6. Prostitutions-Vertrauen (96/97 Exkursion in die Fremde + Heimkehr)
Es handelte sich um eine private Organisation, welche sich in der Hauptsache Übersetzungen und Interpretationen von Werken anderer Autoren widmete, welche sie gemeinsam mit selbst verfassten Sachbüchern zum Verkauf anboten. Da sich ein missionarischer Charakter in ihre Arbeit eingeschlichen hatte, wurden Seminare von ihnen beworben. Das andere, aus Berlin stammende Mädchen und ich stellten die beiden einzigen Teilnehmer dar. Von Freunden (oder "Arbeitskollegen") der beiden übersinnlichen Autoren empfangen setzen wir uns in einen Kreis. Es begann mit einer lockeren Vorstellungsrunde.
Irgendwann wurde es ernst. Zunächst klärte man uns darüber auf, wie wir die für die spirituelle Arbeit notwendige innere Klarheit erreichen würden.1 Auch wenn sich mir der Zusammenhang nicht gleich erschloss, war ich gerne dazu bereit, etwas über Yoga und Meditation zu lernen. Man erklärte uns, dass es zwei Wege gäbe: Entweder wähle man den "linken" oder "rechten" Pfad (wobei der eine selbstverständlich ein verachtenswerter2 und der andere der der Erleuchtung und strengen Disziplin)3. Der eine Weg sei einfach (deswegen würden diesen die meisten wählen), der andere (natürlich) steinig und schwer. Habe man erst eine Entscheidung getroffen, sei ein späterer Wechsel nicht empfehlenswert. Mit erhobenem Zeigefinger wurde gewarnt: Die Risiken für den, der diese Weiterentwicklung nicht mit der dafür erforderlichen Gewissenhaftigkeit betriebe, wären nicht unerheblich, die Ausbildung außerdem nicht für jedermann gleichermaßen geeignet. Litte man beispielsweise unter psychischen Problemen, solle besser Abstand genommen werden. Wie gut, dass ich keine psychischen Probleme hatte!
Man lebte sehr einfach und zurückgezogen, legte eine mönchsartige Disziplin an den Tag. Sie glaubten daran, dass Emotionen einer normalen Gesellschaft Schmutz mit sich brachten (von dem man sich daraufhin zeitraubend und kompliziert wieder befreien müsse). Meine erste Reaktion war, insgeheim alles als dummes Wichtigtuer-Geschwätz abzuwerten. Das erschien mir angemessen. Keiner ist gezwungen, sofort jeden Blödsinn zu glauben oder dabei mitzumachen. So hatte ich es bislang in meinem Leben gehalten und war gut damit gefahren. Eines jedoch wurde sehr schnell klar: Das, woran hier gearbeitet wurde, hatte nichts mit irgendeinem berauschenden Effekt, dem man Hurrah-rufend mit weit geöffneten Armen hinterher sprang, zu tun. Steinig und schwer also: Entsagung von Ablenkung/ irdischen Vergnügungen, materiellem Reichtum (nur das Nötigste war erlaubt), etc. Dazu der gnadenloseste Konfrontationskurs mit sich selbst.4 Außer den beiden Lehrgängen, an welchen auch ich teilnehmen durfte, kam es zu keinen weiteren Treffen.5
Das, was ich in der kurzen Zeit dort bereits gelernt hatte, führte zu einem weiteren Anwachsen meiner (ohnehin schon enormen) sinnlichen Aufnahmekapazitäten. Es waren ganz einfache (und allgemein bekannte) Methoden zur Vertiefung von Entspannung, Konzentrations-Übungen wie Meditation, Körpermeditationen wie Yoga, Bioenergetik, progressive Muskelentspannung und autogenes Training. Also ein Haufen nützliches Zeug, was mit Okkultismus (den das gemeine Volk mit dem Begriff "Magie" assoziiert) nicht das Geringste zu tun hatte.6 Selbstverständlich gab es auch ein wenig Aufklärungsarbeit im Bereich magischer Rituale,7 was aber nichts von planloser Okkultpfuscherei hatte (die ich bis heute vehement ablehne8). Es ging viel elementarere Dinge, wie zum Beispiel die wichtige Aufgabe von Symbolen und die Kraft der Imagination. Crowley sei durchgedrehter Egomane gewesen, außerdem nicht gerade respektvoll im Umgang mit Frauen, erzählte man uns bei der Gelegenheit mit erhobenem Zeigefinger. Bei allem, was wir in unserem Leben noch lernen und studieren sollten (und allen Vorbildern, die wir uns wählten) wäre es das Beste, immer kritisch zu bleiben, Dinge aus einer gesunden Distanz heraus zu betrachten. Crowleys Werke waren bloß einige von Vielen, aus denen man sich bediente. Alles, was sinnvoll und nützlich erschien, wurde ins Repertoire mit aufgenommen.
Den Weisungen entsprechend las ich unterschiedlichste wissenschaftliche9 Abhandlungen, übte an einfachen Dingen, Hellsicht zu prüfen,10 meditierte und betrieb gewissenhaft und regelmäßig Yoga, Pranayama, Bioenergetik, u.a.. Durch das daraufhin unvermeidliche Lösen von emotionalen Blockaden durchlebte ich verschiedene Aspekte meiner Kindheit noch mal und konnte mich von alten Traumata lösen. Auf einmal erinnerte ich mich auch wieder an das erste Mal, bei dem ich als Kind den Arsch versohlt bekommen hatte.11
Durch das Training wuchs eine unheimlich große, innere Kraft in mir heran.12 Bei dem, was nun mit mir passierte, handelte es sich um eine Metamorphose: Zu erfahren, dass es im Prinzip kein Wirken im Verborgenen gibt..., nichts von dem, was man fühlt, denkt, tut, jemals in Vergessenheit gerät, stellt eine Erkenntnis dar, die in ihrer Wucht kaum vorstellbar ist. Und doch ist es so: Allein die Nuance eines Gedankens ist von Bedeutung.13 Zu erfahren, dass jede Handlung eine Wirkung hat, kein Gedanke, der einmal gedacht, ungeschehen gemacht werden kann, nichts von dem, was auf der Welt geschieht, bedeutungslos ist, ist erschütternd. Was man auch tut, alles hat Konsequenzen (selbst das Nichtstun). Wird einem das bewusst ( => da hatten unsere Lehrer Recht) gibt es tatsächlich kein Weg mehr zurück in den Kokon der Unwissenheit. Streift die Schlange ihre zu eng gewordene Haut ab, hat sie keine Verwendung mehr dafür.
Jede zusätzliche Kraft, die man erhält, muss auch mit einem deutlichen Mehr an Verantwortungsbewusstsein einhergehen. Dafür gibt es viele Beispiele: Führerschein, Waffenschein, Abitur... Auch in der spirituellen Welt gibt es derartige Prüfstationen, in welchen man sich bewähren muss, bevor man eine Erlaubnis dafür erhält, weiter zu machen. Einen normalen PKW kann man nicht mit Kerosin auftanken! Dazu muss notwendigerweise auch das Fahrzeug gewechselt und außerdem gelernt werden, wie dieses bedient wird (möglichst, ohne es dabei vor die Wand zu fahren). Meine normalen Verhaltensweisen so, wie ich es gewohnt war, weiter zu koordinieren, ergab keinen Sinn. Ein Blinder, der plötzlich zu sehen vermag, braucht nun weder mehr Stock noch Blindenhund. Er wird aber auch mit der Welt, die sich ihm dann eröffnet, erst einmal komplett überfordert sein und bei jedem weiteren Schritt, den er macht, von Grund auf umdenken müssen. Diese natürliche Reaktion sollte auch bei mir erst einmal eine ganze Weile andauern. Es erschien mir, als sähe ich die Welt noch einmal, aber plötzlich mit geöffneten Augen. Zum ersten Mal verstand ich diese Art und Weise zu leben, in Zurückgezogenheit eines engen, ausgesuchten Kreis. War diese Abgeschiedenheit notwendig? Sich in einem geschützten Rahmen vom Alten zu lösen, bis man sich etwas daran gewöhnt hatte.
Vor allem ein Tutor/geistiger Führer, hat mir zu dieser Zeit gefehlt. Ein Mensch, der mir Halt und Selbstvertrauen hätte geben können. Jemand, der auf mich aufgepasst hätte und die einzelnen Phasen (und mögliche Auswirkungen) des Prozesses mir mit hätte diskutieren können. Der mich hinterfragte, käme ich mir erleuchtet vor - oder sich über meine Fortschritte freute, bildete ich mir ein, zu scheitern. Spirituelles Wachstum benötigt seine Zeit. Die Geschwindigkeit, die man hierbei an den Tag legt, lässt sich mit der des Wachstums einer Pflanze vergleichen. Wer ohne viel Aufwand schnelle Ergebnisse erzielen möchte, ist hier an der falschen Adresse. Weil das Bedürfnis nach schnellen (u. v. a. sichtbaren) Ergebnissen bei den meisten jedoch an erster Stelle steht, beginnen viele Menschen (in der Regel schon im Kindesalter) zunächst mit Zerstörungsmagie.14 Neiden, beschimpfen und zerstören ist keine Kunst. Das kann jeder. Dafür braucht man sich nicht sonderlich anzustrengen.
Wenn man etwas Neues lernt, kann es von Vorteil sein, sich erst einmal mit einer nicht-so-hohen-Geschwindigkeit auf die Nase zu legen. Um so höher die Fliehkraft, um so intensiver gestaltet sich der Fall. Über alle Entwicklungen so etwas wie ein Tagebuch zu führen, erwies sich als hilfreich. Gerade da, wo es aufwühlt und vielleicht sogar weh tut, sollte man ganz genau hinsehen. Lassen wir uns von irgendetwas kratzen, nützt es nichts, die Verantwortung dafür in ein vermeintliches Außen abzuschieben - die Fernbedienung zu unserem eigenen Film haben wir ausschließlich selbst in der Hand. Jemand anderes hat keinen Zugriff darauf.
Zunächst erfolgte die Loslösung: Überlebenssysteme, mit Hilfe derer ich normalerweise den Alltag bewältigte, mussten neu ausgerichtet und angepasst werden. Gewohnheiten verleihen Halt! Um den nächsten Schritt gehen und mich davon lösen zu können, musste ich diese zunächst erkennen. Ein Leben lang auf ein Verhalten hin konditioniert, legt man das nicht von jetzt auf gleich einfach ab. Da der Alltag aus unendlich vielen kleinen Konditionierungen besteht, kann das sich-dessen-bewusst-Werden ein durchaus langwieriger Prozess sein. War ich besonders verunsichert, musste ich mir selbst zwischendurch klar machen, dass soweit alles noch im grünen Bereich, nach wie vor fünf Zehen zum damit wackeln an jedem Fuß sowie der Kopf noch auf meinen Schultern waren. Diese neue Existenzform stellte für mich im Gegensatz zu dem, was ich gewohnt war, ein Unterschied wie Tag und Nacht dar. Mit Erleuchtungen jeglicher Art so umzugehen, als sei das nur ein ganz normaler Nebeneffekt15 und sich über diese Erkenntnis nicht im Größenwahn zu verlieren (um daraufhin wie ein Hubschrauber abzuheben), war eine der vielen Hürden, die es zu nehmen galt.16
An dieser Stelle lernte ich jemanden noch einmal neu kennen: Es gibt einen Vertreter, der in der spirituellen Welt für mich immer "der schwarze Bruder" gewesen ist. Er stellt so etwas wie einen dunkler Zwilling unseres Selbst dar, einen Schatten.17 Als Teil des Selbst und gehört er so eng zu unserem Wesen wie die eigenen Gene. Da er derjenige ist, der sich als von der Schöpfung getrennt empfindet, strebt er immer einzig und allein danach, sich ihrer wieder zu bemächtigen, sehnt sich danach wie ein kleines Kind nach seiner Muttermilch. Dabei probiert er einfach alles aus: er fordert, brüllt, kämpft, taktiert, schmeichelt, führt Kriege. Er wäre derjenige gewesen, der den "linken Pfad" wählte.
Wer glaubt, er sei der unumschränkte Herr seiner Triebe und Begierden, ist ein Blender. Dieses "Tier" in uns, welches niedere Instinkte und Begierden verkörpert, sollte man nicht unterschätzen.18 Bekämpft man diesen Teil von sich, wird am Ende nicht er der Beherrschte sein, sondern umgekehrt. Judo lehrt: Siegen durch nachgeben. Nachgeben dient in diesem Fall nur dem Zweck des Besänftigens und Einlullens unseres schwersten Gegenspielers: uns Selbst.19 Heilung tritt an Hand der Erkenntnis, Teil eines großen Ganzen zu sein, auf den Plan. Bei Eintreten eines höheren Bewusstseins stellen wir fest, das alles Ausdruck einer höheren Ordnung, eines universalen Willens ist. Ein Wille, der (selbst dann, wenn uns das nicht immer so ganz klar ist) auch der unsere ist. Dafür muss man sich aber nicht von sich abwenden, sondern zu.20
Eines Nachts träumte ich einen Traum. In ihm befand ich mich an einem Strand, begegnete dort einem weisen älteren Herrn. Wir unterhielten uns, gingen durch die Dünen, bis wir eine Gruppe Menschen trafen. Diese, in Reih und Glied aufgestellt, suchten im Sand nach Gold. Und tatsächlich! Zwischendurch stieß einer von ihnen jauchzend auf eine vermeintliche Goldader. Leider stellte sich sehr schnell heraus, dass es sich um ein illusorisches Glück handelte, welches ebenso wie der Sand durch das Sieb rann. Es glänzte zwar schön, blieb aber nicht erhalten. Dies passierte mehrere Male hintereinander. Trotzdem es immer wieder dasselbe Spiel, gruben die Menschen wie darauf dressierte Maschinen weiter und weiter. Wieso lernten sie nicht? Sollte ich ihnen helfen? An der Stelle warnte mein Begleiter mich eindringlich, dies nicht zu tun. Aber warum sollten diese armen Menschen weiter ihre kostbare Lebenszeit und Kraft dafür verschwenden, etwas derart Sinnloses zu tun? Er erklärte mir, dass diese Menschen es als ihr Glück empfänden, ewig danach zu suchen. Sie aufzuklären, käme bei Ihnen so an, als wollte es ihnen jemand wegnehmen. Als ich, diese Warnungen in den Wind schlagend, hinging, um sie über die Sinnlosigkeit ihres Tuns aufzuklären, wurden sie bitterböse.
Dieser Traum war zwar sehr symbolisch, aber einfach zu verstehen: Das (Blatt-) Gold steht hier für (leicht vergängliches) Lebensglück. Es gibt zwei Sorten von Glück:
Eines, welches immer da ist. Wir brauchen es nur zulassen. Es kommt zu uns in Augenblicken, in welchem wir uns intensiv in der Gegenwart wiederfinden.21
Dem entgegen gestellt ist die Vorstellung vom käuflichen Glück, mit welchem die innere Leere (die man empfinden kann, wenn einem dieses abhanden gekommen zu sein scheint) wieder auf zu füllen gedenkt.22
Die Möglichkeit, abhanden gekommene Lebendigkeit über irdische Reichtümer, Prestige, Macht und Statussymbole zurück kaufen zu wollen ist zwar ein weit verbreiteter Irrglaube, aber auch ein solcher kann motivieren. Erkenntnis wäre hier zwar schon der erste Schritt zur Besserung, aber: auch eine Illusion verleiht Halt. Manche richten ihr ganzes Leben danach aus! Erkenntnis kommt in diesem Fall einer Bedrohung gleich, bedeutet nicht Erlösung, sondern Verlust (Erlösung => Erlöschung).23 Die vom Licht (u.d. Schöpfung) separierten, unterbewusst agierenden Ich-einheiten lieben die Vorstellung der allgemein herrschenden geistigen Umnachtung. Man hält an der für sich erwählten Dunkelheit fest. Steht seine Existenz auf dem Spiel, nimmt einen der schwarze Bruder auf die Hörner. Eigens zu diesem Zweck wurde irgendwann einmal das sogenannte Böse erfunden. Alle Erwachten24 gehörten zu jenen, die zunächst zum Feind auserkoren und gegen die im Anschluß daran zum Krieg aufgerufen wurde.25 Das enorme Wissen der alten Völker in den letzten Jahrhunderten wurde systematisch nahezu ausgelöscht.26 Deshalb hatte mich der weise alte Mann in meinem Traum aufgesucht und gewarnt. Ich wurde den Menschen damit nicht nur nicht helfen, sondern mich auch selbst in Gefahr begeben. Ich durfte das erkennen, mich aber in das, was sie taten, nicht einmischen.
Und wieder hatte ich einen Traum:
Auf der Suche nach einem Ort, an dem ich Ruhe finden würde, betrat ich eine Höhle in einem Berg. In dieser befand sich eine weiße Schlange, vor der ich mich in meditativer Pose auf die Knie begab. Sie hob ihren Kopf, sah mich in ihrer unendlichen Weisheit an und nickte mir zu. Auf ihrem Kopf befand sich eine goldene Krone.
Wollte ich weiter in einer Scheinwelt leben und wider besseres Wissen so tun, als gäbe es mein inneres Auge, welches diese so gnadenlos demaskierte, nicht, oder... wollte ich meine Illusionen verlieren. Ich beschloss, mich fernab der Zivilisation zu begeben. Dafür brauchte ich nur noch ganz offiziell mein WG-Zimmer zu kündigen, all mein Hab und Gut in eine Mülltonne zu werfen oder zu verschenken. Der Rest von meinem Zeug passte bequem in eine Segeltuchtasche. So kam ich in den Wald. Nimmt man mehrere Kilometer weit jedes Lebewesen wahr, versteht die Sprache der Tiere und Pflanzen, gibt es dazu kaum eine Alternative! Die Natur selbst ist rein. Das war der denkbar beste Ort für mich.
Bislang hatte ich in einer Art zweidimensionalen Welt gelebt. Bereits sehr daran gewöhnt war es beinahe schmerzhaft, als mich diese Perspektive auf einmal verließ.27 Es handelte sich um jene Art von Leid, welches alle Veränderungsprozesse der Welt begleitet. Selbst das Loslassen von schlechten Angewohnheiten ist immer auch ein Verlust. Ich wusste allerdings nur zu genau, dass es für diesen Vorgang an der Zeit war und empfand keine Angst. Im Hier und Jetzt gab es die Möglichkeit, diesen Weg zu gehen. Sie wahrzunehmen, war ein logischer Schritt. Welch ein Desaster. Dass ich die Einsamkeit suchte, sie benötigte, um dieser Metamorphose ohne Störungen und weltliche Ablenkungen Raum verleihen zu können, war (ohne mein Wissen und ohne mein Zutun) "psychotisch". Ich sah das Problem nicht: Mein Rückzug hatte nichts mit Realitätsflucht, sondern etwas mit Realitätsfindung zu tun.28 Was andere über mich dachten, daran verschwendete ich keinen Gedanken.
Wie alle anderen Lebewesen sind auch wir Menschen von Natur aus empfindsam. Statt uns in unserer Verletzlich,- und Vergänglichkeit so zu akzeptieren, wie wir sind, scheinen viele zu glauben, an dieser Stelle auf (äußeren) Schutz angewiesen zu sein. Die glorreiche Stimme der Mehrheit, welche an die höhere Ordnung gesellschaftlich akzeptierter Dogmen glaubt, verleiht vermeintlich Legitimation - geliehene Stärke. Woran so viele glauben und ihr Handeln ausrichten, das kann ja so falsch nicht sein - sonst würden sie es ja nicht tun, so die unumstößliche Logik dieses allgemein praktizierten Prinzips. Instinktiv glauben wir an die Intelligenz der Massen. Also passt man sich dieser an und macht fremde Werte, Eigenschaften und Meinungen zu den eigenen. Damit kann man sich einen regelrechten Panzer erschaffen, der einen, plötzlich über allem stehend, vermeintlich unbesiegbar macht. Sein Name: Vernunft.
Als Sündenbock erlebte auch ich im Rahmen einer groß angelegten gesellschaftlichen Intrige noch einmal eine Art Wiedergeburt, die es in sich hatte. Der Betreffende, so glaubt man, darf nicht nur, nein, er muss sogar gesellschaftlich stigmatisiert werden, um ihn dafür, dass er so ist, wie er ist, zu strafen. Einen solchen Stempel auf die jeweilige Person drauf zu bekommen, ist gar nicht so schwer: Gerüchte und Geschichten zu verbreiten ist schließlich jeder in der Lage. Welche Folgen hat das? Eine solcherart stigmatisierte Person wird auf Lebenszeit zum Freiwild erklärt. Jemand, der offiziell für geisteskrank um-etikettiert wurde, wird nicht nur zur Hatz freigegeben. Er hat auch keinen Anspruch mehr auf eine eigene Perspektive, Entscheidungen oder Gefühle. Die werden ihm nun im Namen des Guten von außen aufoktroyiert, das Recht auf eigene Wahrnehmung und ein Anders-Erleben mit sofortiger Wirkung entzogen. Auf Lebenszeit muss nun den Vorstellungen und Wünschen Außenstehender Modell gestanden werden.
Erwartungen, denen sich das nach Gütdünken beliebig formbare menschliche Stück Knete nun nach zu richten haben wird, sind ziemlich willkürlich, von Person zu Person (von Wahrheit zu Wahrheit) verschieden. Jeder, der sich nun das Zepter in der Hand zu halten glücklich schätzen darf,29 urteilt hierüber stimmungsabhängig nach Lust und Laune.30 Eine Tatsache, die die Orientierung für Betroffene zu einer schier unlösbaren Aufgabe macht, denn: Launen folgen keinem festen Prinzip! Sie sind nicht nur sehr wenig nachvollziehbar, sondern obendrein auch noch ziemlich unbeständig.31
Hierzuland möchte sich einjeder gern als Aristokrat - mächtig und privilegiert betrachten dürfen.32 Materieller Reichtum verspricht den Weg dorthin zu ebnen. Hinzugehen und sich ein rein materielles, goldenes Krönchen auf den Kopf zu setzen, weil man sich dadurch irdische Vorteile erhofft, hat mit dem, wofür dieses ursprünglich einmal stand, nicht mehr das Geringste gemein. Was hat ein Mehr an Reichtum nun mit einem Weniger an Rückkrad zu tun? Gold gilt auch in der spirituellen Welt als ein Inbegriff von Vollkommenheit. Das sogenannte "Kronenchakra",33 ein über dem Scheitel liegendes Energieschloss, stellt das Tor zum göttlichen Verständnis dar. Sind wir mit dem Licht verbunden, ohne uns als von ihm separiert zu empfinden, sind die Bedürfnisse unseres dunkeln Zwillings aber plötzlich gar nicht mehr von Relevanz! Eine Folge von Erkenntnis ist, an irdischen Verlockungen kein Interesse mehr zu entwickeln.34 Sich selbst zu kleinen Aristokraten krönende Nachahmer (ohne irgendein tieferes Verständnis für das, was sie eigentlich dort nachäffen) meinen sich nun das Recht heraus nehmen zu dürfen, der Welt zu diktieren, wie sie ihren Dünkel nach zu sein habe? Woher?
Wieder hatte ich einen Traum.
Ich saß an einer langen Tafel, erfreute mich der Gesellschaft von Freunden, man genoss das Zusammensein recht herzlich. Irgendwann stellte ich fest, dass meine Positionierung sich von der der anderen unterschied: Ich saß am Kopf der Tafel und mein Sitzplatz war erhöht. Als ich darauf hinwies, eine gesonderte Stellung einzunehmen, nickten die anderen mir freundlich zu: Ich sei der anerkannte Herrscher. Aufmerksam geworden sah ich mich um. Wir befanden uns auf einer Lichtung im Wald. Ich saß nicht nur auf einem Tron: Über mir hing auch noch ein Schwert - und zwar am seidenen Faden. Vor lauter Schreck weigerte ich mich, König sein zu wollen. Damit mich keiner erkennen und zurück auf den Tron schicken würde, zog ich fortan in der Kleidung eines Bettlers umher, lebte von Almosen und Gelegenheitsarbeiten, führte auch als ein solcher ein weitgehend sorgenfreies, glückliches Leben. Eines Tages hörte ich die Menschen über ihr Schicksal und große Not klagen. Als ich fragte, warum dies so sei, sahen die Menschen gen Himmel und sagten:
<< Der König! >>
Ich erschrak. War meine Tarnung aufgeflogen? Das konnte nicht sein. Zum Glück hatte mich niemand erkannt. Aber..., was war denn nun mit dem König?
<< Was ist mit dem König? >>
Das interessierte mich.
<< Er ist nicht mehr da!! Er hat uns verlassen. >>
Das war mir durchaus bekannt. Ich nickte.
<< Und? Was ist denn daran so schlimm? >>
<< Er regiert nicht mehr. Das Land ist allein und verlassen. Überall streifen Diebe und Betrüger einher. Es gibt keinen, der auf uns aufpasst, regiert, Gerechtigkeit übt. Deswegen leiden wir große Not. >>
Mehrere Tage streifte ich nachdenklich weiter umher. Das Vagabundenleben als solches hatte mir bislang gut gefallen. Mir hatte es an nichts gefehlt. Aber dass das Land meinetwegen Not litte, sollte so nicht sein. Schweren Herzens begab ich mich an die große Tafel, die mittlerweile verwaist und verlassen dastand, zurück. Dort setzte ich mich unter das Schwert und machte meinen Job, ungeachtet der über mir schwebenden Gefahr. Leider wollte sich die frühere Freude ohne meine die Anwesendheit meiner Gefährten nicht wieder einstellen, ebensowenig wie die Unbeschwertheit. Den Rest meiner Tage verbrachte ich als König, war dabei aber sehr unglücklich.
Seit wann ist Kleidung mit Abnutzungserscheinungen und Löchern eigentlich teurer als Neues und noch Intaktes? Ursprünglich repräsentierten die Träger solcher Kleidung die untersten gesellschaftlichen Schichten. Solche, stellen wir instinktiv fest, sind oft vertrauenswürdiger als unsere Möchtegern-Aristos. Was genau hinter einer äußeren Erscheinung steckt, spielt für viele gar keine Rolle. Das Vertrauen, die Liebe und Gefühle der Dankbarkeit, welche diesen (spirituellen Maßstäben nach) königlichen Wesen entgegen gebracht werden - derer möchte man sich auch gerne verdient gemacht haben. Man kaufe sich also eine Hose mit Löchern darin, um ein besserer Mensch zu werden.35 Die neue Oberliga trägt Holzfällerhemd. Die Ausformung einer der Versionen des goldenen Krönchens - versteckt in einer ultramodernen, verwaschenen Jeans.
Bordet der Erfolgsstatus beim Menschen über, hat er nach unserer allgemein anerkannten, wenn auch unausgesprochenen Ordnung das Recht dazu, sich in einer Art, die sich trotzdem "zivilisiert" nennen darf, ganz offen asozial zu verhalten.36 Wer genau hinsieht, sieht auch, dass die nette Gesichtsmaske, mit der Menschendarsteller sich zu bedecken befleißigen, oft nur sehr oberflächlich ist. Daran ändern auch die netten Verkleidungen nichts. Über alledem herrscht ein großer sozialer Rückhalt für das Recht des Rücksichtslosen, Intriganten und Asozialen.37 Viele scheinen wirklich daran zu glauben, dass die Rechtfertigung dafür, ein Verbrechen zu begehen, dieses sühnte: Man braucht also nur ein legitimes Feindbild und schon werden aus Verbrechern selbst ernannte Kämpfer für die Gerechtigkeit. Die einen zeigen Gehässigkeit, wenn man ihnen eine glaubhaft Macht versprechende Position verleiht, die anderen ereifern sich erst dann in selbstgerechtem Zorn, wird ihnen ein passendes Feindbild vorgesetzt. Eine vom Hass verzerrte Maske kann man beinahe jedem ins Gesicht zaubern.
Das große Rudel, welches wir Mitmenschen nennen, lebt niedere Triebe wie Neid, Habgier, Missgunst und die sich allseits immer noch großer Beliebtheit erfreuende Maßlosigkeit und Völlerei38 oft völlig ungehemmt aus. Eine solcherart tabuisierte Reaktion wird sich aber bei all jenen, die wissen, wie wichtig es für ihren Status ist, Gefühle niemals offen zu zeigen, erst dann offenbaren, wenn sie glauben, es zu dürfen. Auch Gruppen von Menschen verhalten sich gerne so. Hierbei ist das Prinzip, dass alle mitziehen und geschlossen über Problemverhalten hinwegsehen, wichtig. Der Geruch dieser Krankheitsherde ließ mich instinktiv Abstand dazu einhalten. Ist es nicht vielmehr so, dass es unsere hoch gepriesene, vorgeschriebene Nettigkeit in Wirklichkeit gar nicht gibt? Oft genug ist sie nur eine missglückte Kopie von Nettigkeit. Es scheint sich also eher um eine Nattrigkeit zu handeln, die nur so aussieht, als ob! Jemand, der es nötig hat, sich hinter Kopien von Autorität39 zu verstecken, kann auch nicht aus sich selbst heraus agieren, wird aus diesem Grunde auch nur zu einer vorgetäuschten Version von Nächstenliebe in der Lage sein. Wer alles (inklusive sich selbst) als käuflich betrachtet, nimmt auch die Liebe nur als eine Ware wahr und wird davon ausgehen, dass es sich bei allen liebevollen Gesten, die ihm im Leben begegnen, um Fälschungen handelt.
Beziehungen untereinander werden häufig nur noch über den Zweck definiert, gehen mit der Pflicht zur Erniedrigung (und dem sich-erniedrigen-lassen) einher. Frauen, die sich auf ihr Geschlecht reduzieren, glauben, sich zur Ausgeburt eines Sexappeals und damit zu einem guten, weil käuflichen Wesen machen zu müssen - Prostitution als gesellschaftlich gängige Schablone? Wenn alle es tun, wird es wohl richtig sein. Passen wir uns an. Ich bin alles mögliche, aber käuflich, das bin ich nicht. Für mich gab es ein Problem: Ich ließ mich nicht von anderer Leute Erwartungshaltung prostituieren.
Dass ich nicht mitzumachen gewillt war in einem Spiel, das mit gezinkten Karten gespielt wurde, brachte so manch einen gewieften Gewohnheitssieger schwer aus dem Konzept. Wenn auch nur für einen klitzekleinen Moment, fielen andere Menschen bei einer Begegnung mit mir aus ihrer so mühsam einstudierten Rolle heraus.40 Dass es plötzlich keine Täuschung mehr gab, war das einzige Verbrechen, welches ich beging - und dieses schien völlig ausreichend, dafür hart mit mir ins Gericht zu gehen. Offenbar scheint es erforderlich, permanent sich und auch andere von der vermeintlichen Richtigkeit der eigenen Lebenseinstellung überzeugen zu müssen. Wahrheit durch Mehrheit erfordert eine (wenn auch imaginäre) Armee: "Sag doch mal, ist doch so, oder?" Dieses Verhalten nenne ich heute "Echolot".41 Wer keinen zuverlässigen inneren Radar hat, bemüht solche Methoden der Orientierung. Solchen Menschen war ich ein Dorn im Auge, da ich an dem, worin sie Halt fanden, kein Interesse zeigte, womit ich (wenn auch, ohne mir dessen bewusst zu sein) ihr ganzes Sein in Frage stellte.
Ich erinnere mich daran, wie ich einmal in der elterlichen Küche auf einem Stuhl saß, ganz entspannt mein (hell-lichtes) Chi fließen lassend. Als mein Vater den Raum betrat, blieb er (als er mich erblickte) wie angewurzelt stehen:
<< WAS MACHST DU DA !!! >> fragte er schockiert, als hätte ich irgendetwas angestellt (seine Lieblingsdeko mit Matsch beschmiert o.ä.).
Aufgrund seiner Reaktion fragte ich mich das in dem Moment natürlich jetzt auch... Ja, was machte ich? Hmm, ... Sah man das denn nicht? Noch viel wichtiger erschien mir, herauszufinden: Wieso regte ihn das so auf? In der Küche sitzen tat doch jeder von uns einmal. Bisher war das doch auch kein Verstoß gegen geltende Regeln gewesen? Ich saß bloß relaxend auf einem Stuhl am Küchentisch! War da irgendetwas Anstößiges? Ich sah an mir herunter. Wieso reagierte er so?
<< Sitzen...? >> antwortete ich verschüchtert, in der Hoffnung, dass ihm das als Antwort auf seine seltsame Frage genügte.42
Es ging bei mir schon lang nicht mehr darum, für mich selbst oder für jemand anderen den allerallerbestesten Platz im Leben zu ergattern. Ich hörte auf zu funktionieren,... und fing statt dessen an, zu existieren. Aber mein werter Herr Vater nervte so lange herum, bis ich wider besseres Wissen nachgab und bei entfernten Bekannten von ihm in eine Wohngruppe einzog. Ich durfte nicht unter einer Tanne schlafen, das war nicht normal. Eigentlich wusste ich schon sehr genau, dass ich an meinen eigenen Weg würde festhalten müssen. Deshalb sträubte ich mich auch innerlich gegen die Entscheidung, seinem Wunsch nachzugeben, knickte dann aber, wie gewohnt, wieder ein.
Ich ignorierte mein Bedürfnis, meinen eigenen, den -für mich- einzig richtigen Weg zu gehen, meinem inneren goldenen Band zu folgen.
Ich konnte nicht absehen, welch schwerwiegenden Fehler ich damit beging, als ich mich wieder einmal in meines Vaters vermeintlich - schützende - Arme begab.
Ich war mir dessen nicht bewusst, dass ich mich schon für beinahe alle von meinen Freunden, Verwandten und Bekannten als geisteskrank galt.
Plötzlich war er da. So groß, so tief und so dunkel rabentiefschwarz war dieser Graben, der sich auf einmal zwischen mir und dem Rest der Gesellschaft befand, dass er mir un-überwindbar vorkam. Auf der einen Seite stand ich, allein, von der Scheinwelt, in der meine Gesellschaft lebte, irgendwie getrennt, auf der anderen Seite hielten sich die anderen auf. Worte waren oft nur noch Verpackungswunder, leere Hüllen. Meist gingen in in den Menschen, die mir begegneten vollkommen andere Dinge vor, als sie vorgaben. Das ging so weit, dass ich, wenn einer sprach, die Stimme gleich zweimal hören konnte:
Zu Tisch bei Kuchen und Gebäck. Der Kaffee ist schon da, das Schälchen mit Würfelzucker jedoch unauffindbar. Der Gastgeber flötet in Richtung Frau:
<< Schaaatz, du hast den Zucker vergessen... >>
Ich hörte das, hörte aber auch:
<< Du blöde Ziege, wozu taugst du eigentlich? Sieh zu dass du deinen lahmen Hintern in Richtung Küche Bewegung setzt und den SCHEISS-Zucker hier ran schaffst, aber PRONTO! >>
Sie trällert zurück:
<< Oh, das tut mir leid. Macht ja nix, ich werd ihn gleich holen gehen. >>
Die Übersetzung in meiner Wahrnehmung lautete:
<< Du dummes Arschloch kannst dir deinen blöden Zucker selber holen! >>
Trotzdem rennt sie los.43 Interessanterweise funktionierte das auch mit Fremdsprachen, die ich in meinem inneren in meine eigene Sprache übersetzen konnte, selbst dann, wenn ich kein Wort davon verstand.
Wieso sprach man mit gespaltener Zunge? Auf Lügen zu reagieren ergab für mich keinen Sinn - etwas anderes schien aber nicht erwünscht. Die Illusion anderer gemeinsam mit diesen als Realität anzuerkennen, wäre für mich so gewesen wie, als würde ich selbst lügen. Das kam das nicht in Frage. Also reagierte ich nicht, wie die Regisseure es vom ihrem Publikum gewohnt waren. Mir erschien es tatsächlich sinnvoller, nicht auf das vorne auf der Bühne zur Schau gestellte Theater, sondern vielmehr auf den Strippenzieher dahinter Acht zu geben. Es war, als sollte ich einen Tanz mit tanzen, den ich nicht gelernt hatte. So trat ich einem jeden ganz zwangsläufig auf die Füße. Auch, als ich daraufhin ganz still zu stehen entschied, war das grundfalsch. Gar nicht zu kommunizieren verunsicherte auf Smalltalk gebürstete Schwätzer ungemein. Mir zu begegnen, das war, wie, auf einem Treppe gehend eine zusätzliche Stufe zu erwarten, die aber gar nicht da war. Ups... Überraschung! Und schon war die Maske wieder unten.
Man wollte man mich anhand von Täuschung, zu der ein jeder ein geradezu blindes Vertrauen pflegte, prostituieren. Diese Art von Hingabe durfte das Leben von mir nicht verlangen. Das Vertrauen in die unausgesprochenen, von jedem bereitwillig akzeptierten Regeln dieser Lügerei schien jedoch von allen als verpflichtend empfunden zu werden. So dass denjenigen, die sich nicht den Erwartungsmustern der Freier entsprechend verhielten, ein Vorwurf daraus gemacht werden durfte, wenn sie sich diesem Diktat nicht unterwarfen. Das kapierte ich nicht. Ich misstraute jedoch nicht den Menschen selbst, sondern nur mehr ihrem unumstößlichen Glauben an die Wahrheit durch Mehrheit. Ein Fehlverhalten sah ich darin nicht. Dass sie das aus dem Konzept brachte, war nicht mein Problem. Wobei man der Überzeugung schien, dass es genau das aber sein sollte. Als sei es der personifizierte Erfolg für jedermann, ein geschickter Falschspieler unter Falschspielern sein.
Unmöglich, von mir zu verlangen, das Spiel auf genau dieselbe Art und Weise mitzuspielen. Das Sprechen stellte ich weitgehend ein, beobachtete nur noch. Unterhaltungen kamen recht selten vor. War es der Fall, wunderte man sich über meine scheinbar normal ausgeprägten Sprachfähigkeiten und die durchaus latent vorhandene Bereitschaft zu Kommunikation:
<< Oooh, Du kannst ja sprechen ! >>
Das konnte heiter werden. Was für ein Statement. Yes.
<< ... Jaaa, ... und...? >> Wie geistreich.
<< Das wusste ich ja gar nicht ! >> What a pity.
Grunz. Dann weisst du es halt jetzt.
<< Mit dir kann man sich ja richtig unterhalten! >>
Ja, warum denn auch nicht?
<< Ja, warum denn auch nicht? >>
Die Ursachen für mein Schweigen blieben im Verborgenen.
Ich erschien als Osterhase mit Turnschuhen, war aber nun, statt in schwindelerregenden Höhen damit herumzukraxeln, auf einmal im Flachland unterwegs. Nur wenige meiner Mitmenschen, mit denen ich es damals zu tun hatte, schienen in der Lage, das zu erkennen.44 Ich sollte an einem, so wie man es nannte, Gemeinschaftsleben teilnehmen. Dies stellte aus meiner persönlichen Sicht einen Rückschritt dar, den ich genau in diesem Augenblick gar nicht brauchen konnte. Die gleiche Reaktion wie die, die ich als Heranwachsende bereits gezeigt hatte, kam plötzlich wieder auf: Realitätsflucht. Unzufrieden mit der Situation fing ich erneut an, ununterbrochen meine Nase in Bücher zu stecken. Ich war unglücklich, woran auch Pegasus, das garstige, kleine Shetlandpony, welches den Zirkuswagen, in dem ich zur Zeit wohnte, bewachte, nichts ändern konnte. Er ging auf jeden los, der sich näherte.45 Bestimmt wollte auch er nur seine Ruhe haben.
Nach dem (gemeinsamen) Mittagessen aß ich normalerweise immer ein Stück Obst. Ohne dieses fühlte ich mich nicht im Gleichgewicht. Irgendwann bekam ich von der Wohngruppeleitung ein Veto: ich solle nicht "das ganze Obst wegfressen". Ich überlegte, ob ich vielleicht anmerken sollte, dass ich nicht "das ganze Obst wegfressen" würde, sondern nur ein Stück Obst pro Tag? Die anderen Kinder /Bewohner aßen so gut wie nie davon, so dass es dort eh nur vor sich hin gammelte. Aber: wenn man mich schon so aggressiv anmaulte, würde man wahrscheinlich seine guten Gründe dafür haben. Also verzichtete ich fortan auf meinen Apfel zum Nachtisch. Diese und andere unschöne Szenen ließen mich die raue Zeit auf dem Bau und in meine liebe WG zurücksehnen. Dort hatte ich es immerhin noch besser gehabt als hier.
Eigentlich hatte ich mich schon sehr an das Leben auf eigenen Beinen gewöhnt. Schließlich war ich mit dem Arbeitengehen angefangen, um nicht mehr auf das Wohlwollen anderer Leute angewiesen zu sein! Jetzt ständig wieder bevormundet zu werden war nicht Sinn und Zweck der Maßnahme gewesen, mich aus der Zivilisation zurück zu ziehen. Zur Strafe war ich wieder zum unmüdigen Kind degradiert worden. Trotzdem mein Vater mich zwar nicht zu sich nach Hause zurückgeholt hatte - ich war bei Menschen untergebracht, welche er jederzeit ansprechen und sich erkundigen konnte, ob ich gerade auf dem Klo saß oder wieder wie gewohnt Löcher in die Luft starrte. Aber: Ich war eindeutig zu alt für die Wohngruppe. Deshalb gab es folgendes Interview:
<< Wie soll es denn jetzt weitergehen ? >>
Überfordert saß ich da und zuckte mit den Achseln. Wieso fragte er mich das? Er hatte mich doch hierher verfrachtet! Hatte er damit denn nicht auch das Kommando wieder an sich gerissen? Mein Weg wäre ein ganz anderer gewesen. Ich wollte nicht in einer Wohngruppe vor mich hin vegetieren! Diese Worte spukten in meinem Kopf herum. Weder wollte ich ihm irgendwelche Vorwürfe machen, noch ihn damit verletzen. Mich als undankbar für seine Fürsorge zu erweisen, entsprach nicht meiner Absicht. Kam ich denn bei dem, was ich ihm sagen wollte, darum herum? Auf einmal fiel mir der Traum aus meiner Jugend wieder ein: einen Beruf auszuüben, bei dem ich mit Pferden zu tun haben würde. Wäre es ein gelungener Mittelweg, wenn ich ihn darum bat, mir diesen Wunsch zu erfüllen? Dieses Mal gelang es, mich zu äußern:
<< Ich möchte gern mit Pferden arbeiten. >>
Mein Vater versprach, sich darum zu bemühen.
Alle um mich herum meinten, sie hätten eine vom Wahnsinn befallene Irre vor sich, welche ihrerseits dachte: Die benehmen sich aber verrückt... Entweder war ich gar nicht erst existent oder wurde aus sicherer Entfernung vorsichtig beäugt, dabei hinter dem Rücken vorsichtig getuschelt. Kam ich zu nah, wandte mach ganz sich schnell (dabei natürlich möglichst unauffällig) ab. Diese Art von Verhalten nenne ich heute Mauer. Ich bekam nur noch Rücken zu sehen. Diese standen dicht an dicht, um damit deutlich zu machen: Du kommst hier nicht rein. Von den ganz Mutigen konnte dann so etwas kommen:
<< Na, wie geht es dir? >>
Worte... Oha. War das jetzt so etwas wie Gespräch, an dem ich teilzunehmen verpflichtet sein sollte? Nö. Kein Bock. Galten sie etwa mir? Der Typ (den ich gar nicht kannte) sah mich direkt an. Igitt! Wie unangenehm. Bäh! Guck weg!
Ganz verwundert fragte ich mich, woher dieser Person mein Name überhaupt bekannt war.
<< Du hast Probleme, da musst du doch was machen! >> wurde zusammenhanglos weiter produziert.
Das interessierte mich jetzt doch langsam aber sicher. Ich beschloss, mich am "Gespräch" zu beteiligen.
<< Aeh, Hallo? >>
<< Ja. Hallo. >>
<< Wovon sprechen Sie bitte? >>
<< Von dir..? !! >> erlaubte man sich zu behaupten.
Auch ein Staunen meinerseits.
<< Darf ich Sie bitte noch einmal etwas fragen? Nur so aus Interesse: Da wir uns rein zufällig jetzt hier heute das erste Mal begegnet sind: ... Kennen wir uns ? >>
<< Nein, nicht direkt, ... aber... >>
<< Und wovon bitte sprechen Sie da gerade ? >>
<< Von deinen Problemen! Also, na hör mal, das weiß doch jeder hier. Tu doch mal jetzt nicht so... Du solltest eine Therapie machen! >>
Was war denn das jetzt? Ich sollte mich auf einmal für das rechtfertigen, was andere über mich erzählten? Warum diskutierte er das nicht mit jenen aus, die diese Geschichten in die Welt setzten? Wollte man mich auf einmal für das verantwortlich machen, was andere erzählten? Er benahm sich ziemlich dumm, darauf musste ihn wohl mal einer hinweisen.
<< Welche Probleme? Und, was für eine Therapie? Und: Wie kommen Sie denn jetzt darauf??? >>
Missbilligendes Schweigen.
Die Menschen, die mit mir in Kontakt traten, gaben zu meinem alltäglichen Verwundern vor, mehr über mich wissen, als ich selbst. Sehr lustig fand ich auch folgenden Dialog, bei dem jemand, ohne diese Worte direkt an mich zu adressieren, unpersönlich in den Raum hinein produzierte:
<< Früher war ich auch mal schizophren, aber das habe ich mir abgewöhnt! >>
<< ... Aeh ...? >>
Was war gemeint? Wie, er war mal schizophren gewesen - und warum erzählte er das? So erschreckend, wie diese Tatsache war46, stellte sich mir gleich die nächste Frage: wie, das konnte man sich abgewöhnen? Das machte mich etwas neugierig. Was genau war Schizophrenie? Zog an sich das zu wie eine Grippe? Wie fühlte sich das an und wie äußerte sich das, usw. Sollte ich ihn darauf ansprechen oder wäre das taktlos von mir? Man fragt sich, wie andere Menschen auf die Idee kommen, solche Aussagen zu tätigen.47
Von diesen "Problemen", auf die einjeder mich ansprach, hatte ich keine Ahnung. Davon verstand ich nichts. Hatte man mich eventuell mit einem Alleskönner/Wisser, dem Problem-Master verwechselt? Ich war nicht allwissend, konnte auch nicht jede Frage aus dem Stand heraus beantworten. Und ich konnte auch nicht, bloß weil sich andere Menschen das so sehr wünschten, auf einmal Probleme aus der Hosentasche zaubern, wo keine waren. Das war allerdings ein Problem. Also war das Problem, dass ich keines hatte, ein Problem. Als ich darüber nachdachte, das in Worte zu fassen, musste ich lachen.
Vernunft und Logik suchten volle Deckung, verkrochen sich in weiter Ferne. Auch ich zog den Kopf ein und mich immer weiter zurück. Da klaffte ein tiefer Riss zwischen mir und diesen verwirrenden Kreaturen, die mir augenscheinlich nur noch rein äußerlich glichen.48 Ich heckte einen Plan aus: Damit ich ihnen in ihrer eigenen Sprache (vielleicht sogar irgendwann auf Augenhöhe) zu begegnen fähig wäre, wollte ich menschig lernen. Also beobachtete ich. Ihre Art, sich zu bewegen, ihre Gestik und Mimik. Die übliche menschliche Kommunikation beruhte scheinbar nur auf Äußerlichkeiten. Dafür musste ich die Aufmerksamkeit von mir selbst weg bewegen. Das wollte mir nicht gefallen, lies mich ein solches Verhalten meine Orientierung verlieren, was jedesmal Panikattacken auslöste.
Trotzdem: Ich wollte den Tanz lernen. Womit tauschten sie sich aus? Wie kommunizierten sie wirklich? Nichts entging meinem aufmerksamen Blick. Jede kleinste sichtbare Nuance, die mir etwas über ihre Ausdrucksformen verriet, erhielt einen Namen. Wo waren die Übereinstimmungen, gab es wiederkehrende Muster? Für sie legte ich ein inneres Vokabeheft an, in dem die vielen verschiedenen Formen, mit denen Menschen nonverbal kommunizierten, jeweils einen eigenen Namen verliehen bekamen. Wenn sich eine dieser Gesten anbahnte, rezitierte ich in Gedanken den dazu passenden Begriff daher und nickte mir dabei selbst zu.
Es gab den Verkehr-in. Er war jemand, der sich einem, dabei hemmungslos sinnfreien Kram daher schwätzend näherte. Was einen Verkehr-in zu jemanden machte, dem ich grundsätzlich mit Misstrauen begegnete. Der Verkehr-in setzte meist eine besonders oberflächlich-freundliche Gesichtsmaske auf und verhielt sich distanzlos-aufdringlich.
der Sterion: Das war eigentlich nur ein Blick, der einen, dabei streng starrend, fixierte. Den Oberlehrer (über seiner Lesebrille schauend) herauskehrend verfolgte dieser Blick die Absicht, seinem Opfer damit (wie mit einer unsichtbaren Peitsche) zu drohen. Den Sterion setzte jemand ein, der von sich glaubte, es zu dürfen. Und zwar, um Widerspruch bereits im Keim zu ersticken, einem anderen, mit diesem Blick erniedrigten Menschen den Weg abzuschneiden, den dieser aus Sicht des Sterions unrechtmäßig eingeschlagen hatte. Der Sterion war absolut. Niemand widersetzt sich dem Sterion.
La Tutzi.-> La Tutzi hatte etwas verniedlichendes, erniedrigendes. Als wenn man einem Kind,49 obendrein noch einen übergroßen Clownskragen würde umbinden müssen. Es kam mir vor wie ein Beschneidung. Selbst wenn sie niedlich waren, waren es doch würdevolle Wesen! Ich empfand dieses Vorgehen als widerliche Untat, als Verbrechen. Abgeleitet hatte ich die Vokabel vermutlich vom "Dutzi - Dutzi". Quietschflöt. Wenn erwachsene Menschen ihr Gehirn ablegen, weil sie etwas niedlich finden.
Da war das -> Ta-komm-Zutel. Das Zutel war eine eigentlich nette Geste, die besonders zurückhaltende oder vielleicht schüchterne Menschen zeigten, indem sie anstatt zu sprechen stundenlang an Dingen herumzupfen. Das Zutel war ein zärtliches, nachdenkliches Zupfen und Herumfummeln an Kordeln, das Drehen und Herumschieben von Gegenständen.50
Jede Geste erhielt einen besonderen Namen. Es existierten Nomen, davon ab leiteten sich Verben. Ich lernte eine neue Sprache. Es gab auch übergeordnete Begriffe, die tabellarisch zusammen fassten, wordurch Tiefe entstand. Selbstdarstellungtriebe z.B. empfand ich als (spirituell gesehen) Onanieren, weshalb ein solches Verhaltensmuster diesem Oberbregriff untergeordnet wurde. Die Tätigkeit, der jemand nachging, konnte dadurch eine besondere Färbung erhalten, so dass sie sich zwar nicht offentsichtlich, durchaus aber in ihrem emotionalen Ausdruck unterscheiden konnte.
Natürlich wurde ich auch einem Psychiater vorgeführt. In diesem Szenario des sich-prostituieren-Müssens gegenüber den Erwartungen, die eine Gesellschaft an einen haben kann, stellen sie die Zuhälter dar. Sie sorgen dafür, dass aus einer unwilligen Matratze eine bereitwillige wird. Zumindest eine, die sich nicht mehr wehrt. Mein Einverständnis zu diesem (einmaligen) Besuch diente dem Zweck der Befriedung der Bedürfnisse (nach Fürsorge) meines Vaters. Wenn sich dies überhaupt positiv auf mein Leben auswirken würde, dann nur indirekt.51 Man setzte sich in einem Kreis um einen Tisch herum. Geräuschfetzen flogen hin und her. Wie üblich redete man über mich, aber nicht mit mir. Das fiel irgendwann auch auf, weshalb plötzlich eine Aufforderung kam, zu existieren:
<< So lassen sie sich doch helfen >>
Krasse Begrüßung! Und: was für ein Steno-Interview! Wo war bitteschön der Zusammenhang? Ich reagierte mit vorsichtiger Entrüstung:
<< Ja, also, wobei denn bitte schön? >>
Man schwieg, musste ich also deutlicher werden. Wobei wollte man mir helfen? Beim Orangen schälen? Beim hinter-dem-Ohr-kratzen?
<< Ich kann mir mittlerweile selber den Hintern abwischen? >>
Eltern halfen zwar, wenn man klein war, aber irgendwann war auch deren Job mal zu Ende. Dann brauchte man keine solche "Hilfe" mehr. Das brachte es auf den Punkt.
<< Also, was genau erwarten Sie jetzt von mir? >>
Psychiater => Hilfloser Blick zu meinen Eltern:
<< Sie sehen ja, das macht keinen Sinn, so kommen wir auch nicht weiter. >>
Papiergeraschel. Dieses Geräusch versprach, dass ich bald aus dieser unerfreulichen Situation entlassen werden würde. Wie erfreulich! Zumindest ein Teil der Kommunikationsschwierigkeiten, die ich mit meinem Umfeld hatte, schien künstlich angelegt. Schade, dass viele sich gar nicht mehr die Mühe gemacht haben, mich überhaupt erst kennenzulernen, da sie schon ein vorgefertigtes Bild von dem, was genau ich für sie darstellen sollte, mit sich herum trugen.
Nachdem irgendwann der Winter eingekehrte und ich laut der Ansicht meiner derzeitigen Betreuer nicht mehr im (dem unbeheizten) Zirkuswagen schlafen sollte, lernte ich durch (einen arrangierten) Zufall eine Familie (mit Pferdestall) in der Nähe von Hamburg kennen. Da eines ihrer Kinder gerade von zu Hause ausgezogen war, stand eines der Zimmer leer. Unter der Voraussetzung, ich packe im Haushalt ein wenig mit an und helfe bei der Stall-arbeit, sei ich willkommen. Das sollte ja wohl kein Problem sein. Warum auch nicht, ich hatte nichts Besseres vor. Dass mein Vater meinen Aufenthalt dort mit Kost und Logis bezahlte, wusste ich nicht. Die Reitstunden, die ich eigentlich bekommen sollte, seien angeblich zu teuer. Das sah ich natürlich ein! Auch auf den hauseigenen Ponys sollte ich keinesfalls reiten dürfen. Stallarbeit machen war aber erlaubt.
Die meiste Zeit zog ich mich zurück. War ich allein, fühlte ich mich wohl(er). Die Natur fehlte mir, aber: im Winter kann es dort reichlich ungemütlich sein. Bei Minus 10 bis - 20 Grad blieb auch ich lieber indoor.52 Statt den Vögeln zuzuhören, wie sie mit ihrem Gesang die Schöpfung priesen und einen neuen Morgen heraufbeschworen, entwicklte ich neue Hobbies: sah mir Filme53 an - versuchte, Gitarre spielen zu lernen. Der Sohn des Gitarrenlehrers, Leo, war ein Phänomen. Das hatte ich noch nie erlebt. Er war vollkommen frei von Persönlichkeit. Eine ausgetrunkene Coladose war genauso leer wie er!! Ich gab mir wirklich Mühe, die energetischen Spuren seiner menschlichen Persönlichkeit zu erspüren, aber da war einfach nichts! Das war doch wohl nicht möglich! Oder doch? War er mir etwa ähnlich? Fasziniert beobachtete ich ihn, fragte mich, ob er auch (ebenso wie ich es gerne tat) mit meinem Haustier (einer Ratte namens Carisma) telepathisch Kontakt aufnehmen, sich mit ihr unterhalten würde. Wenn er mir ähnlich war, bestand eine Wahrscheinlichkeit dazu. Aber nein, es gab keine Unterhaltung. Leo sah nur aus wie ein Mensch, war aber keiner. Das faszinierte mich.
Um möglichst niemandem zu begegnen, kehrte ich den Tag/Nacht Rhythmus um: Wenn alle schliefen, das war meine Zeit. Damit handelte ich mir eine Menge Ärger ein. Warum benahm ich mich bloß nicht wie ein normaler Mensch? Leider wurde auch hier nicht akzeptiert. Man schien mich als minderwertig zu betrachten. Ab und zu rief mein Vater an, brachte mich zu diesen Gelegenheiten mit seinem therapeutischen Gelaber zur Weißglut. Das zog mich jedesmal so sehr herunter, dass ich bald gar nicht mehr mit ihm sprechen wollte. Auch dieser Gastfamilie war der Fluss ihrer Gedanken vergiftet worden, schon bevor ich zu Ihnen gestoßen war. Sie beäugten mich misstrauisch, was mich zwar sehr verwirrte, doch eigentlich war ich daran ja fast schon gewöhnt. Ich scherzte sogar von Zeit zu Zeit darüber:
<< Mann, komm ich mir schizophren vor. >>
Dafür erntete ich etwas verhaltenen Beifall. Vielleicht hoffte man darauf, dass ich endlich einsehen würde, wie krank ich war? Als ich Monate später heraus fand, dass mein Vater für meine Aufbewahrung Geld bezahlte54 schmiedete ich den Plan, schon bald die Koffer zu packen, um selbst ganz entscheidend etwas an dieser unbefriedigenden Situation zu ändern.
Mich in meine Heimatstadt (Köln) zu begeben, um mir endlich eine neue Arbeitsstelle zu suchen, sollte bei meinen Vorkenntnissen, die ich von meiner Arbeit auf dem Bau mitbrachte, einfach zu realisieren sein. Ich hatte endgültig die Schnauze davon voll, wie ein kleines Kind gemaßregelt zu werden! Mein enorm großes Selbstbewusstsein entwarf keinerlei Bedenken, einen derartigen Neuanfang aus eigenem Antrieb hinzubekommen. Sorgenvolle Worte und gutes Zureden...
<< Du wirst in der Gosse landen >>
Das innere Lexikon öffnete sich: Gosse => so etwas ähnliches wie der Rinnstein einer Straße, in dem sich bei feuchtem Wetter der Regen verlief. Darin sollte ich "landen"? Ich überlegte. Zu welchen Gelegenheiten (wenn man sich nicht gerade auf die Klappe legte) tat man das? Es hörte sich fast so an, als wolle ich mit dem Flugzeug reisen!
<< Was meinst du damit, Warum sagst du das? >>
<< Na, das ist doch logisch: Du bist ein schwaches, hilfloses Mädchen, da ist das so etwas wie ein Naturgesetz. Alle jungen Mädchen die auf der Straße leben landen in der Gosse, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und man weiß ja bekanntlich, was aus denen dann wird. >>
Okay..., er sprach in Rätseln..., aber seine Stimme klang dabei so verachtend, dass ich diese "Unterhaltung" nicht unbedingt noch weiter in die Länge ziehen wollte.
<< Aha. Ja, ok. >>
Solche und ähnliche Äußerungen stießen nun auf ein nicht-existierendes Öhrchen, welches ich imaginär in die Mülltonne beförderte.
Um was ich mir wirklich Sorgen machte, das war ein ganz anderer Punkt: Ich war total einsam! Freunde, mit denen ich hätte zusammen sein können, gab es hier auch keine. Ich kannte in diesem komischen Dorf aber auch keine Sau! Und wie jemanden kennenlernen? Durchs Dorf rennen und aufs Geratewohl Leute ansprechen? Das ging für mich irgendwie nicht. Ich kam mir total isoliert vor. Sogar das exzessive Kekse Backen hatte mich nicht dort heraus geholt. Meine Kekse mochte keiner, sie schmeckten fürchterlich. Niemand freute sich darüber,... ich musste sie alle alleine essen!
Ich brauchte Liebe... Aber wie sich etwas beschaffen, von dem man nichts versteht? Alle schienen in irgendeiner Beziehung zueinander zu stehen. Ich begleitete die junge 16-Jährige aus meiner Gastfamilie zu der Geburtstagsparty einer ihrer Freunde. Dort war mir sehr unwohl, ich sprach kein Wort, fühlte mich einsamer den je. Selbst die kleine Siebenjährige der Pflegefamilie, welches mir öfters mal auf den Schoß kletterte, verängstigte mich damit, mir so sehr auf den Pelz zu rücken. Auch, wenn es sicher eine liebevolle Geste von ihr war - ich konnte die Berührung nicht ertragen. Trotzdem sehnte ich mich nach dem Gefühl, Teil eines größeren Ganzen, vielleicht auch eines Miteinander zu sein. Aber: So etwas konnte mir kein Psychologe der Welt geben. Als ich mich wieder einmal dazu überreden hatte lassen, einen solchen aufzusuchen, erkannte ich diesen Sachverhalt und entschied, dass weitere Besuche dort überflüssig waren. Wenn sich dadurch eh nichts ändern würde, war das Zeitverschwendung. Um mir zu helfen, hätte ein solcher erst einmal all jenen helfen müssen, die mir einredeten, ein schlechter Mensch zu sein, weil ich so war, wie ich war. So sehr, dass ich mir nun, langsam aber sicher, solche Menschen herbei zu sehnen begann, die noch ganz normal mit mir umgehen konnten. Aber meine Freunde waren allesamt hunderte von Kilometern weit entfernt!
Als der Weihnachtsbaum die Hütte endlich räumen durfte,55 war es für mich soweit: Mein Krempel kam in die Segeltuchtasche, ich schulterte mein Haustier und bestieg mein Fahrrad. Um aus diesem immerwährenden Alptraum, wenn auch nur kurz, zu erwachen, wollte ich zu allererst meine Freunde besuchen, danach würde ich nach Köln weiterreisen. Während der Zugfahrt las ich in Watzlawicks "Konstruktivismus", ein Abschiedsgeschenk der Crowleyaner. Dann dachte ich an Mike, den der-sich-die-Schizophrenie-abgewöhnt-hatte. Auf einmal hatte ich das Gefühl, ihn zu lieben. Bei dem Gedanken kam ich mir ganz schön komisch vor und schüttelte deshalb lachend und etwas verwirrt über mich den Kopf. So ein Schwachsinn, den Mike, den liebte ich doch nicht! Woher kam nur dieser absurde Gedanke? Wir hatten zwar schon einmal in ein und demselben Bett übernachtet, aber damals war ich sehr froh darüber gewesen, dass er sich so anständig verhalten und mich nicht angefasst hatte! Liebte ich ihn, hätte ich das damals sicherlich anders empfunden. What do I have in my Pocket?
Endlich beim Medizinmann angelangt, gröhlten alle laut vor lauter Begeisterung, mich zu sehen. Das war doch mal eine herzliche Begrüßung! Alle saßen, wie immer, Abends, schwer am Tönen und selbstverständlich auch am Saufen, vor der obligatorischen Flimmerkiste, sahen sich irgendeinen Scheiß darin an. Was gerade gesendet wurde, spielte für niemanden eine Rolle. Die Glotze war nur Alibi, für das gemeinsame Alkoholvorräte-Vernichtung-Ritual. Sofort hatte ich von irgendwoher eine Dose Bier in der Hand. Man fragte mich aus, wo ich "denn solange gewesen" sei und was ich in der ganzen Zeit so getrieben hätte. Das war es. Ich konnte mich zurück lehnen, die Augen schließen und entspannen. Vertrauen. Alle respektierten einander und freuten sich darüber, dass ein altes Rudelmitglied wieder zu ihnen gestoßen war. Darauf wurde angestoßen. Die Rolle des Schandflecks, den viele der armen und manchmal auch not-leidenen Menschen von den Besser-Situierten aufgedrückt bekommen, ist auch nur aus deren verquerer Perspektivlosigkeit vermeintlich richtig. Daher wählte ich meine Freunde in der Regel unter jenen, die am unteren Ende der Leiter standen.56
1 (im Grunde lief es nur wieder aufs neue darauf hinaus, ein leeres Glas. Zen)
2 (in welchem nur man nur unterbewusst vor sich hin vegetierte und dabei ausschließlich von seinen niederen Instinkten und Begierden gesteuert werde)
3 (man würde sich also blamieren oder zu den Tollen gehören)
4 (in einem der Ausbildungsmanuskripte fand ich die Empfehlung, bei allzuviel Hochmut zu einem Beruf mit geringem gesellschaftlichen Ansehen zu greifen, um sich in Demut zu üben. Als ein Beispiel wurde hier u.a. auch die (etwas fragwürdig) Prostitution mit aufgeführt => das hat nicht nur was von klösterlichen Praktiken, sondern auch etwas von fanatisch-klösterlichen Praktiken (so wie z.B. Opus Dei o.ä.))
5 (es machte den Anschein, als fühlte man sich bei der Arbeit durch uns Neulinge eher gestört als davon bereichert)
6 (Keine Frage, welchen "Weg" ich wählen würde - das war es wohl auch vor unserem Treffen schon nicht gewesen. Ich hatte auf meinem Lebensweg nur die für mich für den Moment passenden Menschen getroffen)
7 (im Schwerpunkt nach Meister A.C., dabei wurden aber weder Kinder geopfert noch Geister beschworen)
8 (Messer, Schere, Feuer, Licht,...)
9 (herkömmliche "Wissenschaften", keinen esoterischen Blödsinn mehr)
10 (Münze werfen, Würfeln, bewusst vorgenommene Astralreisen + Überprüfung des Gesehenen)
11 (Ja, das war irgendwie doof gewesen. Abgehakt)
12 (im der östlichen Philosophie wird hierbei von der sog. Kundalini gesprochen)
13 (auch kleine Steinchen, die auf einem Berg losgetreten werden, können sich als zerstörerisch erweisen)
14 (=> Ein Kunstwerk anzufertigen, dauert lange und ist schwere Arbeit - es zu zerstören jedoch geht schnell und ist sehr leicht. Beide Handlungen erzielen eine Wirkung)
15 (so ist es auch!! Fängt man an, mit Licht zu arbeiten, ist, erleuchtet zu sein, nichts Besonderes)
16 (deshalb füllen auch heute immernoch Teil-Initiierte im Anfangsstadium scharenweise die Psychiatrien. Weil ihnen unter anderem eine kompetente geistige Führung im Stadium des Erwachens fehlt, sich hierzuland kaum einer wirklich mit diesem Phänomen auskennt. In Indien mag das vielleicht etwas anders sein. Aber hier in Deutschland und anderen von westlicher Kultur dominierten Ländern haben wir da tatsächlich ein paar Defizite)
17 (der schwarzer Bruder ist unsere materielle Verkörperung, in ihm vereinen sich alle nicht-bewussten Vorgänge)
18 (es gibt da dieses schöne Bild von einer Monsterkreatur, die sich zu den zarten Klängen einer Harfe schlafen legt. So in der Art kann auch mit dem schwarzen Bruder verfahren werden)
19 (Unser Bedürfnis, uns nicht mehr unverbunden zu fühlen, fordert mit aller Macht Befriedigung (Frieden) ein. Wer solche Bedürfnisse bekämpft, sie unterdrückt, leidet - und verstrickt sich dadurch nur um so unwiderruflicher im Sumpf der Dunkelheit. Es endet darin, dass der Hunger nur noch größer wird)
20 (meine neuen esoterischen Freunde waren auf dem Holzweg!)
21 (oder be-finden, für den Zenmeister ist der dauerhaft so erlebte Moment das ulitmativ angestrebte Ziel)
22 (leider ist gekauftes Glück oft nur dazu gut, eine noch größere Leere zu verursachen, welche seine Nutznießer dann wiederum dazu animiert, noch mehr davon erwerben zu wollen, um die noch größere Leere in sich damit aufzufüllen - ein ewiger Teufelskreis mit endloser Abwärtspirale)
23 (2007 las ich mit Interesse einen Bericht darüber, dass für Schamanen das Sterben zu einem festen Bestandteil ihres Lebens gehört. Jemand, der allerdings meinen Erfahrungshorizont nicht teil, würde selbstverständlich eine solche Auffassung aber für abartig oder krank erklären. Das, was für den einen ein wünschenswertes Ziel darstellen kann, nämlich nach diesem vermeintlichen Ende wie der Phönix aus der Asche wieder geboren werden zu können, kann für einen anderen etwas sein, was ihn in Todesangst versetzt)
24 (und auch solche, die über ein Potential hierzu verfügten)
25 (nicht nur in einem davon überholten und bereits der Vergangenheit angehörenden, finsteren Mittelalter)
26 (lustigerweise geschah das immer im Namen des Guten!)
27 (wenn auch nur, um einer neuen Platz zu machen)
28 (der einfache Unterschied zwischen Flucht und Finden: Der einen Handlung liegt die Angst zugrunde, der anderen Mut)
29(ob Familienangehöriger, Sozialarbeiter, Nachbar oder Arzt)
30(was er natürlich niemals zugeben wird)
31(mich in die Haut eines jeden, der mir begegnete, hinein versetzten zu können, bestand kein Bedarf. Meine eigene Haut war die derzeit Einzige, die mich interessierte. Für anderer Leute Häute hatte ich keinerlei Verwendung)
32(der hierbei prominenteste Vertreter: der sogenannte Zaunkönig)
33(die erwachte Kundalini, meist repäsentiert durch eine hoch aufgerichtete Schlange)
34(was nicht so gut zu funktionieren scheint, ist durch Entsagung Erkenntnis hervor locken zu können, wie Vertreter weltlicher Religionen eindrucksvoll vorführen)
35 (warum nicht gleich ins Kloster?)
36 (Hauptsache, dass das Krönchen nicht verrutscht)
37 (sicher - dies wird nur versteckt, nicht offen ausgelebt. Das ist ja der Trick!)
38 (sowie das Bedürfnis, sich gegenseitig bis zur völligen Vernichtung Schaden zuzufügen)
39 (noch schlimmer: Mode => Kopien von Kopien, in denen das Original nicht mehr zu erahnen ist)
40 ( Achtung Achtung: Ein Mensch, welcher sich wie Tarzan von Liane zu Liane von Maske zu Maske schwingt und dabei aus dem Konzept gebracht wird, reagiert garantiert mit wenig Humor)
41 (zu erkennen an einem permanenten Verkommunizieren der geglaubten inneren Wahrheiten)
42 (erst sehr viel später fand ich heraus, dass das sich Öffnen und das frei Fließen lassen von Energien die Menschen - wenn auch nur auf einer unbewussten Ebene - durcheinander bringt. Die einen reagieren dann religiös verklärt/ Männer "verlieben" sich schnell mal und lösen das auf ihre Weise - die anderen reagierten mit Angst und Verboten)
43 (zwei Jahre später waren sie geschieden, was mich natürlich nicht wirklich überraschte)
44 (in der Regel vermochten es nur die Kinder)
45 (mich jedoch hat er großzügig am Leben gelassen)
46(natürlich tat es mir Leid, dass er einmal schizophren gewesen war)
47 (ich kam natürlich nicht dahinter, dass mein Vater zuvor mit ihm gesprochen hatte)
48 (die Einzige, die manchmal einen Zugang zu mir zu finden schien, war die Wohngruppenleiterin. Sie schien sich in mich hinein versetzen zu können, war über mein Weltverständnis und über meine Gabe, Zusammenhänge zu durchschauen, sehr erstaunt)
49 (oder sehr, sehr kleinen Hund, der eh schon das Kindchen-schema gepachtet hat)
50 (ich bin ganz klar ein Zutel-Typ)
51 (und zwar durch den inneren Frieden, den ich hoffte, ihm dadurch schenken zu können)
52 (ab -10 schloss ich sogar das Fenster in meinem Zimmer)
53 (mich interessierte eigentlich nur Kampfsport, ich zeichnete eine Menge auf, um es mehrmals anzuschauen, wobei ich sehr schnell feststellte, dass Schauspieler oft gar keine wirklichen Kämpfer waren - danach verlor sich dieses Interesse wieder. Der einzige, von dem man wirklich etwas lernen konnte, war Jackie Chan)
54(wie demütigend! Ich dachte, ich würde für meinen Unterhalt arbeiten!)
55 (er war inzwischen schon vollkommen vertrocknet und hatte alles voll genadelt)
56 (um so mehr die Menschen sich selbst im Haben wiederfinden, um so größer scheint für sie der Verlust des Seins zu sein. Ist einer vermehrt im Sein zu finden, scheint sich im Gegensatz dazu das haben-Müssen nicht mehr erforderlich und tritt dementsprechend in den Hintergrund)