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Am nächsten Morgen kam Stony angedackelt, gerade als ich in der Küche stand, um etwas zu Essen zuzubereiten. Überraschend umarmte sie mich und dankte mir überschwänglich für das, was ich für sie getan hatte. Etwas irritiert fragte ich sie, wovon sie spräche.

<< Das hat so gut getan, endlich einmal etwas Dampf abzulassen. >>

<< Achso. Ja, gern geschehen. Bitte schön. >>

Ab sofort wollte Stone gern mein bester Freund sein. Ständig kam sie an, wollte sich mit mir unterhalten, dabei sogar ausgesucht nett. Ich hatte kein Interesse, verhielt mich zurückhaltend wie immer.

 

Auch Riesenauge Kreuzfeld Jakob erkor mich zu ihrem persönlichen Punshing Ball. Als wir am zweit Tage später am Nachmittag den Einkaufszettel diskutierten, bestand sie darauf, dass wir ganz ganz unbedingt Ananas in Dosen kaufen sollten. Aufgrund meines Gedächtnisses wusste ich sehr genau, dass und an welcher Stelle im Küchenschrank sich mehrere Ananas in Dosen unterschiedlichster Marke befanden.

<< Sollten wir nicht nur Dinge einkaufen, von welchen wir nichts mehr da haben? Und wenn noch etwas vorhanden ist, dies erst einmal aufbrauchen? >>

<< Wir kaufen Ananas. Los, schreib Ananas auf. >>

<< Aber warum denn? Der Küchenschrank ist voll mit Dosenananas. Noch mehr brauchen wir jetzt gerade doch gar nicht. >>

Sie spielte sich auf.

<< Erzähl keine Scheiße. Du hast doch keine Ahnung. Außerdem: was soll das eigentlich? Deine Besserwisser und Bevormunderei geht mir total auf den Wecker. >>

<< Das ist ja gut und schön. Aber auch, wenn du jetzt meinst, dich deswegen nun mit mir anlegen zu müssen... >>

Wenn ihr danach war - sollte sie. Das war ja nicht mein Problem.

<< ... Ananas brauchen wir, davon unabhängig, trotzdem nicht. Es ist genug da. Die braucht also nicht mit auf den Einkaufzettel. >>

Sie fing an zu schreien. Ich blieb ruhig, wartete, bis ihr die Luft ausging.

<< Hast du denn, bevor du hier so einen Aufstand deswegen anzettelst, wenigstens einmal in den Schrank hinein gesehen? >>

<< JA!! >> schrie sie, während sie kämpferisch den Kugelschreiber umklammert hielt, den ich zunächst verwendet hatte, um die Ananas wieder durchzustreichen.

<< Und? >> fragte ich sie.

<< Da. Ist. Keine... ANANAS!!! >> Brüll.

<< Bist du sicher? >>

<< JAA! >>

Gleich würde ein Mord geschehen.

<< Dann hast du nicht richtig geguckt. >>

Nun konnte sie sich nicht mehr richtig artikulieren, kreischte speichelspuckend, mit den Finger auf mich deutend. Anklagend jaspte sie:

<< Sehen Sie? Das meine ich! Immer muss sie provozieren, immer muss sie Recht haben und über alles bestimmen. Ich HASSE sie! Ich hasse sie so sehr!!! >>

Gleich würde sie heulen. Ich musste handeln.

<< Okay >> sagte ich und ging in die Küche, zog den Schrank auf.

<< Komm mal her. >>

Ich wusste genau, wo die Ananasdosen standen. Sie kam. Ich zeigte darauf.

<< Was ist das. >> fragte ich.

<< Was. >> fragte sie aggressiv.

<< Schau hin. >>

Sie wollte nicht.

<< Was ist das. >> fragte ich.

<< Ananas? >> quiekte sie leise.

Wie immer hatte ich alle Haushaltswaren und ihre Mengen ganz genau im Kopf.

 

Aber statt sich zu beruhigen und vielleicht sogar bei mir zu entschuldigen, rastete sie ein paar Minuten später völlig aus und fing an, schreiend mit Möbelstücken nach mir zu werfen. Ich stand ungerührt im Raum und sah ihr dabei zu. Es wirkte ein wenig unbeholfen. Nun würde es auch ihr bald besser gehen. Sie schrie:

<< Immer musst du dich als Chef aufspielen! Dauernd musst du alle rum kommendieren und schikanieren! >>

Bei ihr dauerte es keine 20 Minuten, bis sie bei mir ankam und sich bedankte. Ebenso wie Stone hatte ihr Wutanfall sie richtig glücklich gemacht. Und ebenso wie diese begegnete mir Kreutzfeld Jakob hinterher nur noch mit einem ausgesuchten Respekt. Selbst ihre Tochter stieg nicht mehr bei mir in die Bude ein.

 

Als eine weitere Bewohnerin bei uns einzog, wurde es noch schlimmer. Ihr passte nicht, dass ich scheinbar, ohne mir dessen bewusst zu tun und ohne es zu wollen tatsächlich diejenige war, die dort das Sagen hatte. Und das, obwohl ich nur sehr selten mein Appartment verlies und so gut wie nie mit jemandem sprach. Nein, nicht die Erzieher wurden um Rat gefragt, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Sondern ich. Die anderen wussten das und liebten mich dafür. Zunächst versuchte sie wochenlang, alle gegen mich aufzuhetzen, gab sich dabei richtig viel Mühe. Es klappte nicht so recht, woraufhin sie sich im nächsten Schritt ebenso erfolglos bemühte, mich kennen zu lernen.

 

Einmal lud sie mich sogar zum Abend hin mit in ihr Appartement ein. Als ich eintrat, lag sie in sehr eindeutiger Position mit einer Art Reizwäsche bekleidet auf ihrem Bett. Ich lachte und sagte, dass es sich wohl um ein Missverständnis handeln würde.1 Damit verließ ich den Raum. So etwas war mir bislang auch noch nicht passiert. Obwohl ich in meinem Leben immer wieder feststellen durfte, dass mich aufgrund meines eher maskulinen Erscheinungsbildes Lesben oft zu ihrem Beuteschema zählten.

 

Zwischendurch erschien auch Gollum auf der Bildfläche. Für mich war das okay. Hier in diesem geschützten Rahmen würde er sich wohl kaum an mir vergreifen. Er hatte sich nicht geändert. Immer noch redete er die meiste Zeit über wirres Zeug. Einmal, als er wieder dazu übergehen wollte, mich verbal zu erniedrigen, hielt ich inne. Diesem Typ musste doch auch einmal einer reinen Wein einschenken! Ich sagte zu ihm:

<< Hör mal, Du weißt gar nicht, mit wem Du es hier eigentlich zu tun hast! Schau mal her, ich zeige dir etwas. >>

Daraufhin nahm ich eine Münze aus meiner Hosentasche und warf sie in die Luft.

<< Zahl >> sagte ich.

Sie landete mit der Zahl nach oben.

Dann warf ich sie wieder.

<< Zahl. >>

Sie landere mit der Zahl nach oben.

Und wieder warf ich sie in die Luft.

<< Kopf. >>

Kopf.

Das Spiel hätte ich beliebig so weiter führen können, aber er schien sich dafür gar nicht zu interessieren.

 

Meine Situation war extrem unbefriedigend. Permanent litt ich unter Migräne, die mit Sehstörungen und einer erhöhten Geräuschempfindlichkeit einher gingen. Fernsehen war noch nie meine größte Leidenschaft gewesen, stellte aber die Einzige Abwechselung hier dar. Natur gab es außer einem kümmerlich kleinen Rasenrest im Innenhof keine mehr. Die die meiste Zeit über blieb ich im Gebäude, da mir das Stadtleben zu unruhig war und mir Angst machte. Meistens lag ich im Bett herum. Die einzigen Momente, in denen ich eine Motivation verspürte, aufzustehen, war, wenn ich mich um mein Kind kümmern musste.

 

Manchmal spielten wir bei gutem Wetter draußen Karten. Doppelkopf, das gefiel mir. Aufgrund der Karten, die jemand ausspielte, konnte ich schon nach der zweiten Runde zu 80-90% vorher sagen, was für ein Blatt er auf der Hand hielt und wie genau er damit weiterspielen würde. Das machte mir Spaß. Mia entwickelte sich gut, aß gut, wurde wieder richtig speckig. Sie weinte auch nicht mehr, alles beim Alten. Wenn man nicht aufpasste, vergaß man einfach, dass es sie gab. Sie konnte sie sich unsichtbar machen, während sie bloß alles um sich herum beobachtete,.

 

Ich hatte schwere Depressionen. So schlecht wie es mir ging, so wenig bekam ich mehr im Alltag geregelt. Ich schaffte es nicht einmal mehr, meine Kleidung ordentlich in den Schrank zu räumen, sie lag überall auf dem Boden verteilt herum. Wenn Mia nicht gewesen wäre, die ich ab und zu zu versorgen gehabt habe, wer weiß, vielleicht wäre ich gar nicht mehr aus meinem Bett heraus gekommen. Mein Kind war der einizige Grund aus dem ich weiterlebte.

 

Meine Kopfschmerzen machten mich wahnsinnig. Ich wusste ganz genau, woher sie stammten: die Situation war unerträglich. Die Lymphknoten schwollen an, wurden riesengroß. Neben dem Kopfzerbrechen bekam ich einen ganz dicken Hals, fing an, haufenweise Schmerztabletten zu nehmen. Nichts half. Ich diskutierte dieses Problem mit den Personal. Die sahen das natürlich alles ganz anders. Ich bekam nichts auf die Reihe, weil ich von Natur aus psychisch krank war. Mit dem Heimaufenthalt habe das rein gar nichts zu tun. Ich sollte froh und dankbar sein, dass man sich hier um uns so gut kümmerte.

 

Vor allem die Heimleiterin, die sich eigentlich so gut wie nie blicken ließ und uns gar nicht kannte, war dieser Auffassung.

<< Kinder groß zu ziehen ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe >> sagte sie.

<< Bislang habe ich dabei keine weitere Hilfe von außen benötigt. >>

<< Nanananana. Das wollen wir doch erst mal sehen. Wissen Sie, ihr Kind ist derzeit noch in einem unkomplizierten Alter. Aber das wird sich noch ändern! Mit dem Alter wachsen die Anforderungen, die Eltern zu erfüllen haben. Ich habe auch Kinder. Ich weiß, wovon ich rede. >>

Wie schön dass sie mit ihren eigenen Kindern Schwierigkeiten hatte.

<< Ja, das kann schon sein. Ich glaube Ihnen das. Finden Sie es denn aber nicht reichlich unfair, einfach davon auszugehen, dass ich oder einer der anderen Bewohner es gar nicht erst auf die Reihe kriegen? Man wächst schließlich mit seinen Aufgaben. Es ist sicher im Rahmen des Möglichen, dass es irgendwann einmal irgendwelche Probleme geben wird - diese können dann dementsprechend gelöst werden. Dann, wenn es so weit ist. Falls ich in einem solchen Augenblick vielleicht einmal nicht zurecht kommen sollte, kann ich ja immernoch hingehen und jemanden, vielleicht sogar Sie, um Hilfe bitten. JETZT ist das aber nicht der Fall. Hypothetische Probleme als tatsächliche Probleme anzusehen, stellt für mich keinen Grund dar, mich zum bleiben zu zwingen. Verstehen sie das? >>

<< Nein. >> Das klang absolut.

<< Wie "Nein" ... >> fragte ich.

<< Sie bleiben hier. >>

<< Aber ich habe doch gerade gesagt... >>

<< NEIN. Sie haben hier gar nichts zu sagen. >>

<< Haben Sie denn gehört, was ich gesagt habe? Sie können doch nicht einfach statthafte und leicht verständliche Argumente, die belegen, dass ich Recht habe, einfach aus der Welt wischen! Ich meine, wie lange soll ich denn noch hierbleiben und damit für Sie alle hier unter Beweis stellen, dass ich eine verantwortungsvolle und kompetente Mutter bin? Vier - Fünf oder gleich Zehn Jahre? >>

<< Bitte verlassen Sie jetzt mein Büro. Wenn Sie das Bedürfnis verspüren, Gespräche zu führen, wenden Sie sich an das Personalbüro, dort hat man immer ein offenes Ohr für Sie. >>

<< ... aber, aber... >>

<< Nichts Aber. Bitte gehen Sie jetzt und lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Verständnis dafür, dass Ihnen die aktuelle Situation nicht gefällt, aber glauben Sie mir, es ist zu ihrem Besten. Sie sollten lieber dankbar dafür sein, was man hier alles für Sie tut. >>

Mann war die zickig. Mal wieder mit vollem Anlauf ins Fettnäpfchen? Wie mir das immer wieder gelingt!

<< Das bin ich ja, aber... >>

<< Raus. >>

<< Selbst die Psychiaterin, die mich behandelt, ist der Meinung, dass ich hier nicht hin gehöre!! >>

Ich kämpfte auf verlorenem Posten, soviel war klar.

<< Raus. >>

<< Jetzt hören Sie doch mal ZU!!! >>

<< Ich habe Ihnen zugehört, aber alles hat auch mal seine Grenzen. Und jetzt verlassen Sie mein Büro. >>

Es erinnerte mich an das Verhalten, welches Frau Dr. Dusk mir gegenüber gezeigt hatte. Und was wäre wenn... Ich konnte dieses was wäre wenn echt nicht mehr hören. Was - wenn - wäre, das würde ich ja dann sehen! Man wollte mich als Bewohnerin um jeden Preis da behalten.

<< Aber... >>

<< Sie bleiben hier. Punkt. >>

<< Ich will aber nicht! >>

<< Was auch immer es zu besprechen gibt, besprechen Sie ab jetzt bitte mit den Mitarbeitern des Personalbüros. >>

<< Ok. >>

<< Danke für das Gespräch. >>

Immer dieser Hohn, der einem hinterher in die Hacken geworfen wird. Es reicht nicht, jemanden anderen seine Überlegenheit spüren zu lassen. Man muss ihn zusätzlich auch noch zeigen, dass man das Recht hat, seine Würde mit Füßen zu treten.

 

Mit den Angestellten, die mich ebenso wenig ernst nahmen wir ihre Chefin und eigentlich eher genervt auf mich reagierten, einigte ich mich darauf, dass eine von den Erzieherinnen mich zu meiner Ärztin begleiten würde. Diese könnte für mich sprechen und die Maßnahme unterstützen, mich in ein eigenständiges Leben zurück zu führen. Und tatsächlich: Frau Dr. Lov berichtete mit zusammenfassenden Worten, was bislang an Gesprächen in ihrer Praxis stattgefunden hatte. Dass ich mich zu ihr begeben hätte, um mit ihr eine Gesprächstherapie zu beginnen, was sie gut hieße. Mich in dem Wohnheim jedoch nicht wohl fühlte, weshalb sie empfahl, dies noch einmal zu thematisieren.

 

Als meine Begleiterin und ich wieder zurück ins Heim kamen, bekam meine unbeschwerte, heitere Stimmung einen jähen Dämpfer aufgesetzt. Als uns die anderen Erzieher fragten:

<< Na, und? Wie ist es gelaufen, was hat sie gesagt? >> kam von meiner Begleiterin die Antwort:

<< Sie sagte, Frau Maddaus ist schwer krank und sollte besser noch eine Zeit lang bei uns bleiben. >>

Warum zum Teufel... log sie jetzt auf einmal?

Ich war baff.

<< Hallo ...? >>

<< Sehen Sie? Wir haben es Ihnen doch gesagt. Gut, dass das jetzt ein für alle mal geklärt ist. Dann ist jetzt endlich Ruhe in dieser Angelegenheit. >>

<< Was soll denn das??! >>

<< Was soll was? Dass unsere geschätzte Kollegin Sie, auf ihren eigenen Wunsch hin, wohlgemerkt, liebenswürdigerweise zu ihrer Ärztin begleitet hat? Obwohl sie das gar nicht gemusst hätte, wohlgemerkt? Was haben Sie denn jetzt auf einmal daran auszusetzen? Von ihren Verrücktheiten haben wir aber jetzt langsam mal genug. Wirklich. Wissen Sie, Sie gehen uns ganz schön auf die Nerven! >>

Miss Behindert würdigte mich keines Blicks.

<< Warum lügen Sie jetzt?? So habe ich mir das aber nicht vorgestellt. >> herrschte ich sie an.

Sie ignorierte mich weiterhin, antwortete nicht, sah mich nicht an.

Ich wandte mich an die anderen.

<< Sie lügt! Warum lügt sie? Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! >>

Man drängelte mich vor sich her in Richtung Tür.

<< So jetzt haben wir aber genug Zeit mit Ihnen verschwendet. Einmal muss mal gut sein. >>

<< Aber... >>

<< Verlassen Sie bitte das Büro. Wir haben jetzt keine Zeit dafür. >>

<< Aber sie lügt! >>

<< Wollen Sir jetzt unsere geschätzte Mitarbeiterin beleidigen? >>

<< Ja! Nein, natürlich nicht, aber... >>

<< Das hoffen wir. Und jetzt ist gut. >>

<< NICHTS IST GUT VERDAMMTE SCHEISSE! SIE LÜGT! >>

schrie ich.

 

Immer wieder versuchte ich nun, das Thema auf den Tisch zu bringen. Sobald ich einer der Mitarbeiter habhaft wurde, redete ich über nichts anderes mehr. Und ich hatte Recht! Da half alles salbungs,- und verständnisvolle Gesülze nicht. Ich ließ nicht locker. Irgendwann kam ein:

<< Ach, Frau Soundso, mit Ihnen brauche ich mich gar nicht zu unterhalten. Sie sind krank. >>

von einer der Mitarbeiterinnen zurück, die ich bis dahin sehr geschätzt hatte. Seitdem war auch sie bei mir komplett untendurch.

 

Auch ein förmliches Attest von meiner Psychiaterin, welches meine psychische Stabilität bescheinigte, reichte den Beteiligten nicht aus, um mich aus meiner Haft zu entlassen. Langsam ging es mir so schlecht, dass ich sogar einen Allgemeinmediziner zu Rate zog. Ich magerte ab. Mein Zigarettenkonsum stieg ins Unermessliche. Zwei Beutel schwarzen Van Nelle am Tag qualmte ich so weg. Das soll mir mal einer nachmachen!

 

Weitere Mitbewohner trudelten ein. Miss Regenbogen gab ihr Baby zur Adpotion frei, während sie auch schon wieder einen neuen Braten in der Röhre hatte. Drogenabhängig und magersüchtig wog sie bei 1,90 Körpergröße nur noch knappe 50 Kilo. Ihr Besuch Im Wohnheim währte nur kurz. Sämtliche teureren technischen Einrichtungsgegenstände verscherbelte sie zuvor noch gewinnbringend auf dem Schwarzmarkt. Insgeheim feierte ich ihr Verhalten. Damit, auch solche schwarzen Schafe unter den Bewohnern zu haben, hätte man eigentlich rechnen müssen. Man gab sich betroffen.

 

Meine Therapeutin und ich kamen nicht mehr weiter. Es hatte ja auch, was man ihr zugute halten muss, nie wirklich eine echte Therapiegrundlage gegeben. Leider wollte sie ohne einen offiziellen Auftrag vom Gericht auch kein Gutachten schreiben. Dies sei sehr teuer und bedeutete viel Arbeit. Ich schrieb einen Brief an das Gericht. Ob man nicht noch ein Gutachten in Auftrag geben könnte. Ein Gutachter wurde beauftragt. Leider war dies nicht Frau Dr. Lov.

 

Ein junger Mann kam vorbei, welcher mich interviewte. Verdammt schnell entpuppte sich dieser als Idiot. Wie hatte der die Schule, das Abi, und erst Recht die Uni geschafft? Wen bestochen, um erfolgreiche irgendeine Prüfung zu bestehen? Das Problem: die Idiotien, die er sich aus dem Fingern saugte, sahen in seinem Gutachten so aus, als stammten sie allesamt von mir. Außerdem noch mit dem ganzen Schmonzes aufgehübscht, der der bisherigen Aktenlage zu entnehmen gewesen war.2 Na toll. Und ich hatte mir solche Hoffnungen gemacht, nun endlich hier herauszukommen! Das konnte doch nicht so schwierig sein! Die Mitarbeiter behaupteten, ich nähme zu wenig Körperkontakt zu meinem Kind auf. Wie zu Teufel kamen die darauf? Als würde ich mein Kind nicht richtig lieben! Aber, wenn ihnen so etwas schon aufgefallen war - mit mir darüber zu sprechen - nein, das hielt von den Mitarbeitern des Heims keiner für notwendig.

 

Die Rolle der psychisch Kranken bot einige interessante Perspektiven. Ich überlegte, sie zukünftig überzeugender zu spielen. Wenn ich dieses Ettikett eh schon verpasst bekommen hatte, warum sollte ich die Position, die mir dieser Status verlieh, nicht ausnutzen. Ich dachte mir Geschichten aus. Tat so, als sei ich in eine der Erzieherinnen verliebt, spielte die besitzergreifende Psychopathin. Wie würden man darauf reagieren, wenn einer der Bewohnerinnen sich tatsächlich komplett geisteskrank aufführte? Es war aber sehr schwierig für mich, dabei ernst zu bleiben. Deshalb ließ ich es bald wieder sein.

 

Ende des Jahres stand ein Hilfeplangespräch auf dem Plan, zu dem alle eingeladen waren. Die olle Schnepfe von Heimleiterin war im Urlaub, weshalb eine Vertretung für sie einsprang. Was für ein Glück! Er schaffte er innerhalb nur einer Stunde, was allen anderen Mitarbeitern inklusive Heimleitung ein ganzes Jahr lang nicht geglückt war: er hörte zu. Alle anderen Anwesenden im Raum protestierten kreischend bei jedem zweiten Satz, den ich von mir gab. Man tat sich hierzu mit Herrn Ober-amputiert von Jugendamt zusammen. Das Heim wollte mich um keinen Preis wieder gehen lassen. Dafür war ich denen hier schon viel zu sehr ans Herz gewachsen. Kein Wunder, so wie ich deren Laden für sie schmiss! Ohne mich würde hier alles den Bach runtergehen, man für sein Geld sogar arbeiten müssen.

 

Heimweh quälte mich. Der Rückweg schien versperrt. Ich litt unter der Situation. Man heuchelte Verständnis.

<< Das verstehen wir. Aber Sie müssen auch uns verstehen. Es gibt momentan keine andere Möglichkeit für uns. >>

Wie ich dieses kollektive "Uns" oder "Wir" hasste.

<< Das ist so nicht ganz richtig. Schließlich könnten Sie ja auch, sofern Sie wollten, einen Kontakt zu meiner behandelnden Ärztin herstellen, diese interviewen. Sie wäre sicher einer anderen Meinung als Sie, zumindest, was dieses Thema anbetrifft >> formulierte ich vorsichtig.

<< Soweit wir wissen, wurde das bereits durchgeführt. Dazu besteht also gar kein Bedarf. >>

<< Doch!! >>

Man beratschlagte sich mit dem Betreuungspersonal, die erneut die Lügen ihrer nicht anwesenden Mitarbeiterin reproduzierten.

<< Sehen Sie? >> wandte man sich erneut an mich.

<< Das sind alles ihre Wahnvorstellungen. Darauf brauchen wir jetzt nicht weiter eingehen. >>

Ich platzte fast. Es brauchte ein paar Minuten, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Verdammte Kacke. Das entwickelte sich alles nicht zu meinen Gunsten. So weit hatte ich nicht gehen wollen, aber: Nun musste ich alles auf eine, auf die letzte Karte setzen. Ein unkalkulierbares Risiko eingehen.

<< Also gut. >>

DIe Aufmerksamkeit wandte sich mir wieder zu.

<< Ich gehe in die Psychiatrie. >>

Aufschrei des Entsetzens.

Panisch wandte man sich an die Heimleitung bzw deren Vertreter:

<< Das dürfen Sie ihr nicht erlauben! >>

Herr Amputiert Jugendamtsleiter meldete sich auch zu Wort spendete obergewichtig einen Beitrag:

<< Sie will das doch nur als Sprungbrett dafür benutzen, um das Wohnheim zu verlassen! >>

Sehr richtig. Ich versuchte erfolglos, mir das Grinsen zu verkneifen. Er hatte mich direkt durchschaut.

Trotzdem insistierte ich:

<< Aber - aaber, nicht doch! Die Sache ist doch die: Wenn ihr alle der Meinung seid, dass ich krank bin, psychisch krank, um genau zu sein, dann wäre es doch dumm von mir, mich deswegen nicht behandeln zu lassen, oder? Falls ich es wider Erwarten jedoch nicht sein sollte, wird man das dort sicher zweifelsfrei feststellen können. Falls ich, wie Frau Dr. Lov es schon formuliert hat, aber tatsächlich gesund sein sollte, gäbe es wiederum auch keinen Grund mehr, mich weiter hier fest zu halten, richtig? Gesetzt den Fall, dass ich wirklich psychisch krank bin, dann bekomme ich dort eben eine Therapie. Na und? Ist doch gut!! >>

Der stellvertretende Heimleiter war sofort auf meiner Seite. Ich hatte Glück. Er überzeugte die anderen Anwesenden, meinem Plan wider willen zuzustimmen. Weiterhin hagelte es Zweifel auf mich herab:

<< Aber wie wollen Sie das machen? Um in eine Psychiatrie zu dürfen, müssen Sie ja auch erst einmal dort eingewiesen werden! >> merkte er auf.

<< Das lassen Sie mal meine Sorge sein >> entgegnete ich in aller Ruhe.

 

<< Was? In die Psychiatrie? Sie?? Warum??? >>

Nach-Luft-schnappen und Qiek-Geräusche.

<< Ich ... hahaha, kann doch ... keinen einweisen, ... der psychisch gesund ist! Hihihihihohohohahaha >> Sie fiel fast vom Stuhl vor Vernügen.

Ich erklärte ihr meine Situation. Ich konnte so nicht mehr weiter leben, war extrem unglücklich, hatte Depressionen und sah keinen anderen Ausweg mehr. Deshalb bat ich sie darum, mich in die Klinik einzuweisen. Ich wollte zu Professor Glitzer. Dort gab es eine deutschlandweit einmalige Mutter und Kind Station.

<< Nagut, ganz wie Sie wollen. Dann machen wir das so. >> lenkte sie widerwillig ein.

<< Und, was soll ich da jetzt reinschreiben? >> fragte sie mich ratlos.

<< Schreiben sie da rein, was sie wollen. Das ist mir egal. >>

 

So kam es, dass mir Frau Dr. Lov am Ende doch noch eine Persönlichkeitsstörung bescheinigte.

1 (wenn auch um ein nettes)

2 (da ich bislang keines der vor Gericht erschienen Gutachten selbst gesehen hatte, wusste ich immer noch nicht, was „Akteneinsicht“ bedeutete, weshalb ich sie immer freimütig gewährte)



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