Millenium

Auf der Station waren, gemeinsam mit ihren Kindern, Mütter mit psychischen Problemen oder Drogenproblemen untergebracht. Jede Familie erhielt ihr eigenes Zimmer, das liebevoll mit dem Allernotwendigsten ausgestattet worden war. Es gab eine stationseigene Kita mit sehr guter Ausstattung und um all das Drumherum schwirrte furchtbar nettes Personal. Trotz Drogenentzug und psychsicher Probleme verstand man sich ganz prima, vertraute sich. Diese Erkenntnis erschloss sich mir nicht zum ersten Mal: Leidvolle Erfahrungen schweißen zusammen.

 

Eine junge Frau hatte sich mit ihrem 8 Jährigen Sohn freiwillig in stationäre Behandlung begeben. Sie war in einer Pflegefamilie aufgewachsen, welche hierfür viel Geld vom Jugendamt erhalten. Ihre ganze Kindheit hatte sie auf einem Dachboden verbracht. Sie erzählte mir, dass es in ihrem dunklen Zimmer am Boden eine Stelle gegeben hatte, auf der sie gerne sprang, weil man das Geräusch unten in der Wohnung ihrer Pflegefamilie als störend empfand. Dann, so erzählte sie, habe sie ein wenig Zuwendung erfahren. Schläge waren die einzige Form der Zuwendung, die sie als Kind überhaupt kennenlernte. Sie erklärte, dass sie trotzdem immer wieder auf dieser Stelle herumgehüpft sei, um noch mehr dieser Zuwendung zu erfahren. Sie war suizidgefährdet. Ihren Sohn liebte sie über alles. Ebenso wie ich es meiner Tochter wegen getan, hatte sie seinetwegen entschieden, erst einmal weiter am Leben teilnehmen zu müssen. Schließlich sollte ihn nicht das gleiche Schicksal ereilen wie sie.

 

Aus einer Zwangsehe, in welcher der Ehemann sie jahrelang übelst misshandelt und sie kürzlich umzubringen versucht hatte trudelte eine Dame mit ihren vierjährigen Zwillingen ein. Die beiden Jungs konnten sich überhaupt gar nicht benehmen, zerstörten ständig Mobiliar und schlugen ihre Mutter, was diese scheinbar als normal zu empfinden schien. Keiner kam mit den beiden kleinen Rüpeln zurecht. Ich war mir dessen bewusst, dass diese es einfach nicht anders gelernt hatten. Es kam eigentlich nur darauf an, ihnen zu zeigen wo es langging. Würde man ihnen souverän gegenüber treten, hätten sie sicher keine Probleme damit, sich angepasst zu verhalten. Reagierten alle überfordert, machten sie das, was sie wollten. Ich wagte das Experiment und meldete mich freiwillig, sie zu betreuen, während die Mama an ihren Therapien teilnahm. Im Gegensatz zu sonst verhielten sie sich ausgesprochen brav. Selbst im Umgang mit schwierigen Kindern die sich im Trotzalter befanden, schien es bei mir keine Probleme zu geben.

 

Es gab einen Zweijährigen, der nach außen hin wie geistig behindert wirkte. Er schielte. Als ich einmal mit ihm an der Hand spazieren ging, da erzählte er mir selbstbewusst, an welchen Automarken wir vorbeigingen. Für sein Alter sprach er sehr gut, wie ich jedoch erfuhr, tat er das nur sehr selten. Von wegen zurückgeblieben! Ich widersprach. Dieser Junge war alles andere als das. Man nahm mich nicht ernst, wollte mir nicht glauben. Allein seine Mutter schien dergleichen Ansicht zu sein wie ich. Zwei Wochen später überraschte er die Betreuer der Kita, die ihn bis dahin nur mitleidig betrachtet hatten, damit, dass er bereits lesen und schreiben konnte. Und, wie es schien, auch rechnen. Der äußere Eindruck täuscht manchmal!

 

Eine der Mamies enttäuschte mich sehr. Sie verachtete ihre Tochter. Die Kleine litt am sogenannten Down-Syndrom. Mit ihren zwei Jahren lag sie noch auf ihrem Rücken im Kinderwagen. Trotzdem sollte man sie doch gern haben können? Sie hatte so ein herzliches, sonniges Gemüt und erhellte jeden Raum mit ihrem Strahlen. Ihre Mutter betrachtete und redete über sie, als sei sie ein Stück Abfall, der sobald wie möglich entsorgt gehörte.

 

Es gab insgesamt zwei Gruppenwohnzimmer und eine Küche. Wenn man mich nicht von Anfang an wieder mit Medikamenten zugedröhnt hätte, wäre diese Zeit, die ich in der Psychiatrie verbracht habe, sogar als schön zu bezeichnen gewesen. Nicht weil mir dort "geholfen" werden konnte, oder ich die Ärztin, die mich zu betreuen beauftragt, so toll gefunden hätte, sondern aufgrund der Kontakte, die ich dort schließen konnte. Trotz unserer jeweiligen Macken und Andersartigkeiten akzeptierten wir uns so, wie wir waren. Wir versuchten, einander zu beschützen und zu unterstützen.

 

Es gab einen jungen Mann, der, so gut es ihm gelang, jede anbaggerte, die in seinem Alter war. Man lächelte über seine Bemühungen, lästerte aber nicht. Eine der Mitpatienten war manisch. Sie hatte permanent gute Laune, mit der sie jedem auf die Nerven ging. Trotzdem versuchte man, ihr unerträgliches Verhalten einigermaßen mit Humor zu nehmen.

 

Ich lernte kochen. In Köln hatte ich das zwar schon geübt, aber eigentlich immer nur für Mia gekocht. Brei. Nun lernte ich, wie man Cappuchino oder ein mit Käse überbackenes Brot in der Mikrowelle zubereitete. Eine Mitpatientin hielt für uns in einem der Kitaräume Abends Sportkurse ab. Tagsüber lernte ich in der Metallwerkstatt, während mein Kind in der Kita professionell betreut wurde. Saubere Schweißnähte zu ziehen hatte ich trotz Haloperidol bald gelernt.

 

Schließlich befand ich mich in der Psychiatrie! So dass ich nun behandelt wurde wie jeder andere Patient auch: Ich bekam Medikamente. Das Haldol schränkte mich sehr ein. Ich hatte mit den üblichen Nebenwirkungen zu kämpfen, litt unter Angstzuständen. Musste das denn sein? Ich bat inständig darum, das Medikament abzusetzen. Damit war man nicht einverstanden. Ich war ja schließlich zur Behandlung hier. Dazu gehörten Medikamente. Ich bekam ja schon eine nur sehr geringe Dosierung. Ich überlegte. Dieses Taxilan, welches mir damals der Arzt aus Köln für den Notfall mitgegeben hatte - davon hatte ich doch nichts gemerkt! Hieß das nun, dass ich es besser vertrug? Vielleicht war das die Lösung! Ich wollte es zumindest einmal probieren und schlug daher einen Wechsel vor.

 

Keine gute Idee. Zwar vertrug ich es körperlich augenscheinlich sehr gut, reagierte aber erneut mit Suizidgedanken. Genauso wie damals, als ich auf dem Weg nach Belgien gewesen war. Sollte das etwa am Medikament gelegen haben? Das war sehr gefährlich, gefiel mir nicht. Ich bat darum, es wieder abzusetzen. Die Ärztin sprang im Dreieck. Die Medikamenten Frage immer wieder neu ausdiskutieren zu müssen, machte sie unglücklich.

<< Ich glaube, dass sie mich falsch behandeln. Neuroleptika sind nicht das Richtige für mich. Ich habe schon so viele durch und alle haben mir mehr geschadet als genützt. Warum probieren sie eigentlich nicht einmal etwas anderes? Es gibt doch so viele andere Medikamente! Wieso geben Sie mir nicht eins davon? >>

<< Was schwebt ihnen denn da vor? >> fragte die Ärztin neugierig.

Sie verfügte über listige kleine Schweinsäuglein, war groß, sehr schlank, alt und faltig und sah immer ein bisschen aus wie ein Segelschiff in der Kurve. Ich hatte nicht viel für sie übrig, aber auch nichts gegen sie. Wie so vieles war sie mir völlig egal. Das sollte sich bald ändern.

<< Naja. Ich leide unter Depressionen. Vielleicht geben sie mir zur Abwechselung mal Antidepressiva? >>

Sie fing an, mich auszulachen.

<< Sie haben ja Ideen! >> kicherte sie herum.

<< Wieso? >>

Hatte ich etwa etwas Falsches gesagt? Wieso lachte sie? Konnte man nicht einfach ganz normal darüber reden? Entschudigung, dass ich keine Ahnung habe! Aber warum hießen die denn Antidepressiva wenn man als depressiver Patient solche nicht einnehmen sollte? Das verstand ich nicht.

<< Hören Sie mal >> sagte sie,

<< … wir sind hier nicht auf einem Basar. Sie werden eines der angeordneten Medikamente nehmen. >>

<< Dann gehen sie mir halt wieder Haldol. >> seufzte ich.

Hatte ich eine Wahl? Nun würde es mir zwar wieder schlecht gehen, und ich noch mehr Konzentrationsprobleme haben als sonst, aber wenigstens verursachte das Haldol keine Suizidgedanken. Da musste ich dann eben durch. Ich würde es schon überleben. Hoffte ich zumindest. Andernfalls würde ich das eben erneut zum Thema machen müssen, in der Hoffnung, dass man mir zuhörte und mich obendrein auch noch ernst nehmen würde.

 

Das Doppelkopf Spiel auf Station konnte ich unter Haldol vergessen. Ich spielte so schlecht wie nie zuvor. Als hätte ich Marihuana geraucht! Völlig weggetreten.

 

Dumme Kuh, diese Ärztin. Warum ich mich eigentlich hätte einweisen lassen? Um die Diagnosestellung zu überprüfen. Sie behandelte mich wie eine Geisteskranke. War ich das denn überhaupt? Sie schien der Überzeugung. Verlangte von mir, Krankheitseinsicht zu zeigen. Wie ich ihr gegenüber offen zugab, fiel mir das sehr schwer.

<< Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Es tut mir zwar leid, aber - da haben Sie Recht: ich habe tatsächlich keine Krankheitseinsicht. Was genau machte diese Erkrankung denn überhaupt aus? Können Sie mir denn nicht dabei helfen, sie zu verstehen? Bitte: Vielleicht können Sie mir erklären, woraus diese Krankheit genau besteht? >>

Sie schwieg misstrauisch. Verstand sie nicht, was ich von ihr wollte?

<< Nennen Sie mir doch mal einfach ein paar Symptome! Möglicherweise könnte ich mich, wenn ich die kenne, darin sogar wiederfinden? Dazu muss ich zuerst aber wissen, worin die Erkrankung überhaupt besteht. Dann könnte ich sie eventuell auch einsehen. Aber solange ich das nicht weiß, woher soll ich dann wissen, was das ist! Schizophrenie. Was ist das? Wie fühlt es sich an? Erst dann, wenn ich das nachvollziehen und verstehen kann, kann ich beurteilen, ob ich davon betroffen bin oder nicht. Vorher nicht. Also verlangen Sie bitte nicht von mir, Krankheitseinsicht zu zeigen, wenn ich nicht einmal weiß, wie, weil ich nicht weiß, was ich da einsehen soll! >>

Warum zum Teufel musste ich ihr das eigentlich noch so lang und breit erklären? Sie war eine schlechte Ärztin, überheblich und verantwortungslos. Ob ihr das vielleicht mal jemand sagen sollte? Uh, das traute ich mich nicht.

<< Sie wollen also wissen, mit welchen Symptomen Schizophrenie auftreten kann.>>

<< Ja! Bitte. Erklären sie es mir. >>

<< Ja, da hätten wir zum Beispiel sexuelle Perversion. >>

Sie sah mich triumphierend an.

<< Hä? >>

Das war doch jetzt nicht ihr Ernst. Das sollte eines der Symptome meiner Erkrankung sein? Und daraus sollte ich nun erlernen, Krankheitseinsicht zu zeigen? Ich lachte los, hörte aber sofort wieder damit auf. Die wollte mich doch verarschen! Oder nicht?

<< Was? >> fragte ich verwirrt.

<< Sie haben mich schon gehört >> antwortete sie.

Ich war fassungslos. Woher wollte sie denn jetzt wissen, wie ich im Bett war? Hallo? War die dumm? Vor lauter Verwirrung schaffte ich es nicht mehr, mich vernünftig zu artikulieren. Eines wurde mir klar. Nicht ich, sondern eindeutig sie war derjenige, der hier einen an der Klatsche hatte. Sexuelle Perversion, haha! Damit war nur eines eindeutig bewiesen: ich war eindeutig nicht schizophren.

<< Sie spinnen >> sagte ich zu ihr.

<< Und sie sind krank >> kam von ihr zurück.

<< Woher wollen sie denn das wissen!? >> fragte ich sie jetzt offen aggressiv. Ich war total genervt.

<< Das weiß ich! >>

Geniale Begründung.

Ha, klar.

<< Kann ich bitte jetzt gehen ... >> fragte ich.

Ich hatte keinen Bock mehr auf diesen Scheiß, den sie mir da erzählte. Es fehlte nicht viel und ich würde komplett ausrasten, herumschreien oder mit Möbeln werfen. Soweit sollte diese Kackwurst mich nicht reizen. Ich musste hier raus.

 

Die anderen Patienten "behandelte" sie ebenso beschissen, was mir sehr wohl etwas ausmachte. Um mir selbst war es mir egal, ich konnte mich zur Not sehr wohl meiner Haut erwehren. Aber es gab hier noch andere Patientinnen, die waren labil und dünnhäutig. Wie derangiert diese manchmal aus dem Sprechzimmer kamen! Es brach mir das Herz. Das machte mir wirklich etwas aus. Daran gingen Schicksale zugrunde. So jemand gehörte entlassen. Vielleicht sollte ich ihr das tatsächlich einmal ins Gesicht sagen. Scheinbar sollte es mein Weg sein, mir mal wieder die größtmöglichen Feinde zu schaffen.

 

Zu unserem nächsten Termin hatte ich mich wieder beruhigt. Sollte sie soviel provozieren, wie sie wollte, mir doch egal. Egal egal egal. Ebenso kalt und arrogant, wie sie mich ansah, sah ich auch sie an. Das konnten wir jetzt gerne ewig so weiter führen. An mich kam sie nicht heran.

<< So kommen wir nicht weiter. >>

Wow. Welch eine Erkenntnis. Fast geriet ich in Versuchung, sie dafür zu loben. Sie überlegte.

<< Sie wehren sich derart gegen die Therapie, dass ich Sie nicht behandeln kann. >>

<< Ja, das ist ja wohl auch kein Wunder! >> entgegnete ich.

<< Sie müssen endlich Krankheitseinsicht zeigen. >>

OMG, nicht schon wieder ihre Lieblingslektion. Ich legte meine Hand über die Augen und atmete tief durch. Dumm, dumm, sie war ganz einfach nur dumm!! Ruhig bleiben.

<< Wie ich bereits gesagt habe, kann ich keine Krankheit einsehen, die ich nicht sehen kann. Ich habe sie darum gebeten, mir Krankheitseinsicht zu verschaffen, mir die Erkrankung zu erläutern. Das haben sie nicht getan. Was ich nicht sehen kann, kann ich auch nicht einsehen. Das ist eine Tatsache. Damit müssen Sie nun leben. Ob Sie es wollen oder nicht. >>

Ich machte eine theatralische Pause.

<< Ich könnte natürlich lügen! Aber würde mich das weiterbringen? Oder Sie? Nein, oder? Also lasse ich es. >>

Eine weitere theatralische Pause.

<< Oder wollen Sie belogen werden? >>

Jetzt hatte ich sie. Nun musste sie sehr genau überlegen, was sie mir als nächstes entgegnen wollte. Wurst! Du! Das kannst du vielleicht mit den anderen Patienten machen, aber mit mir nicht!! Lächelte ich? Huch? Schnell die Hand über den Mund gelegt. Diese Rolle war zwar riskant, da ich sie damit offen angriff, aber in diesem Punkt war ich mir mit ihr einig: so kamen wir wirklich nicht weiter. Das war sinnlos.

<< Ich würde ja liebend gerne Krankheitseinsicht zeigen, aber was ich nicht zu sehen vermag, sie wissen ja... >> setzte ich noch mal einen drauf. Oje. So würde ich mir auch wieder keine Freunde machen. Wie sollte ich das rechtfertigen?

Sie schwieg immer noch, war, sich an ihrem Klemmbrett und ihrem Kugelschreiber festhaltend, in tiefer Meditation versunken. Nach einiger Zeit kam sie, leise und zögerlich lauernd mit einem

<< Wenn ich ihnen beweise, dass Sie tatsächlich psychisch krank sind, dann lassen Sie sich von mir behandeln? >> aus dem Kittel.

<< Ja! Natürlich!! >> antwortete ich blitzschnell, wie aus der Pistole geschossen, ohne lang darüber nachzudenken. Hurrah, endlich waren wir uns einmal einig! Ein Strick, an dem wir beide ziehen konnten! Ich zog ganz kräftig mit.

<< Beweisen Sie es mir! Wenn ich krank wäre, wäre es ja sehr dumm von mir, mich nicht behandeln zu lassen. >>

<< Ok >> sagte sie,

<< … ich werde es ihnen beweisen. >>

Was hatte sie jetzt vor? Na, egal, Hauptsache, es kam Bewegung in die Sache.

<< Ja!! Beweisen Sie es mir! >> rief ich begeistert.

<< Wenn ich krank bin und diese Erkrankung selber sehen kann, dann werde ich soviel Krankheitseinsicht zeigen, wie sie wollen. Und eine Therapie machen. Bei Ihnen! Oder einem ihrer Kollegen, ganz egal. >>

Das meinte ich ernst. Ich war richtig begierig darauf, meine angebliche Erkrankung endlich einmal kennen zu lernen, woraus auch immer die nun letztendlich bestehen sollte. Ich wollte sie haben und sehen und umarmen, auf sie stürzen, um mich angemessen dafür1 therapieren lassen, gerne doch! Aber ich wollte kein Gerede mehr hören von wegen zeigen Sie Krankheitseinsicht oder Sie sind krank, so lassen Sie sich doch helfen.

<< Okay. >>

Was kam jetzt.

<< Ich werde Sie in der nächsten Woche zu einem Psychologen schicken. Dort werden Sie einer Untersuchung unterzogen. Dass das klar ist. >>
<< Ja, gut. >>

Sie starrte mich misstrauich und verachtend an.

<< Und? Was dann? Also, wozu ist das? >>

<< Und? Das werden Sie dann schon sehen. >>

UUh, das klang ja dramatisch.

<< Okay, wenn Sie das sagen... >>

Ich war für heute entlassen. Haha! Haha! Ich rieb mir die Hände.

Haha! Oha. Sagte man nicht, wer zuletzt lacht, lacht am besten? Was sollte da jetzt bloß auf mich zukommen... Naja, egal. Ich wollte mir nicht die gute Laune verderben lassen. Wir würden sehen. Ganz genau.

 

Der Psychologe war alt, dick, grauhaarig und erschien mir sehr sachlich. Dabei trug er immer eine von diesen Lesebrillen. Er sprach mit mir, gab mir stapelweise Unterlagen mit, die ich für ihn im Laufe der nächsten Woche ausfüllen musste. Darin wurden mir Fragen zu meiner Person gestellt. Sie waren so zusammengebastelt, dass sie sich alle naselang, zwar nicht im genauen Wortlaut, doch aber inhaltlich wiederholten. Ich ärgerte mich darüber. Was für eine Zeitverschwendung, mir immer wieder die gleichen Fragen zu stellen! Wollten die mich verarschen? Trotzdem füllte ich alles ordnungsgemäß aus, so wie es mir aufgetragen worden war. Damit endlich durch, machte er noch einige andere Tests mit mir: Er zeigte mir Bilder, zu denen ich Geschichten erzählen sollte und die weltberühmten Tintenklekse, die ich phantasievoll zu deuten wusste. Als wir endlich damit fertig waren, schrieb er ein Gutachten:

... nicht psychisch krank. Keine vorliegende Störung der Persönlichkeit.

 

Eine Woche später bei der Ärztin:

<< Und, was sagen Sie jetzt? >> freute ich mich.

<< Sie sind krank >> sagte sie.

<< Und Sie brauchen Urlaub! >> entgegnete ich.

Den hatte sie kurz darauf auch, zum Glück. So hatten wir erst einmal Ruhe vor diesem Satan. Welch eine Wohltat.

 

Nach diesem so zu meiner psychischen Verfassung Stellung beziehenden Gutachten wollte man mich auf einmal nicht mehr dabehalten. Plötzlich sprach man von Entlassung. Ja, huh! Und wohin? Wie sollte es weiter gehen? Ein Hilfeplangespräch musste her. KB und der Amputierte nahmen selbstverständlich daran teil, zeigten sich angesichts der neuesten Entwicklung aber vollkommen verwirrt und überfordert. Nicht psychisch krank? Was war denn da kaputt?

 

KB war total überrascht. Amputiert kam gleich wieder auf die Idee, mir alles verbieten zu wollen, insbesondere, ein eigenständiges Leben zu führen.

<< Nein. Das geht so nicht >> beschwerte er sich,

<< Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind haben wir. Und wir bestimmen, dass Sie wieder in die Wohngruppe zurück geht. >>

Da wurde der Arzt böse:

<< Sie haben wohl nicht ganz verstanden! Diese junge Frau ist mit dem Anliegen hier her gekommen, dass man ihr helfen möge. Unter anderem bat sie auch darum, die Korrektheit der bestehenden Diagnosestellung zu überprüfen. Das haben wir gemacht. Das Ergebnis ist, dass nachweißlich kein Therapiebedarf besteht! Wieso nehmen Sie sich nun das Recht heraus, sie derart zu drangsalieren? Schämen Sie sich eigentlich gar nicht für ihr Verhalten? >>

Das hatte gesessen. Der Amputierte schnappte kurz nach Luft, krümmte sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Alles, was noch folgte, ließ er demütig über sich ergehen. Der Arzt übernahm das Kommando. Er schlug vor, dass ich bald mit meiner Tochter in eine eigene Wohnung entlassen werden sollte. Bei der Versorgung des Kindes seien keine Probleme zu erwarten, ich meistere alles pflichtbewusst und verantwortungsvoll, habe hier auf der Station so etwas wie einen vorbildlichen Charakter. Es würde einheitlich nur positiv berichtet.

 

Hah, tat es gut, das zu hören. So einfach war das: Man hatte so was wie Augen im Kopf. Wie schön! Das Leben konnte so einfach sein, wenn man nicht von Leuten umgeben war, die aus allem permanent ein Problem zu machen versuchten. Ich seufzte heimlich erleichtert auf, war aber selbst über die plötzliche Wendung des Geschehens auch ziemlich verdattert. Das war viel zu schön, um wirklich wahr zu sein. Irgendwo wartete doch bestimmt wieder der Knecht Ruprecht mit seinem Knüppel, den er mir zwischen die Beine werfen wollte. Wir konnte es denn sein, dass der Jugendamtsfurzkopp, der sich als so lernresistent gezeigt hatte, auf einmal alles schluckte? Schließlich wusste der ziemlich genau und auch schon ziemlich lange darüber Bescheid, dass ich psychisch gesund war! Diese Erkenntnis war ja nicht gerade neu! Und trotzdem hatte man mich ewig weiter schickaniert. War es denn dieses Mal anders? Hmm. Naja. Die Hauptsache war ja: ich hatte eines meiner Ziel erreicht. Meine psychische Gesundheit war endlich ganz offiziel anerkannt worden.

 

Die Jahrtausendwende feierte ich mit zwei Mitpatienten mit einer Kiste Wasser.2 Selbstverständlich wollten an dem Tag alle Patienten Ausgang haben. Die Stationsregeln schrieben jedoch vor, dass nicht alle zugleich Urlaub nehmen durften. Die junge, suizidgefährdete Mitpatientin und ich erklärten sich dazu bereit, da zu bleiben. Uns war alles egal. Der junge Mann, der eine Freundin suchte, freute sich, zwei so hübsche junge Frauen in greifbarer Nähe zu haben und wollte ebenfalls dableiben. Man glaubt gar nicht, wie ausgelassen und besoffen man von einer Kiste Wasser werden kann.

 

Ich las eifrig Zeitungsannoncen. Eine gefiel mir besonders. Sogar die Adresse hatte klang vielversprechend: Sonnenkamp 21. Hier würde ich endlich wieder zu mir selbst finden können. Ein neuer Start mit neuer Hoffnung und - endlich - unter friedlichen Bedingungen.

 

 

 

1(oder dagegen, völlig egal)

2 (Alkohol nicht erlaubt)

 



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