III.

3. skurrile Hektik

 

Mein Vater bezahlte nicht nur die Miete, sondern auch ein monatliches Taschengeld. Die Wohnung lag ganz in der Nähe der Schule. Ruhe und Privatsphäre empfand ich als heilsam. Weiße Rauhfasertapeten, ein billiger, dunkel gehaltener Teppichboden, in der Küche graues Linoleum - potthässlich. Eine Waschmaschine? Gab es nicht. Kühlschrank oder Herd? Fehlanzeige. Egal. Wer A sagt, muss auch B sagen! Die Wäsche wurde mit der Hand gewaschen, den Kühlschrank ersetzte ein Eimer Wasser. Matratzen auf dem Boden sorgten für ausreichend Schlafkomfort.

 

Wie gewohnt las ich mir schon vor Schulbeginn schon sämtliche Schulbücher durch. In der Ganztagsschule gab es jeden Tag ein warmes Mittagessen, von dem ich so viel zu Mittag aß, wie ich nur konnte - weshalb das Gewicht unter der Woche drei Kilo in die Höhe stieg, welche am Wochenende wieder herunter purzelten. Alles war präzise durchgeplant - so dass am Ende des Monats meist noch etwas Geld übrig blieb. Aß aber einer meiner Besucher unwissentlich eines meiner Nahrungsmittel zu viel, brachte mich das ganz durcheinander. Alles neu berechnen zu müssen, war ein aufwendiger Vorgang.

 

Trotzdem es anstrengend war, freute ich mich über Besuch. Außerdem gab es einen Heinrich1, der mich überall hin begleitete. Vom ersten Tag unserer Begegnung wich er mir nicht mehr von der Seite. Nur wenn ich die Schule besuchte, musste er zu Hause bleiben. Machten wir mit meinem Motorrad Ausflüge, schlief der Mäuserich entweder in einem dicken Schal - oder er saß (sofern gerade wach) vorn im Visier des Helms, um sich mit mir die vorüberziehende Landschaft anzusehen. Als wir einmal auf einer Straße mit vielen Schlaglöchern unterwegs waren, ging er verloren. Eine Stunde später fuhr ich auf der Suche nach ihm zurück. Da saß er, hoch aufgerichtet am Waldrand, hielt sein Näschen in die Luft. Ich hielt an und streckte meine Hand aus. Schnell krabbelte er wieder an seinen Stammplatz auf meiner Schulter.

 

Als legendäre Mäuseflüsterin lernte ich dann auch das Tentakel kennen. Heinrich und ich besuchten ein Musikkonzert. Vom Trubel saß ich wie immer wie üblich weit möglichst entfernt. Da sprach mich plötzlich eine unbekannte Person an:

« Wie hast du das denn gemacht?? » lautete ihre Gesprächseröffnung.

Redete sie etwa mit mir? Was wollte die denn?

Unverschämt, einen einfach so anzusprechen, so als wären wir alte Freunde. Sie blieb stehen, sah mich erwartungsvoll an. Au weia. Ein Gespräch... Wie unangenehm!

« Was? » antwortete ich, bereits im Anfangsstadium genervt und verwirrt.

« Na das Tier da, auf deiner Schulter. Wo ist es denn? Eben war es doch noch da... ich habs genau gesehen! Ah, da ist es ja! Ja, sag! Wie hast du das gemacht!? »

« Was, gemacht. Was meinst du? Außerdem, wer bist du überhaupt...? Und was machst du hier, also, ich meine - ich kenne dich ja gar nicht!! »

« Na - dass sie so zahm ist! »

Ach was. Daran gab es nichts Kompliziertes. Heinrich und ich hatten doch einfach nur beschlossen, Freunde zu sein. Wie sollte ich das denn jetzt erklären? Noch dazu jemandem, der keine Tiersprache verstand?

Es gab in solchen Situationen immer zwei Möglichkeiten: Antwortete ich ehrlich, hielt man mich für geisteskrank, dachte ich mit wehmütigem Gedanken an meine Eltern. Was nun? Sollte ich sie arrogant abfertigen und stehenlassen? Das ging auch nicht, dafür glänzten diese Augen viel zu begeistert. Wieso mussten Menschen eigentlich immer so doof sein?

« Na hör mal » versetzte sie theatralisch hinzu, als würde ich genau wissen, wovon sie redete,

« Ich kenne australische Wüstenrennmäuse. Die werden nicht so zutraulich! Also möchte ich bitte gerne wissen, wie Du das gemacht hast! Ja, … und ich bin hier, weil ich Spaß haben will! Am Wochenende geh ich halt da hin, wo was los ist! Hey! Ich bin Tentakel, Moin! Und wer bist du? »

Das war ja schon fast eine richtige Unterhaltung! Wow... Wie cool! Vielleicht war sie ja doch ganz nett.

« Naja, keine Ahnung, er vertraut mir halt einfach. Warum, na, da musst du ihn fragen » antwortete ich mit einem frechen Grinsen.

 

Tentakel besuchte mich, brachte meine Systeme durcheinander2 und schleppte mich von einer Veranstaltung zur nächsten. Eine Freundin zu haben, verlieh meinem Dasein eine ganz besondere Note, worüber ich insgeheim sehr dankbar war. Mit ihr fühlte ich mich -fast- so wie ein richtiger Mensch.

 

Auch das Brüderchen kam angereist , einen Straßenjungen3 aus Köln im Schlepp.

Zum Ritual gehörte, sobald wir uns trafen, etwas Lustiges anzustellen.

« Na, was machen wir heute? » fragte er mit einem schelmischen Lächeln.

Das war der Auftakt. Würde ich jetzt einen zu langweiligen Vorschlag machen (z. B. Ponyhof) wäre ich unten durch. Das wusste ich.

« Wir könnten doch den Supermarkt plündern. Haha! Die sind da so doof, die bemerken nicht mal, wenn ich da was klaue. »

« Echt?? »

Die Augen des Straßenjungen leuchteten anerkennend auf, mein Bruder hingegen übte sich in der Skepsis. Im Gegensatz zu mir war er schon einmal dabei erwischt worden.

« Ja, klar. Wirklich! Als wären die total blind! »

Das stimmte. Versuchsweise hatte ich hier und dort mal ein Lebensmittel mitgenommen, aber nicht bezahlt. Dort etwas zu stehlen, war total langweilig.4

« Okay, also - dann mal los! » rief er begeistert.

Ladendiebstahl war unter Jugendlichen damals so etwas wie ein Volkssport. Es galt als cool. Mein Bruder war im Gegensatz zu mir aber gar nicht unsichtbar, so dass unser Plan bald für gescheitert erklärt werden musste. Da man ihm seine Gefühle von außen gut ansah, hingen am Ende gleich drei Mitarbeiter an seinen Fersen, um ihn argwöhnisch im Auge zu behalten.

Unbefriedigt kehrten wir in meine Wohnung zurück und heckten einen neuen, noch viel abenteuerlicheren Plan aus: Einen Zigarettenautomaten zu knacken, das klang nach einer großen Nummer. Das war sozusagen schon Profi-Liga. Diesmal sollte ich diejenige mit den Skepsis sein. Das war etwas ganz anderes wie ein einfacher Ladendiebstahl. Bei so was erwischt zu werden würde maßgeblich Konsequenzen nach sich ziehen.

Jojo behauptete:

« Ach was. Das ist total einfach. »

« Ja? »

« Ja! Das ist wie Fahrradfahren - so etwas verlernt man nicht. »

So ein Angeber. Ich war zwar nicht einverstanden, aber trotzdem dazu bereit, mitzukommen. Wer möchte schon als Feigling dastehen.

Aber wir würden Werkzeug benötigen, was einige Diskussionen nach sich zog. Immerhin ahnte ich, wo wir welches her bekommen konnten.

Als es dunkel wurde, fuhren wir gemeinsam zu einer nah gelegenen, alten, stillgelegten Fabrik. Da wir keine Taschenlampen hatten, teilte ich meine letzte Kerze in zwei Hälften und gab jedem von ihnen einen Stummel. Kaum angekommen, lief ich voraus und kletterte über die Mauer neben dem rostigen Eingangstor.

In der Fabrik war es so finster, dass man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Im Entdecker und Spieltrieb unserer Kindheit hatten wir in schon einmal einen Blick dort hinein geworfen, weshalb ich sehr genau wusste, dass überall alte, verrostete Maschinen herumstanden und es tiefe, nicht abgesicherte Schächte gab. Alles war akut einsturzgefährdet. Selbst bei Tageslicht war uns der Aufenthalt dort als viel zu gefährlich erschienen, so dass wir uns schnell einen anderen Spielplatz gesucht hatten.

Nun hätte ich natürlich auf meine beiden lahmarschigen Begleiter warten müssen, wozu ich keine Lust hatte. Ein paar neugierige Schritte ins tiefste Schwarz der Nacht, wie sie in schwärzer nicht sein konnte. DU SIEHST DOCH GAR NICHTS, schrie mein Verstand. In diesem Augenblick sollte ich eine vollkommen neue Erfahrung machen. Natürlich hatte ich mich auch schon einmal, meist fühlend und vor mir her tastend, in vollkommener Dunkelheit bewegt. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr außerdem darauf spezialisiert, mich des Nachts durch den Wald zu bewegen, wobei dieser meist nicht vollkommen schwarz, sondern in unterschiedlichen Grauschattierungen auftrat. Anders als hier. Vor mir befand sich vollkommene Schwärze.

Als ich geistig vollkommen entspannt in den Raum hineinfühlte stellte ich fest, dass die Struktur des Raumes eine Art Gestalt aufwies. Bestand diese aus Energie? Sollte es tatsächlich so etwas wie eine Radarfunktion unseres Organismus geben? Vollkommen fasziniert, so etwas wie sehen zu können, ohne dafür meine Augen dafür zu benötigen, lief ich mit einer traumwandlerischen Sicherheit los und machte um jede Gefahrenstelle, die eine gefährliche Aura aufwies5, einen großen Bogen. Laut meinem inneren Radar befand sich bald vor mir eine Tür. Geborgen in der Dunkelheit, strich meine Hand strich über den abgenutzten, metallenen Türrahmen.

 

Meine beiden Begleiter bahnten sich lautstark einen Weg. Endlich bewegte sich dieses nutzlose Pack! Sollte ich etwa auf sie warten? Den Geräuschen nach zu urteilen, schien das Licht sie sogar mehr zu behindern, als ihnen zu nutzen. Licht brachte nur Unruhe. Warum nicht einfach weitergehen. Langsam und vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Mich in einer so gefährlichen Umgebung in vollkommener Dunkelheit zu bewegen, flößte auch mir weiterhin Respekt ein.

Bald lag das gefühlte Ziel unseres Ausflugs vor uns. In diesem Raum würden wir, wie mein inneres Radar schon sehr genau wusste, tatsächlich fündig werden. Obwohl ich in diesem hinteren Teil der Fabrik noch nie zuvor gewesen war, wusste ich trotzdem sehr genau, wo sich was in ihm befand. Die alte Heizung, die man in der Mitte des Raumes abgestellt und anschließend vergessen hatte - stellte (genau auf Schienbeinhöhe) eine üble Stolperfalle dar. Wenn auch vollkommen lautlos, summte sie gefährlich. Ich blieb stehen. Wir waren am Ziel.

Als die beiden Begleiter zu mir aufschlossen, konnte ich ihnen sehr präzise Anweisungen darüber geben, an welcher Stelle was zu finden war (wonach wir sonst, wenn wir auf unsere normalen Sinne angewiesen gewesen wären, wohl noch sehr lange gesucht hätten). Der Raum war bis an die Decke vollgestopft mit zurückgelassenem, alten, schon seit vielen Jahren vor sich hin rostenden Werkzeug.

 

Es gab also einen Sinn, der die Augen ersetzte, wenn sie einmal nicht zur Verfügung standen? Einen, mit dem man unter Umständen sogar noch besser sehen konnte? Im Gegensatz dazu waren Zigarettenautomaten sterbenslangweilig!6 Diese Superkräfte gefielen mir... Was mir daran allerdings komisch vorkam, war die Tatsache, dass auf der Welt Niemand sonst jemals über etwas Derartiges berichtet hatte! War ich etwa eine Ausnahme? Oder waren alle so - und wussten es bloß noch nicht?

 

Diese neuartige Erfahrung stellte bei weitem nicht das einzige ungewöhnliche in meinem Leben dar. Regelmäßig gelang es mir, als reiner Gedanke, der bloß aus Energie besteht, meinen physischen Körper zu verlassen und damit an entfernte Orte zu reisen. Dabei waren das durch-Wände-gehen oder fliegen ein paar der leichtesten Übrungen.7 Warum also nicht auch das Sehen im Dunklen? Am besten ließen sich Phänomene dieser Art in einem Zustand der Tiefenentspannung herbeiführen.8 Aber auch das voll/leere-Glas-Prinzip spielte hierbei eine Rolle. Ein voller Geist ist ein verunreinigter Geist. Dominierten Vorstellungen, wie die Welt erwartungsgemäß zu sein habe, wurde die jeweilige Fähigkeit damit außer Kraft gesetzt. Deshalb legte ich damals sehr viel Wert auf eine meditativ-entspannte Haltung. Wie ein Hund erschnüffelte ich Realitäten, erforschte nicht nur Vergangenes, sondern auch Zukünftiges. Immer wieder gab es in meinem Leben detailliert Visionen, was in der Zukunft geschehen würde. Gefahren weit ihm Voraus zu erahnen, schien mir eine nützliche Gabe.

Als ich anderen davon berichtete, ernsthaft mit Tieren sprechen zu können, wurde mir schnell nachgesagt, ich würde spinnen. Wer allerdings um diese Tatsache wusste, rief mich deswegen gern zur Hilfe, damit Katz, Hund oder Pony sich das verhasste Halsband umlegen oder ohne zu zucken die Spritze geben lassen sollten.

 

Im Gegensatz dazu waren die anderen Menschen ganz anders. Sie nahmen einander nicht wahr! Obendrein wurde immerzu und ständig von einem verlangt, Laut von sich zu geben. Sie redeten nur um des Redens willen.9 Mir persönlich kam gesprochene Wort mehr als nur dürftig vor. Worte schnürten ein Korsett, welches den Atem raubte. Die Gefangenschaft in welche sie einen warfen, bestand aus Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit. Meine besonderen Fähigkeiten halfen mir, wenigstens einen Teil der menschlichen Kommunikation zu verstehen. Oft nahm ich bereits wahr, was jemand sagen wollte, bevor er es tat. Den Energiefunken, der während der Motivationsphase einer Handlung stets vorangeht, konnte ich sehen. Obwohl ich dem laut Ausgesprochenen zuerst immer noch mehr Bedeutung beimaß als meinem diesbezüglichen Instinkt, war mir aufgefallen, dass ich immer irgendwoher genau wusste, wenn jemand log. Wie ein Zauberer10 aus einem der vielen von mir gelesenen Märchenbücher hatte auch ich die Fähigkeit, die tatsächliche Stimmung anderer Menschen wahrzunehmen.

Was mir dabei auffiel: die meisten fühlten etwas ganz anderes, als sie einander (und oft auch sich selbst) weiß zu machen versuchten.

Das verstand ich nicht. Warum zu täuschen versuchen, wenn doch das Energiefeld eines jeden Menschen eine so viel eindeutigere Sprache spricht?!

Mein Trancezustand erschien also auch als eine Notwendigkeit. Um die getürkten Informationen von den realen zu unterscheiden, reichte es nicht aus, die Bedeutung des gesprochenen Wortes zu kennen.

Mein mir zu eigener "Röntgenblick" aber war etwas, das Vielen, die es gewohnt waren, unerkannt und im Verborgenen wirken zu können, überhaupt nicht recht zu sein schien. Ihre Gesichtsmasken wiederum, auf welche offiziell der Auftrag bestand, zu reagieren, erschienen mir wie dunkle Nebel, welche nur der Verschleierung dienten. Sie anzusehen, ließ mich fühlen wie als befände ich mich in der Nähe einer gefährlichen, ansteckenden Krankheit. Der Kontakt wurde gemieden.

 

Trotzdem waren all diese Fähigkeiten11 doch etwas, wovon ich nie jemandem hätte berichten dürfen. Vor allem mit meinem Vater konnte man sich darüber nicht auseinandersetzen. Erst versuchte ich es. Natürlich! Er war doch Psychologe und dies sollte sein Fachgebiet darstellen! Was ich ihm zu erzählen versuchte, um mich mit einem Menschen meines Vertrauens darüber auszutauschen, erschreckte ihn sehr. Wieder etwas, das ich nicht verstand. Dinge, die mich bloß in Erstaunen versetzten, machten ihm Angst? Weil es seinen Verstand, sein Weltbild, alles, woran er glaubte, sprengte, redete er sich lieber ein, ich habe meinen verloren.

 

Trotzdem spendierte er mir zur bald erreichten Volljährigkeit einen Führerschein und mein erstes Auto12. Die Fahrprüfung, zwei und vierräderig zugleich: mit Bravour bestanden. Hier glänzte man noch mit überbordendem Selbstbewusstsein und vollkommener Fehlerlosigkeit. Nur eine Woche später aber sorgte ein unkonzentriertes Herumfummeln am Autoradio für einen Sekundenbruchteil für einen leichten Schwenker gen Straßenrand. Das Radio wollte mir heute einfach nicht gehorchen. Als ich wieder hinsah, war ich bereits von der Fahrbahn abgekommen. Darüber erschrocken und gänzlich unerfahren am Steuer reißend schoss ich nun unkontrolliert auf die andere Straßenseite zu. Dasselbe gleich nochmal, und Shit! Volle Lotte bremsen half auch nicht weiter. Unaufhaltsam rutschte ich auf eine Baumgruppe zu. Im festen Glauben, nun sterben zu müssen, lies ich los und fuhr mit dem Auto erst eine Böschung und anschließend einen Baum hoch, um daraufhin piurettiernd durch die Luft zu fliegen. Ein paar Meter weiter: Kraboff - die etwas weniger elegante Bruchlandung auf dem Autodach. Alles war zerbeult und platt gedrückt, nur meine Willigkeit nicht. Wie ich mit einiger Verwunderung feststellte, befand ich mich, zwar kopfüber, aber immerhin noch in einem Stück, nach wie vor lebend hinter dem Steuer. Das Seitenfenster hatte sich bereits verabschiedet, aus welchem ich nun geschwind hinauskletterte.

Hinter mir befand sich ein weiteres Fahrzeug, dessen Fahrerin angehalten war, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, was für ein Unwesen ich da trieb. Sie starrte mich entgeistert an. Mit freudig erhobenen Armen warf ich ihr strahlend ein:

« Ich leeebe noch!!! » entgegen.

Leider fing sie nun gar keinen Händchen-haltenten Ringeltanz an, um diese Tatsache gemeinsam mit mir zu feiern, sondern zuckte nur mit dem Zeigefinger in der Luft herum.

« Sie..., Sie ..., Sie bluten..! » quiekte sie.

Ich wunderte mich (kam mir doch weitgehend unverletzt vor) und tastete ich mich ab - befand mich für noch aufrecht stehend - alle Gliedmaßen vollzählig vorhanden.

« Wo? »

Stumm zeigte sie in Richtung meines Gesichts. Auf einmal sah ich es auch: Ein feiner Strahl roten Blutes ergoss sich in einem hohen Bogen aus meiner Stirn. So ein Springbrunnen sollte doch sofort gestoppt werden. Was hatten wir in der Fahrschule gelernt?

« Ja, watt stehen Se denn da rum?!! Los, Verbandskasten raus, hopp hopp! » kommandierte ich.

Gehorsam setzte sie sich in Bewegung und versorgte mich mit einem Pflaster. Danach lief sie los und informierte die nächsten Nachbarn13, welche bald zahlreich aus ihren Häusern herbei strömten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Derweil saß ich mittlerweile auf dem Boden und suchte ein paar Insekten, welche sich mit mir über mein Glück freuen konnten. Es blieben nur ein paar vertrocknete Gashalme, die ich weggetreten angrinste.

 

Krankenwagen, zack zack, ab ins nächste Krankenhaus. Nachdem man dort meine Stirn notdürftig wieder zusammengeflickt hatte, ließ ich mich (auf eigene Verantwortung) direkt wieder entlassen.14 Das war etwas mehr als eine bloße Schramme. Völlig neben der Spur hielt ich mich an dem Tag freiwillig mal ein paar Stunden lang im Elternhaus auf. Verantwortungsbewusst, wie er war, hatte mein Vater der Unvernunft, mich sofort wieder ins Geschehen zu stürzen, schnell einen Riegel vorgeschoben und mich abgeholt. Dort lag ich, der Stille des Friedens an diesem Ort lauschend, um mich irgendwann darüber zu wundern: Keiner kam, um mich anzuschreien oder mir vorzuhalten, was für ein schlechter Mensch ich sei. War denn niemand zu Hause? Fast könnte sich wohlfühlen! Diese Gedanken stimmten traurig: Der Bruder war fort. Die schöne gemeinsame Zeit die wir hier verbracht hatten, würde nie wieder zurückkehren.

 

Normalerweise hätte ich mit dieser Art Kopfverletzung ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Der Schule erklärte ich am Telefon, nicht kommen zu können.

« Das geht aber so nicht » die lakonische Antwort am anderen Ende des Apparates.

Häh? Wie? Was, geht nicht.

« Was? Wie - geht nicht. »

« Sie müssen kommen. In den nächsten beiden Wochen stehen fünf Klausuren an! »

Hatten die keine anderen Probleme?

« Aber ich bin krank! Kann ich die denn nicht irgendwann nachschreiben? »

« Wann denn! Danach sind die Ferien! Sie müssen da sein, anders geht es nicht. »
Aber ich sollte doch Bettruhe halten, hatte der Arzt gesagt!

« Da führt kein Weg dran vorbei? » fragte ich ungläubig.

« Nein. »

« Wirklich nicht? Die Ärzte haben aber gesagt, ich solle Bettruhe einhalten! Was soll ich denn jetzt machen? »

« Das müssen Sie selber wissen. »

Es klang wie eine Drohung. Ich hatte es gehört, es führte "kein Weg daran vorbei."

Also ging ich, Sternchen vor den Augen, Schlangenlinien gehend, zur Schule, um dort „Klausuren zu schreiben“. Völlig Matsch! Rien ne vas plus. Ich saß da und gab leere Blätter ab. Dann begannen die Sommerferien.

 

Der größte Wunschtraum: eine Ausbildung zum KFZ Mechaniker. Also absolvierte ich in den Ferien, anstatt mit meinen Freunden zu feiern, ein Praktikum in einer Autowerkstatt.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, bastelte ich gerade an einem Vergaser eines Audi 100 herum. Er erschien mir fast so wie ein vom Himmel herabgestiegener Gott. Diese Ausstrahlung! Sommerlich braun gebrannt, das rabenschwarze Haar, ein fesches Schneuzerchen. Seine Kawasaki - ebenfalls in schwarz. Das alles bot einen wirklich hübschen Anblick. Augenblicklich bekam ich weiche Knie und schmolz dahin wie Butter in der Sonne.

Meine erste Reaktion bestand daraus, mich schnellstmöglich in der Halle mit der Hebebühne zu verstecken. Die Angelegenheit leuchtete verdächtig wie die Luft vor einem Gewitter. Auf einmal hielt ich es für außerordentlich wichtig, diese Begegnung zu vergessen und eine weitere unbedingt zu vermeiden.

An dieser Stelle schaffte ich es das erste Mal in meinem, mich mit einer einer Art Hypnose bewusst selbst zu täuschen. Dabei suggerierte ich mir, dass wir uns gar nicht erst (und wenn, dann sowieso auch nur fast) begegnet waren. Es funktionierte! Obwohl ich sonst über ein tadellos funktionierendes Gedächtnis verfügte, vergaß ich es. Warum eigentlich? Was war denn los? War das nicht eine total übertriebene Reaktion? Mein Verhalten kam mir irrational vor, was mich verunsicherte. Aus welchem Grund war es mir plötzlich so unangenehm, mich noch in der Werkstatt aufzuhalten? Den lieben Arbeitskollegen schrieb ich eine Nachricht, in welcher ich mich dafür entschuldigte, mich so unverhofft verabschieden zu müssen. Die ganze Angelegenheit erschien mir zwar etwas übereilt,15 aber auch diese kleinen, leise zweifelnd kitzelnden Gedanken zwang ich konsequent nieder - ohne zu wissen, wieso.

Als sei mir etwas entfallen, versuchte ich auch später noch, drauf zu kommen, was genau es gewesen war. Der Schlüssel zu etwas Wunderschönem, so viel war hängen geblieben. Es hatte etwas mit Schmetterlingen zu tun - mehr fiel mir dazu nicht mehr ein. Angestrengt imaginierte einen großen Schmetterling, der in der diesen Tierchen zu eigenen Eleganz taumelnd hin und her flatterte, kam aber einfach nicht hinter das Geheimnis.16 Irgendwann vergaß ich die ganze Angelegenheit. Später jedoch sollte ich mich wieder daran erinnern.

 

Zur gleichen Zeit bahnte sich etwas ganz anderes an. Keine Liebesgeschichte - sondern eine Affäre.17 Kategorie: einfach so passiert. Asterix lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der direkten Nachbarschaft meiner Eltern. Zu dem Zeitpunkt stellte jedes zu Hause ein gutes zu Hause dar, welches nicht gerade das Elternhaus war18. Hin und wieder schaute ich dort vorbei, verbrachte manch eine Nacht volltrunken auf dem antiken grünen Sofa.19 Asterix war jemand, mit dem man Partys besuchte.

Eines schönen Tages saßen wir, der traditionellen Alkoholvernichtungszermonie beiwohnend, beim Medizinmann20 herum. Wie üblich baggerten die Saufbrüder alles an, was sich als beweglich erwies und über zwei Beine verfügte. Hätten sie es nicht getan, wäre das als Unhöflichkeit zu verstehen gewesen. Demnach gehörte ich zur Familie. Wie auch sonst bei gutem Wetter, brannte das obligatorische Lagerfeuer21 und man saß, an Bierflaschen nuckelnd, im Kreise drumherum. Auf einmal streckte Asterix seine Hand aus, ergriff damit ein Stückchen Glut, hielt es eine Weile fest und sagte theatralisch:

« Die gehört mir. »

Meine Sorgen gediehen nicht sehr weit. Ich erklärte mir die Sache damit, dass er zu viel getrunken hatte, wie wir alle. Das schöne am Alkohol ist: man kann sich nach Belieben daneben benehmen und hinterher ist alles wieder Quatsch mit Sahnesoße drumherum.

Bald darauf erschien eine mit einem (viel zu oft gewaschenen) T-Shirt und einer ausgeleierten Jogginghose über ihrem aus der Form geratenen Körper bekleidete Nachbarin auf der Bildfläche, die sich kreischend über unseren angeblichen "Radau" beschwerte. Es war mitten am Tag und laut war eigentlich nur einer: sie. Um nachzufragen, wo genau ihr Problem läge, ging ich auf sie zu. Meine Kumpels warnten mich panisch: Solange, wie ihr Alkoholpegel das aufrechte Stehen noch erlaube, verhalte sie sich in der Regel sehr aggressiv. Und tatsächlich: Kaum war ich bei ihr angelangt, schubste sie schon drauf los. Bereits angetrunken, die Koordination entsprechend beeinträchtigt, griff ich beherzt nach dem Nächstbesten, um mich daran festzuhalten... - und fiel um - Fetzen ihres Shirts in meiner Hand. Da bestaunte ich, auf einmal auf dem Rücken liegend, den strahlend blauen Himmel und wunderte mich über den abrupten Perspektivwechsel. Was ich nicht mehr mitbekommen habe: Sie hat daraufhin hüpfend und kieksend das Weite gesucht. Okay? Problem gelöst!

Hinterher behaupteten alle, ich sei eine „Kampfmaschine“, hätte sie prügelnd in die Flucht geschlagen. So entstehen aus lauter Unsinn unsterbliche Legenden. Diese allerdings war eine praktische: In der darauf folgenden Zeit hat aus der Gegend nie wieder einer versucht, sich mit mir anzulegen.22

Aber wir waren doch nur Kumpel!

Bis dieser Heini anfing, ununterbrochen dummes Zeug von sich zu geben. Angeblich „glaube“ er nicht an die platonische Liebe? … Aha. Ja. Und wen interessiert das bitte?

Soviel zum Anfang vom Ende einer Freundschaft. Dauernd machte er irgendwelche versteckten Andeutungen, welche ich zunächst mit Ignoranz strafte. Wie mich das nervte! Vor allen Dingen wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

Immer mehr Zeit wollte er mit mir allein verbringen. Umworben zu werden, war zwar aufregend, trotzdem wies ich ihn zurück. Für mich war es bloß Freundschaft. Das äußerte ich auch bei Bedarf.

Es sollte noch schlimmer kommen.

Eines schönen Tages, wir gingen spazieren, küsste er mich - aus heiterem Himmel. Reflexartig stieß ich ihn fort. Eines erweckte allerdings meine Neugierde: Die Berührung hatte ein Lichtblitz hinter meiner Stirn verursacht, worüber ich im ersten Augenblick auch ziemlich erschrak.

« Hallo? » stieß ich hervor,

« Was war denn das? »

« Warum? » begegnete er mir mit einer Gegenfrage, die mich jetzt verwirrte. Zwei Fragen: Was war das für ein Lichtblitz gewesen - wie so ein Stromschlag. Und how to hell kam er auf die Idee, mich zu küssen? Welche sollte ich zuerst stellen? Was würde das für Konsequenzen nach sich ziehen?

Stillschweigend stiefelten wir nebeneinander her. Nach ein paar Grübelminuten beschloss ich, ernsthaft mit ihm zu reden. Aus seinem Verhalten ließ sich der Schluss ziehen, dass er sich nun Hoffnungen machte. Und er war nüchtern. Sein Verhalten erschien nicht richtig zu sein, darüber sollte ihn jemand aufklären.

Wir setzten uns in das sonnengetrocknete Gras einen Hügels. Es knisterte und stach, aber: dieser friedliche Ort schien für ein klärendes Gespräch gut geeignet. Ich holte tief Luft und seufzte.

« Gut. Du hast mich lieb und, ja natürlich, ich dich ja auch, aber: wir sind nur Freunde, okay?? »

Diesen Korb sollte man nicht missverstehen.

« Aaach, komm schon, du willst es doch genauso »

Was genau meinte er mit „es“? Was wollte ich? Und das auch noch genauso? Genauso wie wer, fragte ich mich verwirrt.

« Was will ich? Genauso wie wer? Was meinst du? »

« So naiv kannst du doch nicht sein. »

Was sollte ich sein? Naiv? Aus seinem Mund klang das wie ein Äquivalent zu dumm. Natürlich wollte ich auch nicht für dumm gehalten werden - weder von ihm, noch von anderen Leuten.

Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Achsooo!

Nein,... das wollte ich definitiv nicht. Ernst sah ich ihm in die Augen. Seine Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe. Ich fragte ihn danach. Er erzählte mir etwas von Heroin und Blechen, die man rauchen könnte. Ich sollte es doch auch „mal probieren“. Ich verschob Überlegungen dieser Art auf später. Außerdem, was wollte ich mit den Alkibrüdern zu tun haben? Eigentlich nichts.

Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch ganz fest daran, dass Menschen über so etwas wie ein moralisches Empfinden und ein Schamgefühl verfügten und ebenso wie ich gewisse Grenzen nicht von sich aus einfach überschreiten würden. Langatmig versuchte ich nun also, ihn darüber aufzuklären, dass er eine Frau und (außerdem zwei Kinder) habe.23

Dass ich ihn gar nicht erst begehrte, kam noch dazu - aber so etwas erzählt man nicht, das ist gemein.

Er erwiderte:

« Das ist doch egal. »

Plötzlich sah ich es:

Ein totes und verwesendes Reh24 lag am Ufer des Teiches, an welchem wir saßen.

Ich wollte ihm vorwerfen: Sieh nur, was Du getan hast!!!

Gefühle in Worte zu fassen gelang mir damals nur selten. In Entsetzen verstummt betrachtete ich die Szenerie, beamte mich aus dem Geschehen heraus, schwieg.

 

Seine Frau, welche ich als eine Art von Freundin betrachtete, hatte mir aufgrund meiner Probleme im Elternhaus sogar angeboten, gemeinsam dort zu wohnen. Statt dessen hatte ich meinem Vater dazu überredet, mir eine eigene Wohnung zu finanzieren.

 

Dort besuchte Asterix mich bald darauf regelmäßig. Eines Abends blieb er kleben, schlief volltrunken auf dem Teppich. Am nächsten Morgen schimpfte er mich:

« Eckenpenner. »

Ja, ich hatte mich um zu schlafen wohlweislich so weit wie nur möglich von ihm entfernt hingelegt.

 

Am Abend desselben Tages hatten wir Sex. Natürlich hatte ich schon einmal Sex gehabt - sowohl die Neugierde als auch der Gruppenzwang gebieten so etwas. Wer keinen Sex gehabt hatte, in dem Alter, der konnte nicht mitreden! Meinen pickeligen ersten Freund hatte ich nicht allzu lange betrauert, als er irgendwann meinte, eine deutlich ältere, drogenabhängige (und vor allem vollbusige) Frau sei vielleicht interessanter als ich. In der Regel war es unangenehm - je nach Grobheitsfaktor sogar schmerzhaft. Dem gesellschaftlichen Verständnis nach sollte es so etwas wie Wohlsein garantieren, was bei mir offenbar nicht funktionierte. Aus diesem Grund hielt ich mich nach anfänglicher Hochstimmung25 etwas mehr zurück als meine Klassenkameradinnen und Freundinnen es taten. Meine vermeintlich beste Freundin schlief über Jahre hinweg mit jedem, den sie vor die Flinte bekam. Insbesondere hatte sie es auf all jene abgesehen, die mit mir einen engeren Kontakt pflegten.26

Aber: Auch Dinge, die ich erst einmal nicht verstehen kann, finde ich trotzdem auch erst einmal interessant genug, um sie zu erforschen. Am liebsten unterhalte ich mich eh nur mit Menschen, die etwas anders sehen oder wahrnehmen als ich. Mein Lerneifer kann so weit gehen, Verhalten zunächst eine Zeit lang nachzuahmen, um zu sehen, was dann passiert. Sehr neugierig testete ich eine Zeitlang aus, was geschah, wenn ich diese ganzen illegalen Substanzen einnahm, die ein Teil meiner flüchtigen Bekanntschaften ständig konsumierten. "Ohne Drogen keine geile Party" - diese Auffassung teile ich zwar nicht, wollte es aber genauer wissen. Es interessierte mich. Von einer wissenschaftlichen Neugierde beseelt probierte ich alles Mögliche aus.27

Manche der Frauen, die ich in Lauf meines Lebens kennen gelernt habe, scheinen zu (fast) jeder Zeit und mit (fast) jedem männlichen Wesen zu kopulieren. Sie machen dabei vor (fast) nichts halt. Wie andere einen Kaffee oder eine Zigarette - so brauchten sie ihre regelmäßige Portion Sex. Als wäre es ein Genuss, auf welchen sie weder verzichten konnten, noch wollten.

Im Gegensatz dazu hatte ich immer wieder Probleme mit Berührungen.28 Der Ekel war daran das Allerschlimmste. Dieser Schmerz war nicht nur rein körperlich. Manchmal konnte er einen Tage, wenn nicht sogar Wochen danach noch quälen. Es schüttelte mich vor lauter Abscheu. Was fanden nur alle daran? Sexualität? Liebe? Ein Buch mit sieben Siegeln und drei*???

Auch dieses Mal war ich sehr froh darüber, als es endlich vorbei war. Dennoch. Mit gerade 18 Jahren schien ich unerfahren genug, um wie alle anderen offen und bereit für neue Erfahrungen zu sein.

Bis mir klar wurde, dass das Verrat an meiner Freundschaft zu Asterix & seiner Familie bedeutete, stand ich am nächsten Tag bereits vor deren Haustüre. So wie es immer schon meine Art war, erzählte ich es ihr frei heraus. Sie fing an zu weinen. Das hatte ich nicht gewollt. Musste ich jetzt Anteilnahme zeigen? Wie machte man so etwas?

Als er mich wieder und wieder besuchen kam, ließ meine Phantasie seine beiden Kinder laut nach ihrem Vater rufen. Ich erzählte ihm davon. Es interessierte ihn nicht. Ich wollte ihn nicht bei mir haben, aber mich ebenso wenig ihm gegenüber unhöflich verhalten. Das hatte zur Folge, dass er beinahe ständig vorbeikam. Dann betrank man sich, qualmte einen Haufen Zigaretten und praktizierte das (nach wie vor widerliche) Schallplattenspiel. Er klebte förmlich an mir. Sogar die Vermieter legten bei mir ob der inflationären Anzahl an Besuchertagen förmlich Beschwerde ein. Ich begann zu überlegen, wie ich mich gegen diese Übergriffigkeiten wehren würde können, ohne ihm damit gleichzeitig vor den Kopf zu stoßen.

Seiner Lebensgefährtin machte er zur gleichen Zeit einen Heiratsantrag. So wenig ich ihn auch begehrte: Belogen zu werden, das tat sehr weh. Als ich mich des Schmerzes wegen selbst verletzte, um diesen gewohnter Manier damit kompensieren, entstanden zwei hässliche neue Narben. Dass er mit ihr zusammen sein wollte, hätte ich sogar gut geheißen! Aber mich zu belügen..., das schlug ein wie eine Bombe. So wie mein erster „Freund“, der mir, als er auf einmal mit dem zehn Jahre älteren heroinabhängigen Busenwunder zusammen war, meinte, er müsste mir erzählen, er „liebte“ mich angeblich nicht mehr. Wäre er wenigstens ehrlich gewesen, hätte mir das Ganze nicht sehr viel ausgemacht. Eine andere war besser als ich? Okay! Jeder bekommt, was er verdient.

Wenn Asterix es doch wenigstens mit ihr ernst gemeint hätte! Tags darauf war er wieder bei mir, und riss (im dem Glauben, ich ließe ihn nicht ein) bei dem Versuch, daran hochzuklettern, am Haus die Regenrinne ab. Dabei war ich einfach nur nicht zu Hause! Die Vermieter beschwerten sich bitterlich und weinten über meinen schlechten Umgang: „Solche Leute wollen wir hier nicht.“

Also stellte ich ihn zur Rede:

« Sag mal, was soll denn das? Wieso machst du denn sowas? »

« Naja, ich wollte Dich halt sehen! Tut mir leid. Ich werde das reparieren, kein Problem. »

Idiot! Wenn ich ihn nicht reinlassen wollte, hatte ich vermutlich auch keine Lust, ihn zu sehen? Dann nützte es ihm auch nichts, durchs Fenster einzusteigen! Wie blöd konnte man eigentlich sein?

« Das ist schön. Ich rede aber gerade davon, dass du deine Frau belügst, sie betrügst und, trotzdem du nun mit mir zusammen bist, immer noch mit ihr in einem Bett schläfst. »

« Oooh... » meinte er, als sei ihm das erst jetzt aufgefallen.

« Natürlich..., das meinst du. »

Er überlegte. Lächelte.

« Damit hast du ein Problem, oder? »

Sollte ich etwa keines damit haben??

« Aeh,.. »

Was sollte ich antworten? Ja? Nein?

« Ja, …aeh - Nein..., aeh, also... »

Mein Gott, wie sollte ich das jetzt klären?

« Was hältst du denn davon, dich einfach von ihr oder von mir... Nein, also: am besten von mir - zu trennen. Jeder kann seinen Weg gehen und ist damit glücklich. »

Ich für meinen Teil wäre es auf jeden Fall. Er konnte dort bleiben, wo der sogenannte Pfeffer wuchs.29

« Nein. »

Wie, nein.

« Wie jetzt - Nein? »

Er starrte mich an.

« Das verstehe ich nicht! Nein? Was meinst du damit? Nein,... was? »

Wollte er mich verarschen?

« Hör mal zu. » begann er nun vorsichtig, aber eindringlich mit mir zu sprechen.

« Das ist alles kein Problem. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich finde schon eine Lösung. Außerdem verspreche ich dir hoch und heilig: ab heute schlafe ich auf dem Sofa. Ok? Na? Ist das nichts? »

Wieso? Das war doch nicht mein Problem, wo er schlief. Ach so! Weil ich ihm vorgeworfen hatte, mit ihr in einem Bett zu schlafen und damit die Situation für alle unnötig zu komplizieren? Hmm, ob Sofabeschlafung eine dauerhafte Lösung darstellte? Keine Ahnung.

« Hmm..., ob das so eine Lösung für auf Dauer ist? Keine Ahnung » murmelte ich vor mich hin.

« Aber klar doch! » meinte er, selbstbewusst strahlend, als sei dies schon längst entschieden.

Ich starrte grübelnd in die Ferne, wusste aber das Chaos in mir, welches eindeutige Mängel an logischen Zusammenhängen und innerer Zufriedenheit aufwies, nicht zu sortieren.

 

Wieder kam ich nicht auf die Idee, dass jemand würde lügen können. Trotzdem fuhr ich abends heimlich hin, um zu überprüfen, ob mein von der angepriesenen Realität abweichendes Bauchgefühl mal wieder Recht hatte. Natürlich herrschte auf dem Sofa eine große, gähnende Leere. Warum war ich davon eigentlich so überrascht? Die Menschen waren komisch. Ich verstand nicht, warum sie es taten, aber sie logen. Am nächsten frühen Abend fuhr ich erneut dorthin, klopfte lautstark. Geduckt trat er hinaus, hielt theatralisch seinen Zeigefinger an die Lippen:

« Pschschsch! »

Hektisch sah er sich um. Was machte ihm solche Angst?

« Was ist los? » fragte ich.

Gestikulierend fuchtelte er mit den Händen in der Luft herum:

« Sei leise! Sie soll doch nichts merken! »

Haeh? Wer? Die CIA? Unterhielten die hier etwa ein stehendes Heer? Dafür waren wir eindeutig nicht wichtig genug. Wieder sah er nervös über seine Schulter.

« Am besten du kommst gar nicht mehr hierher. Das ist nicht gut. Ich komme dich besuchen, aber nicht andersherum, okay? Das ist besser. Los, hau schnell ab. Ich kann ja nachher noch mal rum kommen, wenn ich Zeit dazu habe. Ja? Ich melde mich. Ja? Versprochen. Und nun komm, geh schon. Husch, husch! »

Wieso wollte er mir etwas versprechen, das ich mir gar nicht wünschte? Das Gegenteil hätte meinen aktuellen Bedürfnissen eher entsprochen. Er sollte weg bleiben! Ich hatte doch gar nichts davon gesagt, dass er mich besuchen kommen sollte! Wie war er jetzt darauf gekommen? Ach, was war das alles kompliziert!

Laut und vernehmlich sagte ich zu ihm:

« Sie darf aber ruhig wissen, dass ich hier bin. Das, was ich zu sagen habe, ist nicht nur für deine Ohren bestimmt. »

Ich sagte nicht, "mit einem Schwein wie dir will ich nichts zu tun haben". Nein. Ich kündigte einfach nur an, bald fortzugehen. Damit meinte ich bereits die perfekte Lösung gefunden zu haben, ihm gleichzeitig meine Ablehnung zu signalisieren, ihn damit aber nicht zu sehr zu beleidigen. Von den Vorkommnissen schrecklich überfordert plante ich, mich aus der Situation zurückziehen.

« Wohin willst du gehen? »

« Ach..., gaaaaanz weit weg. Verstehst du? »

Er beharrte auf eine Ortsangabe und einer dazu passenden Begründung.

« Dorthin, wo wir uns nicht wiedersehen! » Ganz genau.

DORT HIN, WO WIR UNS NICHT WIEDERSEHEN.

Jetzt war es raus. Das konnte man einfach nicht missverstehen! Er, begriffsstutzig und mit dieser Antwort ganz und gar nicht zufrieden:

« Ich komme mit. »

Bor - war der blöd!!!

« NEIN. »

Deutlich genug?

« Egal, wohin du gehst, ich werde dich finden » sagte er.

Wutentbrannt fuhr ich nach Hause und überlegte. Es war nicht deutlich genug gewesen. Ich muss meinem Ansinnen Nachdruck verleihen, mutmaßte ich genervt und plante daraufhin überstürzt eine Reise. Ich brauchte Abstand! Wenn er mein Bedürfnis nach Ruhe nicht respektieren wollte, musste ich eben dafür sorgen, dass er es tat. Ich war bereits so gestresst, dass es mir damit richtig schlecht ging - was mich in Rage brachte.

 

 

Ab nach Köln. Kaum angekommen, spürte ich, dass er bis zum Hals, - nein - diesmal bis über beide Ohren in Problemen steckte. Eigentlich hätte ich sofort das Handtuch werfen müssen und umkehren, um ihm zu helfen.30 Aber: Warum sollte ich denn auf einmal für das Leben anderer Menschen verantwortlich sein?

 

Wider besseren Wissens entschied ich, da zu bleiben. Ein paar Leute vom Wagenplatz "Wem gehört die Welt" reisten mit mir zu einer Menschenrechtsdemonstration31 in Berlin. Dort feierten wir die ganze Nacht. Einen Tag später verfuhr ich mich auf dem Rückweg. Es ging also erstmal Richtung Rostock. Aufgrund des geringen Füllstandes der Benzinanzeige reisten wir in der Hoffnung auf eine Tankstelle viel zu viele Kilometer nur geradeaus. Osten. Es gab einfach keine. Von Rostock aus ging es dann über Hamburg wieder zurück nach Köln – was für ein Ausflug! Auch für eine gefleckte Raubkatze wie mich ein echter Marathon. Probleme hatte nur der Moment bereitet, der meine schlaftrunkene Beifahrerin mit aller Macht auf ihren inneren Flokati zog - da sich aufgrund der unmittelbaren Nähe die Frequenz ihres energetischen Feldes damit direkt auf mich übertrug. Weshalb ich in diesem Augenblick für eine halbe Stunde auf einen Parkplatz gefahren war, damit sie eine Runde pennen konnte. Solange, wie das dauerte, wartete ich ungeduldig ab. Wieder in Köln, verschlief sie den ganzen Tag in ihrem Bauwagen, während ich mit den anderen weiter am Lagerfeuer saß, bevor ich mich erst gegen Abend wieder auf den Weg nach Hause machen sollte. Es waren mal wieder drei Tage gewesen, ohne auch nur eine Minute zu schlafen. Die meiste Zeit über befand ich mich in Trance.

 

Zurück, erfuhr ich mal wieder in einem Traum sehr detailliert von einer gemeinsamen Wohnung, die ich offenbar bald schon mit Asterix teilen würde. Seine Nachbarn hatten ihn verprügelt. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt war er in den Haushalt seines Bruders geflüchtet, belegte dort ein winziges Gästezimmer. Mit einem schlechtem Gewissen im Schlepptau besuchte ich ihn, um mich zu erkundigen, ob es ihm derweil wieder besser ging. Leider (und das änderte das die Situation von Grund auf) war ich nun plötzlich davon überzeugt,32 dass wir schon bald zusammenziehen würden.

 

Diese Visionen, welche immer so präzise den Blick in die Zukunft preisgaben, hielt ich zunächst für Anweisungen. Aus dieser Perspektive heraus - verhielt ich mich - wenn auch widerwillig, stets fügsam. Damals erlag ich dem Glauben, im Bezug auf das eigene Schicksal kein gottgegebenes Mitspracherecht zu haben. Erwartungsmustern gegenüber hatte ich gelernt, mich als anpassungsfähig erweisen zu müssen. Eigene Wünsche und Vorstellungen waren erfahrungsgemäß in meinem Leben nicht gestattet. Das bringt einem ja schon die Elternfraktion bei: Ein eigenes Empfinden zählt nicht. Alles lief ab - wie, als sei es gar nicht an mir, darüber zu entscheiden, ob ich etwas wollte oder auch nicht. Waren mir die Dinge, die ich vorhersah, nicht nur deshalb mitgeteilt worden, damit meine in diesem Leben anstehenden Aufgaben besser erfüllt werden konnten? „Morgen fahren wir zu Tante Sophie und ihr spielt mit deren verzogenen Kindern im Garten.“ Ob mir das angekündigte Szenario nun gefiel oder nicht, war nicht die Frage. Nur, ob ich es überlebte und eine halbwegs gute Figur dabei machte.

 

Den Menschen, die mich als Blitzableiter für ihre Frustrationen, zum Zwecke der sexuellen Befriedigung oder als Alibi-Gegenüber zum Volllabern benutzten, war es völlig egal, was ich dabei empfand. Die von der Gesellschaft mir gegenüber an den Tag gelegte Haltung33 hatte ich stark genug verinnerlicht, sie mir selbst gegenüber ebenso auszuüben. Um dem Anspruch, den diese Welt an mich zu haben schien, gerecht werden zu können, hatte ich gelernt, meine eigenen Bedürfnisse so konsequent so zu ignorieren, als gäbe es diese gar nicht.34

 

In meinem Ich-tu-was-auch-immer-von-mir-erwartet-wird-Modus tat ich, was auch immer von mir erwartet wurde. So wie nach dem schweren Unfall, als ich, bloß, weil irgendein dummer Lehrer es von mir verlangte, mich ungeachtet des ärztlichen Rats mit einer schweren Gehirnerschütterung zum Unterricht geschleppt hatte. Nicht einmal fernsehen oder lesen sollte ich dürfen, geschweige denn herumlaufen! Trotzdem glaubte ich, zwingend den an mich heran getragenen Erwartungen der Lehrer gerecht werden zu müssen. Also hatte ich gen Schuljahresende bei allen noch anstehenden Klassenarbeiten mit Namen und Datum versehene leere Blätter abgegeben. Keinen klaren Gedanken mehr fassen könnend fühlte ich mich als elenden Versager.

Da ich in dem Schuljahr aber zuvor bereits sehr gute Leistungen erbracht hatte, wurde ich trotzdem in die nächste Klasse versetzt. Eine vollkommen unnötige und obendrein auch sehr gefährliche Aktion, durch welche sich ein dauerhafter Hirnschaden manifestierte. Am Ende der Sommerferien hatte sich an meinem bedauernswerten Zustand leider nicht sonderlich viel geändert.

In der Schule schlecht! Das durfte einfach nicht sein! Da ich mir aber eh schon länger darüber Gedanken gemacht hatte, meine Zeit nicht mehr mit den bedeutungslosen Lerninhalten der Schule zu vergeuden, fiel mir die Entscheidung zu einer alternativen Lösung nicht allzu schwer: Ich wollte auf eigenen Beinen stehen, Geld verdienen... arbeiten!!

Asterix redete den ganzen Tag von nichts als seiner Arbeit, legte dabei einen hohen Grad der Begeisterung an den Tag. Begeisterung war ansteckend. Er verschaffte mir einen Job. Wir zogen in die mir aus meiner Vision bereits bekannte, gemeinsame Wohnung.

 

Nun entzog sich bereits das zweite Kind der elterlichen Vorsehung! Eine Frau auf dem Bau. Ein absolutest No-Go. Das schöne Abitur! Alles ging den Bach runter! Mein Vater war entsetzt. Unnachgiebig pochte er wie eh und je autoritär auf sein Recht, alle Entscheidungen für mich treffen zu dürfen. Ich reagierte störrisch, am Ende verstummte ich komplett. Er war ein alles-dominieren-wollender, auf seine Autorität als Familienoberhaupt setzender Kontrolltyp. Nachdem ich von zu Hause ausgezogen war, tendierte das leider nicht dazu, besser zu werden, sondern wuchs sich fast zu einer Manie aus, welcher ich durch meine unverhofften Pläne ständig neue Nahrung gab. Indem ich nicht das tat, was er mir vorschrieb, zu tun, brachte ich ihn damit ungewollt zur Weißglut.

 

Meinen Rat, dass er, wenn er von zu Hause weglaufen würde, besser nicht erst wiederkommen solle, schien mein Bruder sich sehr zu Herzen genommen zu haben. Trotzdem er im Winter bei aller Kälte nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatte, kam er nicht im Entferntesten auf die Idee, nach Hause zurückzukehren. Nun nutzte mein Vater seinen Einfluss auf unsere Mutter, um ihr einzureden, dass sie ihren Sohn auf gar keinen Fall unterstützen dürfe, um diesen „in seinem Fehlverhalten nicht auch noch zu bestärken“. Was sie, aus dem Bedürfnis heraus, das Richtige zu tun, konsequent befolgte. Von alledem ahnte ich - derweil ebenso wie mein Brüderchen in einen Unabhängigkeits-Clinch mit dem Alles-besser-Wissenden verstrickt, nichts.

 

Asterix und ich teilten uns Wohnung, Arbeitsplatz, und (zum Glück nur sehr selten) auch das Bett. Schön war die "Liebe" immer noch nicht. Im Gegenteil: Froh, wenn diese Art Beschäftigung vorbei war, verkroch ich mich sofort unter dem Kopfkissen, damit er die Tränen nicht sah. Dabei wurde mir klar, dass ich in vielerlei Hinsicht ein Versager war. Wieso bekam ich das die-wichtigste-Sache-der-Welt jetzt nicht hin?35 War es eine Frage der richtigen Technik? Würde ich es lernen können, so wie die Mathematik, oder Auto fahren? Brauchte man eine Lupe? Gab es dafür vielleicht eine Schule oder zumindest vielleicht ein paar Fachbücher? Würde ich mir bei anderen Frauen Rat holen müssen? Letzteres schloss ich bereits beim Gedanken daran kategorisch aus. Wie peinlich.

 

Fest entschlossen, diesem Defizit so, wie ich es früher schon getan hatte, durch besonderen Fleiß beizukommen, nahm ich mir vor, alles darüber zu lernen, um dann als vollendete Partnerin mit Glanz und Gloria ein Comeback zu feiern. Wie in der Geschichte vom hässlichen Entlein, welches als schöner Schwan wieder zurückgekehrt war. Dann würde ich mir meiner selbst nicht mehr so schämen müssen. Ich malte mir aus, dass, sobald ich mich zu so einem richtigen Sexmonster transformiert hätte, mir mein Partner dafür Respekt entgegenbringen würde. Dann wäre ich kein dummes, kleines, hässliches Entlein mehr!

 

Tagträume mischten sich ein, in denen ich das Gesicht eines Mannes vor mir sah: Der Mann, den ich über alles liebte ...? Häh? Wer sollte das denn sein? ... Es war nicht Asterix, der lange blonde Locken hatte. Dieser Mann in meinen Gedanken besaß schwarze Haare und seine Haut wies einen dunklen Teint auf. Komisch. Wie konnte ich denn im Zusammenhang mit einer „großen Liebe“ von jemandem träumen, den ich nicht einmal kannte? Ob ich ihn vielleicht bald kennenlernen würde? Wollte ich das denn überhaupt? Diese Art von Beziehungen zu anderen Menschen waren eine Belastung. Ich war lieber allein.

 

Saufen. Jeden Tag. Zu viel. Jetzt erst erkannte ich, dass Asterix einer Sucht erlegen zu sein schien. Natürlich war mir schon aufgefallen, wie ausgiebig er zu trinken vermochte. Zuerst hielt ich das für einen Party-Modus. Wenn man mal loszog um sich zuzusaufen, hieß das noch lange nicht, dies Wochen oder Monate-lang jeden Tag zu tun.

Nun aber war ich Asterix Gravitationsfeld intensiver ausgesetzt, was bedeutete, beinahe jedes seiner Gefühle und Gedanken miterleben zu müssen36, wenn ich mich nicht gerade absichtlich davon abschirmte. Die Gier, mit der er das Zeug verschlang, hatte etwas vernichtendes, unwiderrufliches - als sei, ob er trank oder nicht, gar nicht seine freie Entscheidung. Er hatte diesem ihn in seinem innersten beherrschenden Trieb nichts entgegenzusetzen. Innerhalb von vier Wochen war der gesamte Abstellraum voll von leeren (Schnaps) Flaschen.

Ich trank mittlerweile nicht mehr mit, sondern thematisierte:

« Hör mal, Du? »

« Ja? »

« Sag mal, du kannst nicht - nicht trinken-, oder? »

Er schwieg.

« Glaub ich jedenfalls. Tut mir leid, aber das ist mir gerade so aufgefallen. »

Nach eriner Schweigeminute antwortete er:

« Ja, da hast du Recht. »

Wie schön, wenn man aufrichtig sein konnte. Darüber freute ich mich in diesem Augenblick. Aber, legte ich diese freudige Stimmung in Ketten - nicht zu sehr darüber freuen, denn: schließlich litt er darunter. Sich darüber zu freuen, wenn jemand anderes leidet, war nicht nett.

« Mir ist das auch schon aufgefallen. Ich kann nicht an einem mit Alkohol gefüllten Verkaufsregal vorbeigehen, ohne etwas davon zu kaufen. »

« Nicht? »

Was hatte denn das Kaufen mit dem Trinken zu tun, fragte ich mich verwirrt.

« Nein. Kann ich nicht! »

Da man mir damals bereits regelmäßig unterstellte, unsensibel zu sein, versuchte ich nun nicht weiter in ihn zu dringen, um ihn nicht versehentlich zu verletzen.

 

Er schien nicht nur Alkohol-abhängig zu sein. Er war auch Laber-süchtig. Den ganzen Tag redete er. Wenn er nach Hause kam und über seine Arbeit sprach, dann stundenlang. Immer fielen ihm irgendwelche Worte ein, welche ohne Unterlass aus seinem Mund strömten. Dazu etwas sagen brauchte ich nicht. Wenn ich auch nur eine einzige kleine Bemerkung - sei es nur ein winziges Geräusch - dazwischen bekommen wollte (ihm z.B. zu sagen, was ich darüber dachte, was seine Kollegen wieder so alles angestellt hatten) hieß es, ich würde "immer soviel reden und nie zuhören". Nur ab und zu brav zu nicken, das reichte schon vollkommen aus.

Wir lebten bloß nebeneinander her. Trotzdem waren wir energetisch miteinander verschränkt.37 Ich wusste immer genau, wo er war und was er dort gerade tat. Bevor er die Tür aufschloss, kündigte ich das an und war außerdem sehr genau darüber informiert, in welcher Stimmung er sich befand und was er erlebt hatte - so dass mich darüber eigentlich auch keiner mehr zusätzlich zu informieren brauchte.

Einmal bekam ich, während ich mich im EG der Baustelle aufhielt, ein Gespräch zwischen ihm und seinen Arbeitskollegen mit, welche sich allerdings im dritten Stock befanden.38 In der Mittagspause trafen wir uns und setzen uns zum Verzehr der erbeuteten Bäckereiutensilien auf die Styroporplatten - von uns auch liebevoll Arschwärmer genannt. Auf der Baustelle im Winter, da war es halt kalt.

Ich erzählte es ihm natürlich sofort. Während er den Mund voll hatte, gab es für mich eine Chance, dann durfte ich auch mal was sagen. Die restlichen zehn Mintuten Pause würden ihm und seinem Gesabbel gehören.

« Du hast dich heute früh mit deinen Arbeitskollegen über mich unterhalten, so zwischen zehn und elf. »

« Ja? »

« Ja. Die haben gesagt, dass deine Freundin aussieht wie ein Kerl. »

« Ja, stimmt! » freute er sich.

« Sie haben sich über dich lustig gemacht, und behauptet, an mir sei nichts dran. »

« Hahaha, richtig!! »

« Und du hast geantwortet: Wenn ihr wüsstet! Und dann bist du weg gegangen. Stimmts? »

« Genau. »

Die Superkräfte setzten ein hartes Gegengewicht zu meinen Anti-Talenten.

 

Es gibt eine Ebene, auf der besteht alles nur noch aus reiner Energie. Diese arrangiert sich einer Laune der Natur nach zu einem Zustand, welcher nicht zwingend unverrückbar fest steht, teils aber sehr stabil auftreten kann. Wie zB als ein Tisch. Die einzelnen Moleküle halten jedoch nur aufgrund ihrer elektrischen Ladung aneinander fest. Das energetische Potential dieser molekularen Ebene spiegeln uns unsere Sinne wieder. In einer synästhetischen Form der Sinneswahrnehmung lassen sich diese Sinne gar nicht klar von einander abgrenzen. Bei mir kann zB. der Tastsinn auch „hören“ und und die Ohren beteiligen sich am sehen.

Auch Gefühle und Gedanken sind energetischer Natur und haben aus diesem Grund auch eine eben deutlich wahrnehmbare Erscheinungsform.

Im Bezug auf Wahrnehmung gelten im allgemeinen gewisse Gesetze: befindet sich etwas in unmittelbarer Nähe, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man es „realisiert“. Außerdem zählt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken - so dass auch weiter Entferntes in den Fokus geraten kann. Dinge zu bevorzugen oder zu vernachlässigen, entscheidet, was am Ende tatsächlich für uns verwirklicht wird. Alles unterliegt dem Prozess der Selektion.39

 

Denkt jemand ganz gezielt an mich, wird in der Regel in der dritten Person formuliert. Ein Verehrer würde nicht: "ich liebe Dich" denken, sondern vielmehr "ich liebe sie", da derjenige nicht weiß, dass ich seine Gedanken wahrnehmen kann und ihn aus diesem Grund nicht korrekt formuliert.

 

Einer meiner (männlichen) Arbeitskollegen behauptete großspurig, mich „innerhalb von nur einer Woche ins Bett“ zu bekommen, während die anderen dagegen hielten. Auf der Energie-Ebene erlebte ich mit, wie sie darüber eine Wette abschlossen. Ich fand das ziemlich geschmacklos und war darüber erbost. Als mich in den darauf folgenden Tagen dieser Kollege immer wieder nach allen erdenklichen Regeln der Kunst anzubaggern versuchte, hörte ich ihm, wenn auch nur mäßig interessiert, zu. So glaubten Männer also, sich Frauen gegenüber interessant machen zu können. Also entweder war ich keine richtige Frau, oder er hatte es tatsächlich nicht drauf.

 

Nun galt es nicht nur zu lernen, mit dieser Informationsflut umzugehen, sondern auch, sie bei Bedarf ganz gezielt auszublenden. Viele Dinge spielten eine Rolle: Wir leben in einer vielschichtigen Welt, die auch aus Illusionen besteht. Zwischen dem, was eingebildet, dem, was Resultat einer Erwartungshaltung, dem, was wirklich ist und dem, was vielleicht Wirklichkeit sein könnte, unterscheiden zu können, ist wichtig.40 Selbst wenn einen das noch nicht überfordern sollte, läuft man sehr schnell ins offene Messer der eigenen Phantasie.41

Meine eigene Wahrnehmung verhielt sich im Bezug zur realen Welt wie ein Spiegel: Der Kaffee für den unangekündigten Besuch war fertig, sobald es an der Türe klingelte.

Weil es mir wichtig war, mein Leben präzise zu planen, nutzte ich die Wahrsagekräfte dazu, regelmäßig einen Blick in die darauf folgende Woche zu werfen. Diese Fähigkeit gebrauchte ich so wie andere Menschen einen Terminkalender.

 

Leider trieb mein derzeitiger Arbeitgeber die Firma ebenso schnell in den Ruin, wie er sie gegründet hatte. Seine Angestellten kamen zum Teil erst um die Mittagszeit herum zur Arbeit oder saßen während seiner Abwesenheit stundenlang Zeitung lesend und marathonfrühstückend im Pausenraum herum, gerne auch zu mehreren - dann ist es einfach kuschliger. Der Chef erschien regelmäßig erst gegen Ende der Mittagspause, um dann traditionell eine Stunde lang herumzuschreien, weil nichts fertig geworden war. Danach zog er wieder ab nach Hause, in der Erwartung, dass dann trotzdem noch jemand auf die Idee käme, zu arbeiten. Motivierend schien sein Verhalten sich jedenfalls nicht auszuwirken. Brüllte er herum, taten alle demonstrativ unterwürfig. Sobald er weg war, rührten sie keinen Finger. Er kontrollierte ja nichts! Für meine Kollegen schien diese Verarsche so etwas wie einen Sport darzustellen. Mir persönlich wäre es zu langweilig gewesen, den ganzen Tag untätig herumzusitzen und ich wäre mir, wenn, dann dabei auch nicht besonders schlau vorgekommen. Also arbeitete ich als Einzige42 brav - verpetzte aber auch niemanden.

Irgendwann wagte ich, ihn für die Art und Weise, die Firma zu führen, leise zu kritisieren. Was da hinter seinem Rücken ablief, nahm ich ja durchaus wahr und wollte helfen. Für diese Unverschämtheit wurde ich sofort fristlos gekündigt. Zwar hatte ich ihn für dieses Gespräch unauffällig auf die Seite gezogen, statt ihn vor versammelter Mannschaft zu demütigen - aber: er wollte unterwürfige Mitarbeiter, keine ehrlichen und fleißigen. Deshalb musste ich gehen - während die Faulpelze und Lügner bleiben durften.

 

Damit war ich das erste mal in meinem Leben arbeitslos. Na so ein Pech aber auch. Die Arbeit hatte mir Spaß gemacht! Wenn sie so anstrengend war, dass hinterher alles weh tat, spürte ich endlich einmal so richtig meinen Körper und hatte damit das Gefühl, am Leben zu sein. Leider gewöhnte ich mich viel zu schnell an die Anstrengung. Um mich dennoch spüren zu können, musste ich mich also immer weiter steigern. Dieser Eifer war auf der Baustelle nicht ganz unbemerkt geblieben. In der Mittagspause fragten mich die leitenden Angestellten der anderen Firmen, ob ich nicht für sie arbeiten wollte. Sie hatten gesehen, was ich schaffte, und standen in den Mittagspausen beinahe Schlange, um mir ihre Angebote zu unterbreiten. Meine Kollegen aber schienen darüber, dass ich in der doppelten Geschwindigkeit arbeitete, fast erbost. Um das Tempo vorzulegen, in dem mein Vorarbeiter arbeitete, brauchte ich gerade mal eine Woche. Um doppelt so schnell wie er zu arbeiten, zwei. Das schlimmste war, wie er zugab, dass er fast ein ganzes Jahr dafür gebraucht hatte, es zu lernen. Das gab er mir gegenüber offen zu.

Regelmäßig kamen aus diesem Grunde ein paar der Arbeitskollegen auf die glorreiche Idee, mir Schläge anzubieten. Zuerst ignorierte ich das und lachte höchstens darüber. Eines Tages ließ sich sogar der großspurigste und selbsternannte Ober-Alpha dazu herab, mir einen solchen Besuch abzustatten.

« Ich hau dir aufs Maul » bot er mir allen Ernstes aus heiterem Himmel an, während ich mit einem Eimer Gipsmasse auf einer Zehnsprossenleiter vor ihm herumbalancierte. Ich schaute ihn überrascht an, besah mir meine Hände. Links den Glätter, rechts die Kelle - beide waren voll. Mein Kopf ging die notwendigen Schritte durch: Werkzeuge verstauen, die Leiter heruntersteigen, sich ggf. zu prügeln, dann die Leiter wieder rauf, um weiter zu arbeiten... bis dahin wäre die kostbare Gipsmasse sicher schon viel zu hart geworden um sie zu verarbeiten und ich hätte sie neu anrühren müssen. Was für eine Zeit, und Materialverwendung, nur um so einer unerfreulichen Tätigkeit nachzugehen! Das alles erschien mir zu aufwendig. Deshalb sah ich nur auf die Uhr:

« Du, in einer Stunde ist Mittagspause. Da hätte ich Zeit ».

Meine Reaktion brachte ihn so zum lachen, dass er die Prügelattacke erst einmal verschieben musste.

 

Noch immer ein untergewichtiger Schmachthaken, arbeitete ich für zwei.43 Mein Tag begann um um fünf Uhr morgens, woran ich mich schnell gewöhnt hatte. Nach Feierabend blieb ich gern länger und stellte Überstundenrekorde auf. Solange ich mich nicht hinsetzte und Pause machte44, gab es kein Problem. Musste ich mich an meinem Arbeitsplatz nicht mit anderen Menschen herumschlagen, war für mich damit alles in Ordnung. Am schwierigsten waren auch hier die Pausen, in welchen man im Kreis der Kollegen Kaffee trinken und sich dabei unterhalten können sollte. Der Vorteil: meistens drehten sich solche Gespräche um Titten und/oder Alkohol. Nichts allzu kompliziertes.

 

Als Meister Pleite mich großspurig feuerte, war es mit Asterix schon länger aus. Eines Tages war er (mal wieder besoffen bis zur Bewusstlosigkeit + ohne Führerschein & mit einem gestohlenen Auto) gen Heimat durchgestartet. Zurück zu ihr. Als er Sonntags darauf von seinem Ausflug wieder zu mir zurückkehrte, war ich trotz aller Hellsicht darüber sehr erleichtert, weil ich mir Sorgen gemacht hatte, ob er im besoffenen Kopf wieder einmal etwas Dummes hätte anstellen können. Erleichtert schloss ich ihn in meine Arme, als er unbeschadet wieder vor mir stand. Danach setzte ich mich in die Küche. Begleitet von großen Hundekulleraugen folgte er mir:

« Ich habe nichts getan! Nichts Böses, ich habe nichts getan!! »

Was wollte er denn jetzt? Doch nicht schon wieder lügen?

« Hey. Es ist doch alles okay. Nur eins: Bitte: Belüg mich nicht. Du darfst mich nicht belügen. Du weißt doch: Ich kenne die Wahrheit! »

Das sah er ein.

 

Voll und ganz damit zufrieden, dass er seine Vaterpflichten für sich wiederentdeckt zu haben schien, lief ich am folgenden Montag fort. Zu groß war die sich mir bietende Chance: Er wollte zu seiner Frau und den Kindern zurück? Ich hätte ihm auf Knien dafür danken mögen! Vor lauter Glück und Erleichterung Tränen vergießend, diesen Abschnitt meines Lebens ohne Weiteres hinter mich gebracht zu haben, unternahm auch ich einen Ausflug in die Heimat. Damit, dass er Anstalten machte, zu seiner Familie zurückzukehren, war diese Angelegenheit geklärt: Ich konnte meinen Kopf aus der Schlinge des sich-für-jemanden-verantwortlich-fühlens ziehen.

 

Ins Elternhaus zog es mich nicht. Die mit ihrem maßgeschneiderten-so-ist-das-Leben45 Denkmustern, Negativ-Erwartungen und Verhaltenskorrektur-Maßnahmen hätten mir in dem Moment gerade noch gefehlt. Ich brauchte unbedingt einen Ort, um zur Ruhe zu kommen, um mich neu zu sortieren. Ebenso erhoffte ich mir von meiner fehlenden Präsenz im Alltag von Asterix, dass dieser in die Lage versetzt werden würde, sich von seiner Vorstellung einer irgendwie gearteten gemeinsamen Zukunft nun auch endgültig zu verabschieden.

 

Eine Woche blieb ich bei Frau Hektik. Dort erwartete mich eine Erfahrung, die man nicht anders als mit "skurril" umschreiben kann. Frau Hektik war die Mutter eines gleichaltrigen Jungen (und dessen kleinen Schwester), mit welchen wir in unserer Kindheit die meiste unserer Zeit verbracht hatten. Wer sie kannte, wusste: Frau Hektik lebte in ihrer eigenen (sehr phantasievollen) Welt. Trotzdem fühlte ich mich bei ihr schon immer wie zu Hause, weshalb ich mich zunächst, so wie früher, einfach ein paar Tage bei ihr im Garten verkroch. Es erschien mir ein geschützter Ort: Um mich zu erholen, geradezu wie geschaffen.

Auf dem großen, unübersichtlichen Gelände standen Bauwagen verstreut. In ihnen alles, was man zum überleben brauchte. Dort störte einen nichts und niemand, außer vielleicht: dem intensiven Gezwitscher der Vögel.

 

Jeden Tag fand ich fand ich immer ein paar Fressalien auf der Treppe, die dort allem Anschein nach für mich deponiert worden waren. Das war aber lieb, wunderte ich mich. Sehr gerne hätte ich mich dafür auch noch bedankt. Einmal bemerkte ich, wie Frau Hektik zum Zwecke der Maßnahme, Nüsse und Früchte für mich dort zu hinterlegen, durch den Garten pirschte. Konsterniert sah ich zu, was da seltsames vor sich zu gehen schien: Während sie sich bemühte, nur ganz leise voran zu trapsen, sah sie sich fortwährnd ängstlich um. Dann das blitzartige Ablegen der Präsente mit darauffolgendem fluchtartigem Entfernen, zu schnell, als dass ich zu einem ebenso eilfertigen Bedanken in der Lage gewesen wäre. Das war mal wieder ungewöhnlich schräg von ihr gewesen. Warum verhielt sie sich so? Wie, als sei es ihre Absicht, auf gar keinen Fall etwas oder jemandem zu begegnen... Es gab also eine Sache, hier in ihrem Garten, sinnierte ich, die ihr offenbar Angst einjagte. Aber was genau fürchtete sie? Sollte ich mich davor etwa auch fürchten müssen? Aber hier gab es doch gar nichts gefährliches! Ich überlegte. Wildschweine, Monster? Wölfe? Ich sah mich draußen um und suchte die Gefahr, fand aber nichts.

 

Tags drauf packte mich bei wundervollem Sonnenschein die Idee, meine (bis dato langweilige und uncoole) schwarze Bomber-Jacke umzugestalten. Im Garten vor dem Haus sitzend, nähte ich an dieser nun eine Kapuze fest. Das sah nicht nur gut aus, sondern war auch sehr praktisch.

Auf einmal wurde es noch skurriler: Auch Frau Hektik zog es in den Garten. Bei dem guten Wetter? Ganz normal. Sie sprach jedoch nicht mit mir, kam noch nicht einmal in die Nähe, sondern zog es vor, in einigen Metern Sicherheitsabstand stehen zu bleiben, um dann von dort aus gaaanz unauffällig in meine Richtung zu linsen. Fast so, wie als wäre ich ein seltenes Tier..., das zu beobachten sie gekommen sei.46 Um ihr Hallo und guten Tag zu sagen, hätte ich schon laut werden müssen. Nicht meine Art. Sie hatte mich ja gesehen, vielleicht würde sie bald später näher kommen.

Aber sie kam nicht. Ich verstand ums Verrecken nicht, wie sich jemand so seltsam verhalten konnte. Was trieb sie denn da für ein verrücktes Spiel?

Wenn die Welt bescheuert sein wollte, dann sollte man sie bescheuert sein lassen. Warm kitzelte die Sonne mir das Haupt & das Gras die Füße. Der Tag war einfach zu schön. Ich nähte weiter an meiner Jacke, lächelte vor mich hin, pfiff, fühlte mich pudelwohl und vergaß die unschöne Situation. Bis hin zu dem Moment, als sich doch noch eine Möglichkeit der Kommunikation ergab:

Oha. Mein Vater kam zu Besuch! Grübelnd schlussfolgerte ich: Frau Hektik hatte ihn über meine Anwesenheit informiert (wenn auch, ohne das vorher mit mir zu thematisieren).

Um Konversation zu betreiben, setzte man sich nun gemeinsam an den Esstisch im Wohnhaus. Da die beiden in einer reinen Geräuschproduktion verblieben,47 die ich noch nie so richtig verstanden habe, saß ich zunächst wie gewohnt einfach nur stumm herum, und hört nicht zu. Das war nicht meine Welt. Das war ihre.

Plötzlich fing Frau Hektik aus heiterem Himmel an zu weinen. Hatte ich etwas verpasst? Normalerweise ging so einem Verhalten ein Streit oder ein mit ein mit dramatischen Geräuschen und Handlungen verbundenes Thema voraus. Wo kam das denn jetzt auf einmal her... Oh...48

Langsam schien ich am Gespräch teilnehmen zu dürfen. Das zumindest meinte ich daraus ersehen zu können, dass sie mit dem ausgestreckten Finger auf mich zeigte. Mehrmals setzte ich dazu an, sie zu fragen, was denn passiert sei, wobei jedoch mein Vater das Gespräch immer wieder an sich riss. Während sie weinte, nickte er militärisch. Hatte er etwas verstanden, was ich nicht zu verstehen in der Lage war? Dann verstand er mehr als ich. Warum nur war sie so verzweifelt? Sie hatte aber doch auf mich gezeigt? Durfte es mich jetzt geben, nahm auch ich am Gespräch teil?

Zuerst würden wir sie trösten müssen. Ich schaute von einem zum anderen. Aus dem unzusammenhängenden Gestammel der vor sich hin jammernden Frau Hektik lies sich im Verlauf eine eindeutige Schuldzuweisung entnehmen. Sie machte mir aus irgendeinem Grund Vorwürfe! Was brachte sie dazu? Dabei sprach sie allerdings in der dritten Person:

« Ich kann das einfach nicht verstehen, das ist ja soo, soo, sooo schlimm ... wieso tuuuUUUT sie bloß so etwas...» Jammer, jammer, schluchz.

Woraufhin ich zaghaft nachzufragen versuchte:

« Was ist denn überhaupt los? »

Meinte sie jetzt mich, oder wen meinte sie mit "sie"? Aber warum zeigte sie bei dem, worüber sie sich zu beklagen versuchte, auf mich?

Noch einmal fragte ich nach, was erneut auf vollkommene Ignoranz stieß. Von diesem irrsinnigen Theater bekam ich langsam zu viel. Ihr Verhalten war so verstörend, dass ich aufstand und mich schlicht und ergreifend fluchtartig entfernte. Das ging über meinen Verstand.

Ich begab mich zurück nach Osnabrück, in die Wohnung, welche bei meiner Rückkehr zum Glück endlich leer stand.

1 (eine australische Wüstenrennmaus)

2 (schimpfte dann mit mir, da ich in solchen Momenten unleidlich zu reagieren pflegte)

3 (Jojo und dessen völlig versifften und verhaltensgestörten Hund mit dem bezeichnenden Namen „Nutte“ - nun war alles voller Hundehaare, welche ich hinterher alle einzeln aus dem Teppich zupfte)

4(selbstverständlich habe ich irgendwann in meinem Leben bemerkt, dass dies Unrecht ist und derlei Tätigkeiten eingestellt)

5 (wie das Summen eines Wespennestes)

6 (der Plan fiel aufgrund Jojos nicht mehr dran Erinnern - wie man Fahhrad fährt - sowieso ins sprichwörtliche Wasser)

7 (aus Büchern erfuhr ich -erst sehr viel später - dass diese Gedankenform "Astralkörper" genannt wird. Solange man lebe, sei dieser durch ein silbernes Band wie ein mit Helium gefüllter Ballin mit dem physischen Körper verknüpft, hieß es)

8(weshalb ein Großteil dieser Erfahrungen im Gegensatz zu mir beim normalen Menschen ausschließlich während des Nachtschlafs auftreten und aus diesem Grunde meist dem Vergessen zum Opfer fallen)

9 (Stufe zwei: so reden zu müssen, wie es anderen gefällt)

10(„Roderick Andara Der Hexer von Salem“)

11(in einem von William Stillman publizierten Sachbuch werden all diese (auch meine) besonderen Fähigkeiten beschrieben. Bis ich dieses Werk im Jahr 2011 in die Hände bekam, hielt ich das bei mir für einzigartig)

12(eine Charlston Ente in rot schwarz, die ich dann gegen einen grünen Golf 1 tauschte, da die Ente viel zu verrostet war)

13 (wir befanden uns noch nicht im Zeitalter der Mobiltelefone, man musste sich, um 112 zu rufen in einen Haushalt begeben, einen sogenannten „Hörer“ abnehmen und die Zahlen eintippen)

14 (Krankenhäuser! Würg)

15 (außerdem so ohne jede Logik, ...so war ich doch sonst nicht??)

16 (kennt jeder. Man bemüht sich, einen Gedanken zu fassen, kommt auf alles Mögliche, nur nicht auf das, woran man sich eigentlich erinnern will)

17 (Affären sind viel ungefährlicher als Liebesgeschichten)

18 (=> vor allem eines, in dem es an Bier und Zigaretten nicht mangelte)

19 (=> es hatte goldgelbe Fransen und an den Ecken hingen dicke Bommeln)

20(grüß Dich, alte Sau!)

21 (in welchem u.a. auch diverse Möbelstücke entsorgt wurden)

22(unterhaltsamer Nebeneffekt: Jahre später berichtete mir mein Bruder, auch bei ihm, der zuvor eine ganze Menge mit Übergriffen der Dorfjugend zu tun gehabt habe, sei: „auf einmal Ruhe“ gewesen. Während meine Willigkeit der zweifelhaften Ehre des „Kampfmaschinen“ Titels zuteil, wurde aus ihm gleich ein „Martial-Arts-Experte“)

23 (Allerdings stellte sich mir die Frage: Wieso zum Henker musste ich ihm das eigentlich erklären??)

24 (Ich denke oft in Bildern, diese werden passend zu meiner emotionalen Grundstimmung erschaffen: Rehe stehen in meiner geistigen Welt für Sanftmut. Diese Eigenschaft verhält sich im Rahmen eines menschlichen Miteinanders oft ebenso scheu wie die wild lebenden Tiere im Wald, welche sich nur zeigen, wenn alles ruhig ist und keine offensichtliche Gefahr droht)

25(„ich habe es getan“ - also gehöre ich dazu)

26( War es Eifersucht? Ein besonders krasser Fall ist mir im Gedächtnis geblieben: Ich hatte auf einer unserer „Parties“ einen etwas älteren, Führerschein bestückten Drogenabhängigen kennengelernt und mich tatsächlich verliebt. Er war impotent. Ich liebte ihn so sehr, dass ich Gefühle entwickelte und allein durch einen Kuss von ihm bereits einen Orgasmus bekam. Das war eine interessante Erfahrung: Liebe ermöglichte Nähe. Meiner besten „Freundin“ fiel nichts besseres ein, als ihn promt zu verführen. Nach 8 Wochen mit mir unterbrach er seinen mir zuliebe begonnenen Drogenentzug. Ein paar Tage später kam sie zu mir und beschwerte sich, dass er „ihn nicht hoch“ kriegte - nach dem Motto: -was hast du mir da denn bitte geliefert-)

27 (so kam es, dass ich der Drogenberatung, zu der meine Eltern mich meines Umgangs wegen schleppten, mehr über Drogen hätte erzählen können, als sie mir)

28 (manch ein übergriffiger Gierlappen, der sich ein zu nahe an mich herantreten erlaubte,, hat schon meine spitzen Ellenbogen zu spüren bekommen und hinterher wohlweislich mehr als nur einen Meter Abstand von mir gehalten)

29(auch so ein Ding - warum sagte man das eigentlich? Und dann natürlich die Frage: welcher Pfeffer war gemeint? Der rote? Der schwarze?)

30 (die Not von Personen, welche mir nahe stehen, spüre ich. Dies schien eine eine äußerste Not zu sein. Wenn man dergleichen wahrnehmen kann, kommt einem das Ignorieren einer solchen Information wie eine unterlassene Hilfeleistung vor)

31 (Free Abu Jamal? Wer zum Teufel war Abu Jamal? Keine Ahnung, mir auch völlig egal - ich fuhr einfach gerne Auto)

32 (wenn auch davon nicht gerade begeistert)

33 (welche daraus bestand, mich zu übergehen)

34 (erst zu einem späteren Zeitpunkt sollte ich herausfinden, dass das, was wir Schicksal nennen, von Wahrscheinlichkeitspotentialen beherrscht wird, aber nicht unabänderbar ist)

35 (ich habe ein wirklich ausgeprägtes Anti-Talent für Angelegenheiten, die andere mit Leichtigkeit beherrschen. Zum Beispiel schaffe ich es nie, normal zu essen, ohne mich dabei von oben bis unten zu bekleckern. Selbst dann nicht, wenn ich mir ganz besonders viel Mühe dabei gebe. Ich bin so ungeschickt, dass ich ständig hinfalle, alles fallen lasse und überall gegen laufe – vielleicht reserviere ich mir nochmal einen Guinessbuch Eintrag im sich-den-Kopf-stoßen)

36 (was sehr lustige Nebenwirkungen hatte: wir kaufen z.B. häufig - ohne uns dabei miteinander abgesprochen zu haben - haargenau zur gleichen Uhrzeit haargenau dasselbe ein. Selbst exostische Produkte, die nicht regelmäßig verzehrt wurden, gab es dann auf einmal doppelt)

37 (heute weiß ich, dass das gar nicht mit ihm als Person zusammen hing. Dieses Phänomen zeigt sich bei jedem Menschen, der mit mir vermehrt Zeit verbringt)

38 (für alle Zweifler: überall liefen laute Maschinen. Unmöglich hätte dies rein akustisch an mein Ohr vordringen können. Ich „hörte“ dieses Gespräch in meinem Inneren.)

39(Was erschwerend hinzu kommen kann, ist die Einbildung)

40 (das galt auch für das, was andere sich einbildeten oder realistisch einschätzten! Auch das nahm ich wahr!)

41 (deshalb sollten auch nur Menschen, die damit umgehen können, mit halluzinogenen Substanzen experimentieren => wobei sie die eigentlich gar nicht mehr brauchen!)

42 (wofür ich von meinen Kollegen, wie als gäbe ich ein schlechtes Beispiel ab, schief angesehen wurde)

43 (worüber ich mir bei der Gelegenheit Gedanken machte: Wie konnte es sein, dass ich soviel leistungsfähiger war? Als brannte mein Licht viel heftiger als das von anderen, wie eine Kerze mit einem zu langen Docht. Ob das vielleicht nicht nur Vorteile mit sich brachte? Denn sonst hätte es sich bei der Geschwindigkeit, dir mir zu eigen zu sein schien, bei der Hälfte der normal-menschlichen Erdenjahre ausgebrannt. Wäre das der Preis, den ich für meine Superkräfte zu zahlen haben würde?)

44(dann schlief ich in der Regel sofort ein)

45 (bzw.: so-hat-es-zu-sein)

46 (und nicht ein Mensch, den sie seit frühester Kindheit kennt - zu dem man auch normalerweise einfach hingeht und guten Tag sagt)

47 (bei der ritualisiert irgendwelche leeren Floskeln ausgetauscht wurden)

48 (es tat mir natürlich leid, dass sie traurig war. Aber ich weiß, wenn jemand weint, nie, wie ich mich verhalten soll. Oft kann ich auch intensives Lachen und Weinen erst nicht auseinander halten, da muss man ganz vorsichtig sein – wenn man nicht weiss, was los ist)

 



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