürokratisch kompliziert mit dem Kollegen aus Osnabrück besprochen werden. Er sei nun gar nicht mehr zuständig, habe aus diesem Grunde auch keine Entscheidungsbefugnisse. Um die Angelegenheit zu klären, wurde ein Gesprächstermin mit Kollege Saubermann vom Jugendamt Osnabrück ausgemacht, auf den ich vor Ort im Kinderheim treffen sollte. So schnell und resolut Dr. Zweig auch reagiert hatte - leider mussten wir uns nun gedulden. Vier lange Tage. Es war Freitag, kurz vor Feierabend. Auch der Montag sei noch zu kurzfristig, aber am Dienstag habe Herr Saubermann Zeit für mich.
Mia war immer noch sehr krank. Sie aß nicht richtig, erbrach sich und spuckte einen Großteil der Flaschennahrung nach dem Essen wieder aus.8 Es wurde Zeit, dass Mia und ich endlich wieder zusammen wären. Endlich kam es auch zu dem Termin mit Herrn Saubermann. Selbstbewusst und freundlich bot er mir die Hand zu Gruß. Ich erzählte ihm von dem genialen Hilfsangebot von Dr. Zweig, bei welchem wir so lange bleiben dürften, bis der Platz im Wohnheim zur Verfügung stehe.
<< Das geht nicht. >> behauptete nun Herr Saubermann.
<< Äh? Warum... >>
<< Es sollten nicht ständig die Bezugspersonen von dem Kind wechseln. >>
... Das sollte jetzt wirklich seine Begründung dafür sein, warum das angeblich "nicht gehen" sollte? Lieber Gott, lass Gehirn regnen!
<< Sehr geehrter Herr Saubermann. Sie haben ja Recht! Genau deswegen sollte das Kind ja auch bei mir sein, und nicht hier, wo alle paar Stunden das Personal wechselt. >> formulierte ich nun siegesgewiss.
Er hatte ja Recht! Die Kleine hatte schon genug gelitten, die zwei Wochen Krankenhaus waren auch nicht spurlos an ihr vorüber gegangen.
<< Ich habe das jetzt so entschieden und dabei bleibt es. >>
Was? Hatte er mir nicht zugehört?
<< Aber... >> setzte ich zum Widerspruch an.
<< Da können Sie jetzt soviel gegen anreden, wie sie wollen. Wissen Sie, wir haben das schriftlich, und in diesem Dokument stehen klare Anweisungen, wie wir mit jemanden wie Ihnen umzugehen haben. Es ist egal, was Sie uns alles erzählen wollen. Wir brauchen Sie nicht ernst zu nehmen >> grinste er.
Mir klappte der Unterkiefer herunter. Das war nicht real.
<< Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch andere Dinge zu tun. >>
Damit streckte er mir lächelnd die Hand hin. Ich schnappte erst mal nur noch nach Luft, hatte große Mühe, ihm nicht jetzt sofort und auf der Stelle für das, was er gesagt hatte, die Fresse zu polieren. Als ich wieder in der Lage war, zu sprechen, fragte ich ihn:
<< Haben Sie eigentlich mitbekommen, was für einen Mist Sie da eben erzählt haben? >>
<< Wir verstehen Sie doch. Sie können nichts dafür. Wir verstehen Sie ja >> begann er unergründlich, esoterisch-abgehobene Scheiße zu labern.
Ob er es wohl auch "verstehen" würde, wenn ich ihn jetzt umbrachte? Wahrscheinlich eher nicht. Auf der Stelle verließ ich den Raum. Hier gab es nichts weiter für mich zu tun. Wo war meine Kleine. Wir hatten bloß zwei Stunden, und die wollte ich nicht mit diesem Idioten vertrödeln. Das war es nicht wert. Der sollte zusehen, dass er Land gewann und mir, wenn ihm sein Leben lieb war, nie wieder unter die Augen treten.
Alle zwei Tage für zwei Stunden. Als ich fragte, ob ich mein Kindlein denn nicht auch öfter würde besuchen können, wurde mir die Auskunft erteilt, dass dies so und nicht anders vorgeschrieben worden sei. Die Dienst habende Person zeigte mir sogar einen Zettel, auf dem stand, dass ich gewalttätig und gefährlich sei. Man dürfe mich nicht einmal mit meinem Kind alleine lassen, da ich diesem sonst etwas antun würde. Was für Beleidigungen wollten die sich denn noch alle ausdenken!
Und ich hatte gedacht, schlimmer könne es nicht mehr werden.
Mia wurde immer kränker. Ihr Husten war irgendwann so schlimm, dass ich mir ernsthaft Sorgen um sie machen musste. Sie hustete ununterbrochen, teilweise mit blutigem Auswurf. Litt sie vielleicht unter einer Lungenentzündung? Scheinbar war ich die Einzige, die sich um sie Sorgen machte. Auf meine Äußerung hin, warum denn mit ihr nicht zum Kinderarzt gegangen wurde, kam ein beiläufiges und sehr desinteressiertes:
<< Das ist nicht nötig. >>
Das sah ich aber anders. Jetzt schien ein Krankenhaus Aufenthalt tatsächlich langsam erforderlich. Mia konnte kaum noch Luft holen. Und: Sie wollte nichts mehr essen. Das bisschen, was sie herunter schluckte, spuckte sie direkt wieder aus. Um so länger sie hier war, um so mehr glich Mia einem Zombie. Sie war plötzlich vollkommen apathisch. Von ihren bei der Geburt ursprünglichen propperen vier Kilo Körpergewicht war nichts mehr übrig. Dabei hatte sie bei mir sogar erst mal richtig gut zugelegt und sich auf fünf Kilogramm Körpergewicht gesteigert. Bei uns hatte es auch keine Nahrungsmittelunverträglichkeit und kein Erbrechen gegeben. Was sollte ich tun? Ich war vollkommen hilflos. Ausrasten durfte ich nicht, sonst sperrten die mich ein für alle Mal weg, das wusste ich nur zu genau. Dann würde ich mein Kind nie wieder sehen.
Auch ich konnte nicht mehr essen. Als KB mich zwischendurch besuchte, um nach dem Rechten zu sehen, schimpfte sie mit mir. Ich sah wahrscheinlich mal wieder aus wie der lebende Tod. Wie immer, wenn ich zu viel Stress hatte, brachte ich nichts mehr herunter. Sie war doch Schuld an dem Ganzen! Die sollte sich verpissen! Ich floh ihre Gesellschaft. Als sie mir einen ihrer Besuche abstatten wollte, tat ich so, als müsse ich dringend weg, ging ich raus vor die Türe und wandte mich gen Fahrrandschuppen, um auf dem Rad vor ihr zu flüchten. In Wirklichkeit hatte ich nirgendwo einen wichtigen Termin. Ihre Anwesenheit war unerträglich.
Sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt, dabei unentwegt irgendeine gutmütige Scheiße vor sich hin labernd. Ich wurde immer aggressiver. Sie war so dumm! Konnte die nicht einfach weg bleiben? Warum merkte sie nicht, wie unerwünscht sie war! Wollte sie mir etwa auch noch in den Fahrradschuppen folgen? Was wollte sie denn dort? Mir etwa dabei dabei zusehen, wie ich ein Fahrradschloss aufschloss?
BLEIB WEG!
Dachte ich. Hörte ihr Schritte.
BLEIB WEG! SCHEISS KUH!
Dachte ich.
Wenn du es jetzt tatsächlich wagen solltest, dich hinter mir in den Fahrradschuppen zu zwängen,... wenn du die TÜRSCHWELLE auch nur betreten solltest,
DANN GESCHIEHT EIN UNGLÜCK.
Ihre Schritte näherten sich.
O nein. Sie kam wirklich.
Sie folgte mir tatsächlich in den Schuppen! Wollte mir beim Fahrradschloss aufschließen zugucken! In mir zog sich die rauchende Wolke des Zorns zu einem vernichtenden Schlag zusammen. Ich lauschte ihren Schritten. Sie näherten sich. Kaum war sie an der Türschwelle, hörte ich das Kreischen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht drehte ich mich zu ihr um und konnte sie dabei beobachten, wie sie einen sehr rekordverdächtigen, drei-Meter-Satz rückwarts machte, auf einmal kreidebleich im Gesicht. Neugierig geworden sah mir nun die Türschwelle etwas genauer an. Genau in der Mitte saß ein absolutes Prachtstück: ein Riesenexemplar einer Spinne. Diese hatte dort einen Moment zuvor noch nicht gesessen. Du kommst hier nicht rein - hatte ich gesagt. Interessant. Bald besaß ich ein neues Haustier. Eine fette, haarige, schwarze Vogelspinne.
Als weitere zwei Wochen später endlich ein Platz im Kölner Wohnheim zur Verfügung stehen sollte, war Mia bereits auf die Hälfte ihres Körpergewichts abgemagert. Ich selbst hatte die physische Grenze zur Anorexie ebenso erstmalig in meinem Leben unterschritten. Egal! Die Hauptsache war, dass wir wieder zusammen sein würden. Mia würde gewiss gesund werden - wenn ich bei ihr war. Wenn diese Idioten sich nicht so hirnamputiert aufgeführt hätten, wäre sie niemals so krank geworden. War ich da, würde es ihr bald wieder gut gehen.
In dem ansonsten noch jungfräulich leeren, unbewohnten Heim sollten wir die ersten beiden Bewohner sein. Deshalb fiel die Begrüßung sehr feierlich aus, was mir etwas unangenehm war. Sprüche, dass man hier "gut für uns sorgen" wollte, kamen mir allein schon deswegen unangemessen vor, da ich gar nicht erst zu bleiben vor hatte. Der Aufenthalt stellte eine provisorische Übergangslösung für mich dar. Er würde genau so lange andauern, wie ich dazu brauchte, alle Widrigkeiten, die gegen mein selbstständiges Leben standen, in den Griff zu bekommen. Das behielt ich wohlweislich erst einmal für mich. Schließlich wollte ich denen ihren Spaß, ihre ganze feierliche Ergriffenheit der Heimeröffnung mit mir als ihrem allerersten Bewohner nicht verderben, in dem ich mich garstig und undankbar verhielt. Weder für mich, noch für das Heimpersonal, die sich auf ehrliche und anständige Weise über ihr neu ins Leben gerufenes Projekt freuten, sollte sich unser vorübergehender Aufenthalt als Fehlstart erweisen. Aber ich rechnete fest damit, dass er nicht von allzu großer Dauer sein würde. Dafür würde ich schon sorgen, dachte ich grimmig.
Erst einmal war es gut, dass wir übergangsweise hier sein durften, damit Mia und ich uns in der relativen Sicherheit der Entfernung zum Kindesvater erholen konnten. Dafür war ich tatsächlich extrem dankbar. So war es dann auch. Kurze Zeit später waren sowohl der Husten abgeklungen, als auch ihr und mein Gewicht wieder auf dem alten Stand. Soweit, so gut.
Unsere neue Behausung bestand aus jeder Menge Appartements mit jeweils zwei kleinen Zimmern. Auf der Diele war eine Küchenzeile eingelassen und jedes Wohnabteil verfügte über ein eigenes Bad. Außerdem gab es mehrere Gemeinschaftsräume: ein modern eingerichtetes Wohnzimmer mit Sofa, Sitzecke und einem großen Fernseher, einer großen Küche plus dem gemeinsamen Esszimmer. Dann war da noch das Personalbüro mit einem kleinem Schlafzimmer für die Nachtwache. Um einer ganzen Menge schlechten Müttern ein gutes Zuhause bieten zu können, waren zwei gleich gestaltete Stockwerke eingerichtet worden.
Zu den Regeln des Heimes gehörte, dass man sich während des gesamten Aufenthalts in psychiatrischer Behandlung befinden sollte. Was bedeutete, zu einem der verhassten Weißkittel Kontakt aufnehmen zu müssen. Zu jemandem, der bereit war, mich für psychisch krank zu erklären um mich im Anschluss daran mit Medikamenten vollzustopfen. Das waren keine guten Voraussetzungen. Ich sollte mich also wieder in Feindesland begeben.
Den ersten Psychiater, den ich aufsuchte, klärte ich darüber auf, dass ich mich gern "in Behandlung" begeben würde, da das aufgrund der Situation, in der ich mich befand, erforderlich sei. Was für eine das war, wollte er gar nicht erst wissen.
<< Aha. Gut gut. Nehmen sie denn zur Zeit irgendwelche Medikamente ein? >>
<< Nein. Ich vertrage Psychopharmaka nicht gut. Mit rein pflanzlichen Medikamenten habe ich bessere Erfahrungen gemacht. Johanniskraut zum Beispiel. >>
<< Ach was, das ist doch nur ein Placebo. Ich verschreibe Ihnen etwas Ordentliches, was halten Sie davon? Und dann machen wir noch einen Termin. Wenn Sie wiederkommen, können wir besprechen, wie es weiter geht. >>
Schockiertes Schweigen meinerseits.
<< Das muss ich mir noch einmal überlegen >> behauptete ich.
Auch wenn es da nichts zu überlegen gab. Nein Danke?
Ich suchte eine weitere psychiatrische Praxis auf. Diesmal war die behandelnde Ärztin weiblich. Sie lies mich nicht, so wie der Arzt zuvor, auf der anderen Seite eines wuchtigen Schreibtisches Platz nehmen, um mich dann, ohne mich auch nur anzusehen, mit einem Rezept für oral einzunehmende Chemikalien nach Hause zu schicken, sondern hatte in ihrem Behandlungsraum einen kleinen Wohnzimmertisch mit zwei Stühlchen stehen. Ich betrachtete das Arrangement verwirrt. Bis mir deren Zweck aufging dauerte es etwas. Dieses Tischchen war einfach nur dazu gedacht, sich gemeinsam daran sitzend - zu unterhalten! So konnte man sich auf einer gefühlten Augenhöhe begegnen. Wie unangenehm! Aber immerhin ein Versuch, die Patienten mit in ihre "Behandlung" einzubeziehen. Ich beschloss, dies trotz meiner Ängste vor zuviel Nähe einfach postitiv zu betachen, und fing an zu berichten:
<< Ich bin mit meiner Tochter in einem Wohnheim für psychisch kranke Mütter untergebracht. Zu den Regeln dieses Heimes gehört es, sich während der Dauer des Aufenthaltes in psychiatrischer Behandlung zu befinden.>>
Sie wirkte etwas irritiert:
<< Dabei kann ich ihnen nicht helfen, so etwas machen wir hier nicht >> äußerte sie sich ablehnend.
<< Aber wieso denn nicht? >>
Ich sah mich um. War ich denn nicht in einer psychiatrischen Praxis? Hatte ich mich tatsächlich so sehr geirrt? Das konnte doch nicht sein! Nein, da musste ein Missverständnis vorliegen.
<< Ich behandele hier Menschen, die ein Problem mit ihrer psychischen Verfassung haben. Sie haben keine psychischen Probleme. In diesem Fall kann ich Ihnen keine Hilfe und auch keine Behandlung anbieten. Also: was wollen Sie von mir? >>
In einem demonstrativ-unschuldigen Schulterzucken reckte sie mir ihre Arme entgegen.
<< Okay... >> sagte ich, um überhaupt irgendetwas zu sagen, da mich die Situation vollkommen überforderte.
Dass ich nicht psychisch krank war, war mir ja bekannt! Wie schade, ich konnte ihr nicht einmal widersprechen.
<< Was machen Sie überhaupt in so einem Wohnheim? Da gehören Sie doch gar nicht hin! Suchen Sie sich eine eigene Wohnung. Das sollte doch wohl machbar sein >> kam es jetzt mütterlich-fürsorglich von ihr.
<< Nun... >> finge ich an zu überlegen.
Sie hatte ja schon irgendwie Recht. Aber: wie sollte ich das anstellen. Eine Wohnung zu finden wäre hierbei noch die kleinste aller Schwierigkeiten. Für die Psychiaterin schien das aber das das Hauptproblem darzustellen. Sie redete auf mich ein, gab mir Tipps, riet mir, Zeitungsannoncen zu lesen. Ich unterbrach sie.
<< Stop! Eine Wohnung zu finden ist nichts, wobei ich Unterstützung benötigen würde. >>
<< Ach ja? Ok.. ? Na dann... >> entgegnete sie nun verwundert.
Ihr fehlte der Zusammenhang. Sie glaubte wahrscheinlich, der Grund für meinen Aufenthalt in dem Wohnheim wäre eine Obdachlosigkeit.
Ich kam zu einem Schluss:
<< Ich werde das zunächst mit der Heimleitung besprechen. Dann werden wir weiter sehen. Zur Not komme ich einfach wieder zu ihnen in die Praxis. Ok? Gut. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Auf Wiedersehen. >>
Damit war sie zufrieden.
<< Gut, einverstanden. So machen wir es. >>
Zum Abschied schüttelten wir uns freundlich die Hand.
Als ich wieder im Heim war, teilte ich dem anwesenden Betreuungspersonal mit, was passiert war.
<< Die möchte mich gar nicht behandeln! Sie hält mich für gesund!>>
<< Ja, dann können Sie aber auch nicht hier bleiben. >>
<< Haeh? Aber wieso denn nicht? >>
Ich war doch gerade erst hier angekommen!
<< Da der Heimaufenthalt eine psychiatrische Behandlung impliziert. So sind die Regeln! Wenn Sie gesund sind, dürfen Sie nicht hier bleiben. >>
Welch eine chaotische Situation. Was sollte ich denn nun machen?
Ich kam auf die einzige Idee, die sinnvoll erschien und rief das Jugendamt an, um Herrn Hirnamputiert zu erlklären, wie die Situation vor Ort sich gestaltete. Ich durfte nicht im Wohnheim wohnen. Die Psychiaterin wollte mich nicht behandeln.
<< Wenn Sie das Heim verlassen, nehmen wir Ihnen das Kind weg. >>
Ich atmete tief durch.
Nein, ich durfte nicht Amok laufen.
Tief durchatmen.
1 (Gefühle niederfreqenter Natur sind wie Schatten)
2 (so, als sei sie komplett gesund)
3 (selbst mit einem gesunden Neugeborenen sollte nicht so ungegangen werden)
4 (angeblich "aus Platzgründen")
5 (enthalten keine Nährstoffe)
6 (auch wieder, ohne mich darüber zu informieren)
7 (wenn ich so heftige Wut unterdrücken muss, bekomme ich Migräne, wie ich bei der Gelegenheit herausgefunden habe. Eine, die dann nicht bloß ein paar Stunden, sondern gleich Tage, manchmal sogar Wochen anhält. Mit Sehstörungen und allem Drum und Dran. Genau so eine bekam ich jetzt)
8 (mir ging es ganz ähnlich: Auch ich brachte in der letzten Zeit auch nichts mehr herunter. Mir war vor lauter Aufregung und Stress dauernd schlecht)